Ein Gespräch mit dem Dramatiker David Paquet «Mein Zielpublikum sind Menschen, die nicht überzeugt sind, dass sie Theater mögen»

vlnr: Rachid Zinaldin, Hannah Hupfauer, Timo Jander und Patricia Schäfer in David Paquets «Das Gewicht der Ameisen» am Theater Heidelberg, Regie: Birga Ipsen (Foto: Susanne Reichardt)

Am 21. Januar hat David Paquets temporeiche Aktivismus-Farce «Das Gewicht der Ameisen» Premiere am Theater Heidelberg, in der Inszenierung von Birga Ipsen. Darin versuchen zwei jugendliche Außenseiter vergeblich, das Bewusstsein ihrer Mitschüler*innen für den Klimawandel und die Zerstörung des Planeten zu wecken. Im Dezember sprach der Québecer Autor mit seinem Übersetzer Frank Weigand über Entwicklungen in seinem Werk, sein Verhältnis zum Übersetzt-Werden, generationenübergreifendes Arbeiten, das Überschreiben von Theaterklassikern und seine Zukunftspläne.

 

Frank Weigand: David, 2010 hast du mit deinem Stück «Porc-épic» (Stachelschweine) über eine Gruppe liebenswerter, sozial unangepasster Menschen den wichtigen Prix du Gouverneur Général in Kanada gewonnen. Zwölf Jahre später, 2022, ein zweites Mal mit «Le poids des fourmis» (Das Gewicht der Ameisen), das immer noch viel von dem verrückten Humor deiner Anfänge hat, ihn aber um eine soziale und politische Dimension erweitert hat. Wie würdest du deine Entwicklung als Autor zwischen deinen Anfängen und heute beschreiben?

David Paquet: Was sich zwischen «Stachelschweine» und «Das Gewicht der Ameisen» verändert hat, sind nicht die Figuren selbst, sondern die Tatsache, dass sie jetzt in einer Gesellschaft leben, die einen Einfluss auf sie hat. In «Stachelschweine» werden die Handlungen der Figuren von ihren Traumata und Sehnsüchten bestimmt. Sie bewegen sich in einer Parallelwelt zu unserer, in der die Hindernisse, auf die sie stoßen, nur mit ihrem Innenleben und ihren Beziehungen zu tun haben. Es ist ein Theater der Intimität. In «Das Gewicht der Ameisen» sind die Figuren immer noch emotional unbeholfen und clownesk, aber jetzt müssen sie sich an soziale, wirtschaftliche oder politische Realitäten anpassen. Die Außenseiter sind sich jetzt bewusst, dass sie Bürger sind.

Das spiegelt meinen eigenen Werdegang wider. Als ich anfing, «Stachelschweine» zu schreiben, studierte ich noch an der École National de Théâtre du Canada. Ich war Mitte zwanzig, ganz auf meine eigenen Erfahrungen konzentriert und ziemlich unpolitisch. Mehr als 17 Jahre später sieht mein Leben ganz anders aus. Zunächst einmal hat das Älterwerden meine Empathiefähigkeit und mein politisches Bewusstsein als Bürger gesteigert. Mein Blick hat sich vom Ich zum Wir verschoben. Außerdem hatte ich das Glück, viel reisen zu können. Dank «Stachelschweine» und vor allem meinem Text «2 Uhr 14» (über einen Amoklauf in einer Schule) habe ich einen großen Teil Westeuropas und Nordamerikas kennen gelernt. Diese Reisen haben mich mit Realitäten konfrontiert, die ganz anders waren als die, die ich kannte, und das hat meinen Blick auf die Welt erweitert.

Wenn ich schreibe, stelle ich mir drei zentrale Fragen: «Worum geht es?», «Um wen geht es?» und «Teilt es sich mit?». Als ich anfing, war ich besessen von der Frage «Teilt es sich mit?». Mein Hauptanliegen war es, gutes Theater zu machen, ein Theater, das das Publikum nicht langweilt. Und natürlich war ich immer besessen von der Frage «Um wen geht es?», denn mein Theater wird vor allem von den Figuren getragen. Mit der Zeit wurde die Frage «Worum geht es?», die früher in den Hintergrund getreten war, in meinem Schreiben immer wichtiger. Diese Frage, die ich mir zuvor immer erst am Ende einer ersten vollständigen Fassung stellte, wird nun immer mehr zum Ausgangspunkt meiner Projekte. Das erklärt unter anderem, warum sich mein Theater in den letzten 15 Jahren vom Persönlichen zum Politischen gewandelt zu haben scheint.

vlnr: Rachid Zinaldin, Timo Jander und Patricia Schäfer in David Paquets «Das Gewicht der Ameisen» am Theater Heidelberg, Regie: Birga Ipsen (Foto: Susanne Reichardt)

Deine Stücke wurden in mehrere Sprachen übersetzt und waren vor allem auf Englisch, Deutsch und Spanisch erfolgreich. Wie erlebst du es, übersetzt zu werden? Ich erinnere mich, dass du sehr misstrauisch warst, als ich zum ersten Mal einen Text von dir übersetzte, es war «2 Uhr 14″…

Bei meinen ersten Übersetzungen – ich denke an unsere erste Zusammenarbeit bei «2 Uhr 14» und das erste Mal, als Leanna Brodie einen meiner Texte ins Englische übersetzte – war ich ein bisschen ein Kontrollfreak. Ich musste mich damals als Dramatiker beweisen, und die ersten Arbeiten sind entscheidend. Bei den Übersetzungen ins Englische war es noch schlimmer. Da ich die Sprache beherrschte, konnte ich viele Entscheidungen bis ins Detail hinterfragen.

Wenn ich eine Sprache nicht spreche, ist das Publikum mein Gradmesser für die Qualität einer Übersetzung. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich «2 Uhr 14» während einer szenischen Lesung beim Festival «Primeurs» in Saarbrücken auf Deutsch hörte. Ich hörte dem Publikum zu, wie es dem Stück lauschte. Ich lauschte ihrem Lachen, ihrem Schweigen, ihrer Aufmerksamkeit. Als die Reaktionen fast identisch waren mit denen, die ich im Original zu erzeugen versucht hatte, sagte ich mir: «Ja, es funktioniert. Die Übersetzung ist gut. »

Natürlich wächst das Vertrauen und die Qualität der Arbeit mit der Dauer der Zusammenarbeit. Meine «Heilige Dreifaltigkeit der Übersetzer*innen» besteht aus Leanna Brodie für das Englische, Boris Schoemann für das mexikanische Spanisch und dir für das Deutsche. Es ist ein großes Glück, seit über 15 Jahren immer wieder mit denselben Leuten zusammenzuarbeiten. Ihr übersetzt nicht nur einzelne Stücke, sondern ein ganzes Theateruniversum. Ihr werdet zu Brücken zu euren jeweiligen Kulturen. Das ist für mich ein unglaubliches Privileg.

Das Schreiben von Theatertexten, auch in der eigenen Sprache, erfordert vor allem die Fähigkeit, loszulassen. Es gibt Diskrepanzen zwischen dem, was man im Kopf hat, und dem, was man auf der Bühne sieht, zwischen dem, wie man es schreibt und wie es dann gesprochen wird, und so weiter. Seit ich 2006 die Schule verlassen habe, habe ich von Projekt zu Projekt gelernt, diese Diskrepanz nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu schätzen. Sie unterstreicht den kollaborativen Aspekt von Theater und gibt dem Begriff «Live Art» seine volle Bedeutung.

Szene aus David Paquets «Le poids des fourmis» in der Montréaler Inszenierung von Philippe Cyr (Foto: Yanick Macdonald)

Du hast selbst Erfahrung als Übersetzer. Als du das Stück «In this world» deiner anglo-kanadischen Kollegin Hannah Moskovitch übersetzt hast, hattest du da das Gefühl, zu schreiben?

Nein. Schreiben bedeutet für mich, eine Geschichte zu erfinden, Charaktere zu erschaffen, eine Struktur zu wählen. All das war bereits geschehen.

«In this world» habe ich 2008 übersetzt. Ich war noch sehr unerfahren, auch in meinem eigenen Schreiben. Ganz naiv dachte ich, dass es einfach sein würde, den Text zu übersetzen. Es ginge ja nur darum, die richtige Antwort, also das Äquivalent des Textes im Französischen, zu finden. Das war falsch. Übersetzen bedeutet ja auch, Entscheidungen zu treffen.

In «In this world» gab es eine Figur mit jamaikanischen Wurzeln. Ich habe den Text ins Französische übersetzt und die Produktion sollte in Montreal stattfinden. Da lag es nahe, aus dieser Figur eine Figur mit haitianischem Hintergrund zu machen, einer französischsprachigen (und kreolischen) Kultur, die in Montreal genauso präsent ist wie die jamaikanische in Toronto. Eine solche Entscheidung ist jedoch niemals einfach und hat Auswirkungen auf die Figur.

Die Erkenntnis der großen Verantwortung des Übersetzers hat mich den Übersetzer*innen meiner Werke gegenüber nachsichtiger gemacht und vor allem meine Bewunderung für sie geweckt. Man könnte sagen, dass ich es Hannah verdanke, dass ich nicht mehr so ein Kontrollfreak bin!

Szene aus David Paquets «Le poids des fourmis» in der Montréaler Inszenierung von Philippe Cyr (Foto: Yanick Macdonald)

Als ich dich 2009 kennengelernt habe, gehörtest du zu einer Generation von jungen, äußerst kreativen und erfolgreichen Québecer Dramatiker*innen. In den letzten Jahren warst du zunehmend damit beschäftigt, dein Wissen als Autor weiterzugeben und Szenisches Schreiben zu lehren. Welche Erfahrungen hast du mit dem «Nachwuchs», der nächsten Generation, gemacht – und wirken sie sich auf dein persönliches Schreiben aus?

An dem Klischee ist was dran: Unterrichten bedeutet, weiterhin zu lernen. Zunächst einmal zwingt es einen dazu, das zu benennen, was in unserer persönlichen Praxis Instinkt und Intuition ist. Man muss in der Lage sein, das, was man in der Einsamkeit des Schreibens nicht zu verbalisieren braucht, für die Schüler*innen hörbar und verständlich zu machen. Das allein ist schon enorm. Wenn man dann regelmäßig Texte von Nachwuchsautor*innen liest, lernt man schnell zu erkennen, was weniger gut funktioniert. Oberflächliche Charaktere, banale Dialoge, vorhersehbare Geschichten, mangelnde Prägnanz – all das sind Warnhinweise, von denen auch unser eigenes Schreiben profitiert.

Abgesehen davon ist das Schönste am Unterrichten, dass man einen Einblick in die dramaturgischen Welten einer neuen Generation bekommt. Das bringt mich zu deiner Bemerkung über die Autorengeneration zurück, der ich angehöre. In der Tat hatte ich das Glück, zu einem Zeitpunkt zu kommen, als plötzlich wir plötzlich mehrere Autorinnen und Autoren waren, die nicht nur in Québec, sondern auch im Ausland sehr schnell viel gespielt wurden. Einen solchen kollektiven Elan habe ich seitdem nicht mehr erlebt. Ich weiß nicht, ob das an unserer spezifischen Generation und/oder am Kontext lag.

Natürlich leben wir jetzt in der Zeit nach COVID. Das spielt eine Rolle. Abgesehen davon gab es schon lange vor COVID einen Mangel an finanziellen Investitionen in die Kultur. Das wirkt sich auf die zu vergebenden Fördergelder aus, was wiederum Auswirkungen auf die Realität der Künstler*innen hat. Die konservative Harper-Regierung, die von 2006 bis 2015 im Amt war, hat einen ganz besonders schlimmen Kahlschlag im Kulturbereich angerichtet. Es ist leicht zu glauben, dass das eine ganze Generation aufstrebender Künstler*innen beeinflusst hat.

Manchmal frage ich mich auch, ob es ein Zufall ist, dass meine Generation die letzte ist, die eine « analoge Pubertät » erlebt hat. Vielleicht hatte unsere junge Phantasie, die noch nicht mit den unendlichen Inhalten und Bildern des Internets bombardiert wurde, die Chance, sich freier und sensibler zu entfalten? Aber ich zögere, das zu sagen, denn der Zugang zum Internet kann die Phantasie sowohl nähren als auch formatieren.

Szene aus David Paquets Wedekind-Adaption «L’éveil du printemps» am Théâtre du Trident, Québec, inszeniert von Olivier Arteau (Foto: Stéphane Bourgeois)

In Deutschland gilst du vor allem als Autor für Kinder- und Jugendtheater. Fühlst du dich dadurch abgestempelt? Ist das in Québec auch so?

In Québec kann man völlig frei zwischen dem Schreiben für ein junges Publikum und dem Schreiben für Erwachsene hin- und herwechseln. Man ist nicht auf das eine oder das andere festgelegt. Was mich allerdings ein wenig stört, ist, dass Projekte für junges Publikum in der Szene und in den Medien auf weniger Interesse stoßen, als ob es sich um «minderwertige» Arbeiten handeln würde. Viele scheinen die Reife des Zielpublikums mit der Reife des Schreibens in Verbindung zu bringen. Sie glauben, dass das Schreiben für junge Leute weniger Disziplin erfordert.

Das ist natürlich völlig falsch. Die meisten Texte, die ich für ein junges Publikum schreibe, richten sich an Jugendliche. Das ist ein Publikum, das völlig im «No Bullshit»-Modus ist. Wenn deine Show nicht wie ein Uhrwerk läuft oder langweilig ist, verlierst du die Kontrolle über den Zuschauersaal und sie können gnadenlos werden. Erwachsene hingegen sind ein viel domestizierteres Publikum. Sie verzeihen viel eher, wenn etwas mal nicht so gut geschrieben ist. Wenn sie sich langweilen, werden sie nicht ihr Handy zücken, in den Saal leuchten oder anfangen, sich gegenseitig anzuschreien. Stattdessen werden sie die Vorstellung still ertragen, am Ende höflich applaudieren, vielleicht sogar Standing Ovations spenden und dann nach Hause gehen. Im Jugendtheater ist der Spielraum für Fehler viel kleiner. Deshalb erfordert das Schreiben für ein junges Publikum genauso viel, wenn nicht noch mehr Disziplin.

Ich denke, der passendste Begriff, um mich zu beschreiben, wäre «generationenübergreifender Autor». Alle Stücke, die ich für Jugendliche schreibe, richten sich auch an Erwachsene. Nehmen wir zum Beispiel «Das Gewicht der Ameisen». Zu meiner großen Freude haben sich häufiger drei Generationen gemeinsam das Stück angesehen, d. h. ältere Menschen, Erwachsene und Teenager. Das führt zu den fruchtbarsten Diskussionen.Je nachdem, ob man 75, 45 oder 15 Jahre alt ist, reagiert man ganz unterschiedlich auf die Begriffe Hoffnung und Angst um die Umwelt. Dasselbe gilt für mein neuestes Stück, «L’éveil du printemps». Natürlich geht es da um Pubertät und sexuelles Erwachen, was Teenager direkt anspricht, aber auch um Wechseljahre und Sexualität jenseits der 50. Mein Zielpublikum sind Menschen, die nicht überzeugt sind, dass sie Theater mögen, egal in welchem Alter.

Szene aus David Paquets Wedekind-Adaption «L’éveil du printemps» am Théâtre du Trident, Québec, inszeniert von Olivier Arteau (Foto: Stéphane Bourgeois)

Für dein letztes Stück «L’éveil du printemps», eine Adaption von Wedekinds Klassiker «Frühlings Erwachen», hast du gerade einen der wichtigsten Theaterpreise für junges Publikum in Québec, den Prix Louise Lahaye,  erhalten. Was hat dich an diesem Stoff interessiert und wie hast du dich mit dem Original auseinandergesetzt?

Als ich die Anfrage bekam, hatte ich Wedekinds Stück noch nie gelesen. Also habe ich mehrere unterschiedliche Übersetzungen davon mehrmals gründlich durchgelesen. Ich war schockiert: Da hatte jemand im Jahr 1891 ein Stück über sexuelles Erwachen geschrieben, in dem es um BDSM, Masturbation, Selbstmord, Abtreibung, sexuelle Gewalt und Homosexualität ging. Außerdem hatte ich mich in meinen Texten noch nie frontal mit Sexualität auseinandergesetzt. Es war also höchste Zeit.

Bei meinen Recherchen stieß ich auf einen Satz aus Wedekinds Skizzenbüchern: «Es würde mich wundern, wenn ich den Tag erleben würde, an dem dieses Werk endlich so gesehen wird, wie ich es vor zwanzig Jahren geschrieben habe, als ein sonniges Gemälde des Lebens, in dem ich versucht habe, jede einzelne Szene mit so viel unbeschwertem Humor zu versehen, wie es irgend möglich war.» Als ich das las, sagte ich mir: «Mit Komik kenne ich mich aus. Lass mich dir helfen.»

Einen fremden Text zu bearbeiten oder zu überschreiben, bedeutet für mich, den Weg, den ich als Leser zurückgelegt habe, durch meinen subjektiven Filter wiederzugeben. Es bedeutet, dem Publikum das zu vermitteln, was ich beim Lesen des Stückes erlebt habe. Zunächst habe ich also die Charaktere, die Themen und die allgemeine Struktur beibehalten. Dann kamen die Freiheiten: Die Hauptfigur sollte bei mir Moritz sein und nicht Melchior, Melchior sollte ein Mädchen sein, es sollte mehrere neue Szenen geben und einige erwachsene Figuren sollten eine größere Komplexität erhalten. Nach 15 Jahren als Autor nun meine erste Neufassung eines Klassikers zu verantworten, war eine wunderbare Herausforderung: zu lernen, wie man die Balance zwischen Werktreue und Freiheit findet.

Szene aus David Paquets Wedekind-Adaption «L’éveil du printemps» am Théâtre du Trident, Québec, inszeniert von Olivier Arteau (Foto: Stéphane Bourgeois)

Im Laufe unserer jahrelangen Zusammenarbeit ist es immer wieder vorgekommen, dass wir in einer Übersetzung Änderungen gegenüber dem Bühnenskript der Québecer Produktion eines Textes oder sogar gegenüber der in Québec als Buch veröffentlichten Fassung vorgenommen haben. Oft hast du mir erklärt, das Skript sei das Ergebnis bestimmter Produktionszwänge gewesen, du als Autor hättest jedoch lieber andere Entscheidungen getroffen. Wie erlebst du heute diese Diskrepanz zwischen deinen eigenen künstlerischen Anliegen und der Produktionsrealität des Theaterapparats? Wenn man dich über deinen Austausch mit Schauspieler*innen in den jüngsten Produktionen sprechen hört, hat man den Eindruck, dass du mittlerweile viel mehr Spaß daran hast.

Absolut, das bringt uns zurück zum Begriff des Kontrollfreaks. Ich habe gelernt, loszulassen. Ich habe immer gerne mit anderen zusammengearbeitet, aber gleichzeitig mein Schreiben vehement verteidigt. Die Tatsache, dass meine Stücke inzwischen auch veröffentlicht werden, hat mir dabei geholfen, flexibler zu werden. Für mich sind Inszenierungen eine Gelegenheit zur positiven Ansteckung: Alle Disziplinen arbeiten zusammen, um eine Arbeit für die Bühne zu entwickeln. Die Arbeit mit einem Buchverlag hingegen ermöglicht es mir, direkt mit dem Leser zu sprechen, ohne jeglichen Vermittler. Diese direkte Verbindung zwischen Autor und Leser gibt es nirgendwo sonst im Theaterprozess.

Der Québecer Autor Michel Marc Bouchard hat die besondere Stellung des Theaterautors sehr anschaulich beschrieben. Er sagte, dass der Dramatiker in der Theaterwelt als einsamer Literat betrachtet wird. Während er von den Literaturleuten als «Theatermacher» angesehen wird, der in einer Gruppe arbeitet. Dieses Dazwischen, das die Spannung zwischen Einsamkeit und Zusammenarbeit gut ausdrückt, erlebt nur ein Theaterautor. Das ist die zentrale Herausforderung, die ich zu bewältigen hatte: mit den Produktionsteams zusammenzuarbeiten, ohne dass mich die Vielzahl der Stimmen daran hindert, auf meinen Schreibimpuls zu hören.

Szene aus David Paquets Wedekind-Adaption «L’éveil du printemps» am Théâtre du Trident, Québec, inszeniert von Olivier Arteau (Foto: Stéphane Bourgeois)

Wie blickst du in die Zukunft und wo siehst du dich in den nächsten Jahrzehnten?

Ich bin ein 45-jähriger Freiberufler im Kulturbereich, ohne gesicherten Arbeitsplatz, ohne angemessene Versicherung oder Altersvorsorge. Deine Frage könnte mir durchaus Angst einjagen. Deshalb werde ich eher mit Enthusiasmus als mit Pragmatismus darauf antworten.

Ich möchte mich Herausforderungen stellen, die ich bisher noch nicht angegangen bin: einen Monolog und ein Zwei-Personen-Stück schreiben. Für Fernsehen oder Kino schreiben. Noch mehr fremde Texte bearbeiten. Weiterhin Schreibresidenzen in der ganzen Welt machen. Mit Gleichgesinnten kreativ arbeiten. In neue Sprachen übersetzt und in neuen Ländern aufgeführt werden. Auf jeden Fall möchte ich weiterhin unterrichten. Warum sollte ich nicht versuchen, einen festen Lehrauftrag zu bekommen? Es wäre schön, ein kleines Sicherheitsnetz zu haben.

Auf die letzten 15 Jahre bin ich sehr stolz. Wenn ich das Glück hätte, das Gleiche auch in 15 Jahren wieder zu sagen, würde ich mich sehr freuen.

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Am 21. Januar 2024 um 11 Uhr 30 findet die Premiere von «Das Gewicht der Ameisen» im Zwinger 3 des Theater Heidelberg statt. Inszenierung: Birga Ipsen. Karten und weitere Informationen hier.

Am 18. März feiert «Das Gewicht der Ameisen» seine Premiere am Theater Altenburg Gera, in der Inszenierung von Catharina May, Karten und weitere Informationen hier.

Am 17. Mai findet die Premiere der Produktion am Landestheater Tübingen statt, inszeniert von Swaantje Lena Kleff, Karten und weitere Informationen hier.

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Der Québecer Dramatiker David Paquet (Foto: Guillaume Boucher)

1978 in Montreal geboren. Seit seinem Studium des szenischen Schreibens an der École nationale de théâtre du Canada arbeitet David Paquet als Theaterautor, Dramaturg, Übersetzer und Coach für Nachwuchsautoren. Parallel zu diesen Tätigkeiten zeigt er regelmäßig sein Format Papiers Mâchés, eine Art Stand-Up-Show, in der er spoken word-Poesie, Stegreiferzählungen und theatralisch geformte Monologe kombiniert. 2010 wurde sein ein Debütstück «Porc-épic gleichzeitig» mit dem renommierten quebecer Theaterpreis Michel Tremblay und dem höchstdotierten kanadischen Literaturpreis, dem Gouverneur Général du Canada ausgezeichnet.

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