Meriam Bousselmi zur Verwendung unterschiedlicher Sprachen auf der Bühne Übersetzung als ästhetische Praxis der komplexen Kompliz*innenschaft

Szene aus der Aufführung «1983» der Compagnie Nova, inszeniert von Alice Carré und Margaux Eskenazi (Foto: Loïc Nys)

In ihrem neuesten Essay begreift die Forscherin, Autorin und Regisseurin Meriam Bousselmi Übersetzung als gleichzeitige Äußerung von Kompliz*innenschaft und Komplexität. Anhand unterschiedlicher Beispiele aus Literatur und Theaterpraxis denkt sie über Verwirrspiele zwischen Original und Übersetzung nach, bricht eine Lanze für die Verwendung unterschiedlicher Sprachen auf der Bühne und weist zugleich auf Hierarchien und Ausschlussmechanismen hin. Eine ästhetisch-politische Reflexion, wie sie aktueller kaum sein könnte.

 

von Meriam Bousselmi

 

In einer Pressemitteilung vom 10. August 2015 teilte die Universität Kassel auf ihrer Website[1] mit, der Germanist Matthias Weßel habe bei den Recherchen zu seiner Doktorarbeit in der Zürcher Zentralbibliothek das Originalmanuskript des berühmten antitotalitären Romans von Arthur Koestler entdeckt, der auf Französisch den Titel Le Zéro et l’Infini[2] trägt. Der jüdische Schriftsteller ungarischer Herkunft hatte das Manuskript zwischen 1938 und 1940 eigentlich auf Deutsch verfasst, unter dem Originaltitel Sonnenfinsternis. Weitaus mehr als eine Fiktion ist der Text ein historisches Zeugnis und eine politische Anklage gegen die kommunistische Partei, aus der Koestler 1938 freiwillig ausschied, nachdem er 1931 beigetreten war. Bereits auf der ersten Seite schlägt Koestler einen bewusst kritischen Ton an, indem er die Konvention der Praxis der literarischen Warnung übertritt:

«Die Personen dieses Romans sind fiktiv. Die historischen Begebenheiten, die ihnen das Gesetz ihres Handelns vorschrieben, sind real. Das Schicksal des Mannes N. S. Rubaschow ist aus den Schicksalen einer Anzahl von Männern zusammengesetzt, die Opfer der sogenannten ‚Moskauer Prozesse‘ wurden. Einige von ihnen waren dem Autor persönlich bekannt. Ihrem Andenken ist dieses Buch gewidmet. Paris, im März 1940.)» [3]

Der Roman inszeniert die Gefängniserfahrung, die Verhöre und den politischen Prozess des «Bürger[s] Rubaschow, Nicolas Salmanowitsch»[4] , «ehemaliges Mitglied des Zentralkomitees der Partei, ehemaliger Volkskommissar, ehemaliger Befehlshaber der 2. Division der revolutionären Armeen und Inhaber des Revolutionsordens für Unerschrockenheit vor dem Feind des Volkes«[5], der von jungen Genossen einer Partei verhaftet wird, deren Name nirgends genannt wird, die aber beschrieben wird als «Partei, [die] sich nicht irren [kann]»[6] und die «keine politische Organisation mehr [war], nur noch eine tausendarmige, tausendfüßige Masse von blutendem Fleisch»[7]. Obwohl Rubaschow unschuldig ist, wird er «im Namen des Gesetzes»[8] verhaftet und genötigt, Verbrechen zu gestehen, die er nicht begangen hat. Gletkin, einer der beiden Richter, die mit dem Fall betraut sind, bemerkt, Rubaschows Geständnis vor Gericht sei «der letzte Dienst […], den [er] der Partei erweisen»[9] könne.  Denn «für die Öffentlichkeit braucht man natürlich einen Prozeß und juristische Begründungen»[10], sagt der zweite Richter, Iwanoff. Da erkennt Rubaschow: «Das Individuum war nichts, die Partei alles; der Ast, der sich vom Baume brach, musste verdorren»[11]. Diese Gleichung erklärt, warum der französische Titel Le Zero et l’Infini lautet, die Null und die Unendlichkeit. Rubaschow wird unmittelbar danach zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Das Buch ist so reich an Verweisen, Analysen und Dekonstruktionen von Theorien zu politischen Totalitarismen und den von ihnen hervorgebrachten Rechtspraktiken, insbesondere den Schauprozessen, dass es an allen juristischen, rechts- und politikwissenschaftlichen Fakultäten behandelt werden sollte. Trotzdem werde ich meine Argumentation und Analyse dieses Meisterwerks, das es verdient, gelesen und wiedergelesen zu werden, hier nicht weiter ausführen, sondern nur noch eine Passage zitieren, die die Relevanz des vor 85 Jahren geschriebenen Textes illustriert:

«Im Ernstfalle – und Politik ist der Ernstfall in Permanenz – hatten die Regierenden stets die Berufung auf Ausnahmezustände bei der Hand, die Ausnahme-Maßnahmen der Notwehr erforderten. Seitdem es Nationen und Klassen gibt, leben sie in einem Zustand der gegenseitigen Notwehr, die sie zwingt, die endliche Verwirklichung des Humanismus immer wieder ‚auf nachher‘ zu verschieben …» [12]

Zugegeben, die Entscheidung, diesen Essay zur Übersetzung als Praxis der komplexen Kompliz*innenschaft [im Französischen: «pratique de la compl(ex)(ic)ité», A.d.Ü.], mit diesem Roman zu beginnen, ist nicht losgelöst von seiner Resonanz in der Gegenwart. Doch erklärt sich diese Entscheidung auch aus der Rolle, die die Übersetzung im (Über-)Leben dieses Werks gespielt hat.

Der Schauspieler Tónan Quito in dem Solo «Entre les lignes», inszeniert von Tiago Rodrigues (Foto: Mariano Barrientos)

Von der Übersetzung als Substitut des verlorenen Originals in der Literatur

Obwohl Koestlers Roman als ein literarisches Meisterwerk des 20. Jahrhunderts gilt und von der Modern Library 1998 an achter Position auf die Liste der hundert besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts[13] gesetzt wurde, existierte er über achtzig Jahre lang nur in Form seiner Übersetzungen. Koestler, der seit der Machtübernahme Hitlers 1933 in Frankreich gelebt hatte und 1940 wegen der deutschen Invasion in England Schutz suchte, hatte sein einziges Originalmanuskript auf der Flucht verloren. Seitdem hatte das Original als verschwunden gegolten, bis der Kasseler Doktorand Matthias Weßel im Jahr 2015 darauf stieß. Publiziert wurde die Erstausgabe des Originals in Deutschland erst 2018 im Verlag Elsinor[14], gefolgt von Übersetzungen in andere Sprachen wie der französischen Neuübersetzung von Olivier Mannoni, 2022 bei Calamann-Levy Littérature[15] erschienen. Überlebt hatte der Roman zuvor lediglich dank einer – wie ich es nennen würde –»Kompliz*innen-Übersetzung» ins Englische von der britischen Bildhauerin Daphne Hardy Henrion, Koestlers damaliger Lebensgefährtin.

Diese erste «Kompliz*innen-Übersetzung» wurde 1941 in London unter dem Titel Darkness at noon[16] veröffentlicht (was der Literaturkritiker Émile Henriot mit La nuit à midi ins Französische übersetzte[17]). Bis zu Wiederentdeckung des Originalmanuskripts im Jahr 2015 wurde sie zum «Urtext«[18] aller späteren Übersetzungen des Romans in mehr als dreißig Sprachen. Wie viele Leser*innen des Romans haben dennoch die Übersetzungen gelesen, ohne auch nur eine Sekunde lang in Erwägung zu ziehen, dass sich das Original von dem Buch, das sie in Händen hielten, unterscheiden könnte oder dass Daphne Hardy Henrions «Urversion» dem Original weniger in Treue verbunden war als ihre Geste der Kompliz*innenschaft Koestler gegenüber, ihrem (Ex)Lebensgefährten? Denken wir an das Original, wenn wir eine Übersetzung lesen? Und ändert das etwas an der Rezeption des Textes durch seine Leser*innen?

Szene aus der Aufführung «1983» der Compagnie Nova, inszeniert von Alice Carré und Margaux Eskenazi (Foto: Loïc Nys)

Als Matthias Weßel das Originalmanuskript mit der deutschen Rückübersetzung von Daphne Hardy Henrions englischer Version verglich, kam er zu dem «eindeutigen Urteil»[19], dass die Unterschiede zwischen den Versionen erheblich seien und das Original einen «zusätzlichen ästhetischen Wert» («Added aesthetic value«)[20] aufweise, was eine Neuübersetzung auf Grundlage des deutschen Originals erforderlich mache. Koestlers Roman Sonnenfinsternis ist also – mehr als eine schlichte verlegerische Kuriosität – ein Beispiel für das märchenhafte Schicksal eines Welt-Bestsellers, der von der Übersetzung als Praxis der «compl(ex)(ic)ité» im großen Stil profitiert hat. Aber was bedeutet es, Übersetzung als Praxis der «compl(ex)(ic)ité» zu betrachten?

Die Wortbildung «compl(ex)(ic)ité» setzt sich im Französischen offensichtlich aus zwei Begriffen zusammen, und zwar aus complicité (Kompliz*innenschaft) und complexité (Komplexität). Da ich Übersetzung notwendigerweise als gleichzeitige Äußerung von Kompliz*innenschaft und Komplexität begreife, habe ich beide Begriffe zu einem Wort zusammengezogen. Laut dem Dictionnaire de l’Académie française handelt es sich bei dem Wort complicité um ein feminines Nomen, das von dem Wort «complice» abgeleitet ist [dem auch der Komplize, die Komplizin im Deutschen entlehnt ist, A.d.Ü.], und dessen Gebrauch bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Ursprünglich habe das Wort eine juristische Konnotation und bezeichne die vorsätzliche Beteiligung an einem Verbrechen oder Vergehen. Bedeutungen im übertragenen Sinne sind «entente tacite» («stillschweigende Zustimmung») oder «connivence«[21] («heimliches Einverständnis»). Aus etymologischer Perspektive können wir also ableiten, dass jede*r Übersetzer*in einen Übersetzungsprozess eigenverantwortlich unternimmt und nicht nur als Vertreter*in des Autors/ der Autorin handelt, sondern als «Komplize/ Komplizin». Dies bedeutet: Er/sie hat an den geschriebenen bzw. übersetzten Texten aktiv und wissentlich Anteil. Was uns zwangsläufig zur Bedeutung des Wortes «complexité» führt, welches, um noch einmal das Dictionnaire de l’Académie française heranzuziehen, ein feminines Nomen ist, das erstmalig im 18. Jahrhundert vorkommt und folgende Bedeutungen hat: 1. Der Zustand von etwas, das «aus unterschiedlichen und ineinander verflochtenen Komponenten besteht». 2. «Eigenschaft von etwas, das wegen der Verflechtung seiner Komponenten schwierig zu entwirren oder zu analysieren ist.»[22]

Da jede Übersetzung eine Anstrengung mehrerer Parteien erfordert, nämlich der Autor*innen, der Übersetzer*innen und der Empfänger*innen, führt dies unweigerlich zu einer Verflechtung mehrerer Bereiche des Sendens und Empfangens, deren Synergie die Subjektivität jedes einzelnen Komplizen/ jeder einzelnen Komplizin übersteigt. Außerdem kann ein Originaltext auf die Handlung einer Einzelperson zurückgehen. Eine Übersetzung dagegen ist notwendigerweise ein kollektives Werk. Am deutlichsten nimmt die compl(ex)(ic)ité der Übersetzung als Praxis im Theater Gestalt an.

Tónan Quito in «Entre les lignes», inszeniert von Tiago Rodrigues (Foto: Mariano Barrientos)

Von der Übersetzung als Praxis der Annäherung und der Nähe im Theater

Während eines Forschungsaufenthalts in Paris für meine Doktorarbeit besuchte ich am 2. Dezember 2022 im Christian-Bérard-Saal des Athénée Théâtre Louis-Jouvet eine Aufführung des Soloabends Entre les lignes[23], geschrieben und inszeniert von Tiago Rodrigues, dem derzeitigen Leiter des Festival d’Avignon und gespielt von dem portugiesischen Schauspieler Tónan Quito. Getreu dem äußerst persönlichem Ansatz von Tiago Rodrigues und seinem autobiographischen Stil, erzählt Entre les Lignes von der freundschaftlichen und beruflichen Komplizenschaft, die den Autor und Regisseur mit dem Schauspieler Tónan Quito verbindet, der in mehreren seiner Inszenierungen mitgespielt hat und für den er, sozusagen als Freundschaftsgeschenk, eine Monologfassung von Sophokles‘ König Ödipus zu schreiben begonnen hatte. Aus verschiedenen Gründen kam Tiago Rodrigues mit dem Schreiben jedoch nicht voran und musste ständig die Proben absagen, so dass das Theater, in dem die Premiere des Solos stattfinden sollte, diese schließlich verschob. So kam er auf die Idee, das Stück nicht wie geplant auf einer großen Bühne zu spielen, sondern in alternativen Räumen des Theaters wie dem Foyer oder auf einer Probebühne. Außerdem war zwar seine Monolog-Adaption von König Ödipus gewissermaßen gescheitert, doch hatten er und sein Schauspieler bei den Recherchen zu dem Thema in der Bibliothek des Lissabonner Gefängnisses ein Buchexemplar des Theatertextes entdeckt, zwischen dessen Zeilen ein Häftling einen Brief an seinen Vater geschrieben hatte. Dieser Fund wurde daraufhin zur treibenden Kraft der Erzählung und zur Inszenierungsstrategie.

Übrigens wurde gegen Ende der Vorstellung an das gesamte Publikum ein kleines Büchlein ausgeteilt, das neben dem Stücktext von Entre les Lignes auch Auszüge aus dem Brief des Gefangenen enthielt, mit der Aufforderung, den letzten Abschnitt gemeinsam mit dem Schauspieler zu proben. Das Stück wurde 2013 im São Luiz Teatro Municipal in Lissabon uraufgeführt, ursprünglich auf Portugiesisch. Ins Französische wurde der Text 2015 von Thomas Resendes übersetzt[24], dem Übersetzungskomplizen von Tiago Rodrigues, der fast alle Stücke des Künstlers übertragen hat. Für die Vorstellungen in Paris haben Regisseur und Schauspieler nicht die Option einer französischen Übertitelung des portugiesischen Stückes gewählt. Stattdessen «zwang» sich der Schauspieler Tónan Quito, den Großteil seines Solos auf Französisch zu spielen, gerahmt von einigen französischen Übertiteln für die auf Portugiesisch gespielten Teile. Er sprach mit starkem portugiesischem Akzent und im Publikum war spürbar, welche Anstrengung es ihn kostete, Herr über die Bühne zu bleiben.

Tónan Quito in «Entre les lignes», inszeniert von Tiago Rodrigues (Foto: Mariano Barrientos)

An jenem Abend des 2. Dezember 2022 war der Regisseur Tiago Rodrigues vor Ort und nahm im Anschluss an die Vorstellung an einem vom Theater organisierten Publikumsgespräch mit beiden Künstlern teil. Aus dem Publikum kam die Frage, warum sie entschieden hätten, auf Französisch zu spielen und was dies für den Schauspieler und für den Regisseur bedeute. Tiago Rodrigues sagte zuerst, er habe das Stück seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen und zuletzt auf Englisch. Und dass er erst in dem Moment, als sein Stück auf Französisch gespielt wurde, in der Lage gewesen sei, den eigentlichen Sinn der gemeinsamen Arbeit zu begreifen. Er gestand, erst an dem Abend sei ihm klargeworden, dass sein Stück von Freundschaft handele. Und dass er dies vorher nicht verstanden habe.

Natürlich muss man Tiago Rodrigues heißen, um sich solch eine Bemerkung erlauben zu können, die manchen vielleicht unproblematisch erscheint, in einem stark vom Wettbewerb geprägten Milieu aber auch die Frage aufwerfen könnte, warum es sich manche Theaterschaffenden leisten können, etwas zu produzieren, ohne zu verstehen, was sie tun, und es sich später durch die Tournee und die Übersetzungen ihrer Inszenierungen erklären lassen. Während andere Künstler*innen, die vielleicht sehr genau wissen, was sie wollen, aber denen es an finanziellen Mitteln, Netzwerken, Sichtbarkeit und Chancengleichheit fehlt, diesen Luxus nicht haben.

Tónan Quito für seinen Teil merkte an, dass er, seitdem er das Stück auf Französisch spiele, nicht mehr in der Lage sei, es auf Portugiesisch zu spielen. Er könne es vielleicht noch auf Englisch spielen, da die englischen Vorstellungen noch nicht so lange zurücklägen, doch wäre es ihm vollkommen unmöglich, es aus dem Stand auf Portugiesisch zu spielen. Die erste Woche sei sehr schwierig gewesen, fügte er hinzu, aber nach zehn Vorstellungen habe es angefangen, ihm Spaß zu machen, auf der Bühne die französische Übersetzung zu spielen. Das Spielen in einer Fremdsprache, die man nicht beherrscht, sei eine Möglichkeit, sich selbst zu überraschen. In der eigenen Muttersprache, in der man alles sagen kann, gäbe es diese Fähigkeit nicht.

Ich würde die Übersetzung in diesem Kontext als eine Praxis der Annäherung bezeichnen. Denn das Spielen in der Sprache der Übersetzung ist nicht nur eine Herausforderung für jede*n Schauspieler*in-Übersetzer*in, es bedeutet vor allem auch, von Anfang an auf eine bestimmte Vorstellung von Perfektion auf der Bühne zu verzichten. Man weiß, dass die eigene Aussprache nie so perfekt und «natürlich» sein wird, wie wenn man in der Muttersprache spielt. Man weiß, wenn ein Wort vergessen wird, ist es nicht leicht, Ersatz zu finden. Man weiß, man ist langsamer und weniger eloquent. Doch hindert einen dieses Bewusstsein der eigenen Grenzen nicht daran, auf die Bühne zu gehen, mit diesen Abweichungen zu improvisieren und daraus eine Performance zu machen. Was in einer Übersetzung erzählt wird, ist niemals genau dieselbe Geschichte wie in der Muttersprache.

Dies gilt nicht nur für Schauspieler*innen-Übersetzer*innen, es gilt auch für Autor*innen. Ich schreibe in mehreren Sprachen und wenn ich meine Texte aus dem Tunesischen in modernes Arabisch oder ins Französische übersetze oder umgekehrt, schreibe ich sie in der Empfängersprache quasi noch einmal neu. Ich lasse Details weg und füge neue hinzu, die besser zu den Referenzen und zum Kontext der Zielsprache passen. Man weiß, man bietet dem Publikum etwas Ungefähres an, «ohne […] zu erhoffen«, wie Paul Ricœur es formuliert, «den Abstand zwischen Äquivalenz und totaler Adäquatheit auffüllen zu können«[25].

Tónan Quito in «Entre les lignes», inszeniert von Tiago Rodrigues (Foto: Mariano Barrientos)

Bei Entre les Lignes integrierte Tónan Quito die Schwierigkeiten mit dem Spiel auf Französisch in seine Spielweise. Oft kommentierte er seine Fähigkeit, auf Französisch zu spielen, seinen portugiesischen Akzent, er korrigierte sich oft selbst oder bat das Publikum, ihn zu korrigieren, oder ihm zu helfen, ein Wort auszusprechen oder sich an ein anderes zu erinnern, er erlaubte sich sogar, offen über seine sprachliche Angreifbarkeit zu lachen. Auf diese Art und Weise konstruierte er neue Dynamiken des Dialogs mit dem Publikum, die er nicht benötigt, wenn er das Stück auf Portugiesisch spielt. Das zeugt gleichzeitig von der Komplexität der Praxis der Schauspieler*innen-Übersetzer*innen und von der Kompliz*innenschaft, die sie mit dem Publikum herstellen müssen. Außerdem ist dies nicht ohne die Zustimmung des Publikums möglich, das ebenfalls eine Anstrengung unternehmen muss. Paul Ricoeur nennt dies «sprachliche Gastfreundschaft […], bei der das Vergnügen, die Sprache des anderen zu bewohnen, vergolten wird durch das Vergnügen, bei sich, in seiner eigenen, gern aufnehmenden Bleibe, das Wort des Fremden zu empfangen.»[26]

Während der gesamten Vorstellung trieb mich eine Frage um: Wäre das französische Publikum ebenso offen und gastfreundlich, wenn man den portugiesischen durch einen – zum Beispiel – arabischen Akzent ersetzen würde? Oder werden manche Akzente mehr und andere weniger geschätzt? Hat es ein*e Schauspieler*in, der/die im Französischen Fehler macht, leichter, mit dem Publikum eine Kompliz*innenschaft herzustellen, wenn er/sie aus einem europäischen Land wie Portugal, Italien oder Spanien stammt, als ein*e Schauspieler*in aus Afrika oder dem Nahen Osten? Ist der Akt des Übersetzens auf der Bühne nicht an sich schon eine Frage von Privileg und Macht? Ist unsere Reaktion nicht ziemlich oft abwertend, mitleidig oder verunglimpfend, wenn diejenigen, die auf einer Bühne stehen, im Theater oder sonst im Leben, und uns, das Publikum, anzusprechen versuchen, nicht «westlich», «weiß» oder «wie eine*r von uns» aussehen?

Szene aus der Aufführung «1983» der Compagnie Nova, inszeniert von Alice Carré und Margaux Eskenazi (Foto: Loïc Nys)

All diese Fragen zur politischen Dimension der Übersetzung als Praxis der compl(ex)(ic)ité und der Fähigkeit des Theaters, selbstverständlicher mit der Verwendung von Fremdsprachen umzugehen, indem es ganz bewusst auch nicht perfekte Übersetzungen auf der Bühne einsetzt, erschienen mir noch relevanter, als ich drei Tage später, am 5. Dezember 2022, eine Vorstellung des Stückes 1983 besuchte, das das Duo Alice Carré und Margaux Eskenazi von der Compagnie Nova[27] im Théâtre les Abbesses konzipiert und inszeniert hatte[28].

1983 ist nicht nur mein Geburtsjahr, sondern auch das Jahr der ersten Demonstration für Gleichheit und gegen Rassismus, dem sogenannten «Marche des beurs«[29], der am 15. Oktober 1983 in Marseille stattfand, als Antwort auf rassistische Verbrechen und Polizeigewalt gegen nordafrikanische Einwanderer in zahlreichen Vorstädten Frankreichs. Dies war der Ausgangspunkt des Stückes der Compagnie Nova für dritten und letzten Teil einer Trilogie mit dem Titel Ecrire en pays dominé («Schreiben in einem Land unter Herrschaft»). Ein kraftvolles, konsequent gearbeitetes Dokumentartheaterstück, das ständig die eigenen Strategien zur Darstellung von Rassismus und Gewalt auf der Bühne hinterfragt und so über die ethische Frage des Theaters nachdenkt. Mittels einer Collage vieler kleiner Geschichten von Bürger*innen und ihren alltäglichen Kämpfen in einem politisch und sozial zunehmend auseinanderdriftenden Umfeld, erzählt das Stück von der kollektiven und politischen Geschichte des damaligen Frankreich.

Im Gegensatz zu Entre les Lignes ging 1983 von der Feststellung aus, dass es zu Ausschluss, Rassismus, Verachtung und schließlich Leid führt, wenn Französisch mit einem Akzent gesprochen wird. Die Darsteller*innen zitierten auf der Bühne Fragmente des Kampfes der Kinder von Einwander*innen, indem sie einige zweisprachige Lieder der 1980 von dem mittlerweile verstorbenen Künstler Rachid Taha gegründeten Band Carte de séjour[30] sangen, wie das Lied Rhorhomanie (1984)[31], das sich auf den Begriff «Rhorhos» bezieht, eine damals in den französischen Banlieues gebräuchliche Bezeichnung für Araber.

Szene aus der Aufführung «1983» der Compagnie Nova, inszeniert von Alice Carré und Margaux Eskenazi (Foto: Loïc Nys)

Auch wenn die ehemals Kolonisierten die Sprache der Kolonisatoren recht gut beherrschen, können sie sich den Herrschaftsverhältnissen durch und in der Sprache nicht entziehen, selbst auf der Bühne nicht. «Tu ne parleras pas ma langue«[32] («Du sollst meine Sprache nicht sprechen») warnt uns scharfsinnig formuliert der marokkanische Schriftsteller Abdelfattah Kilito im Titel seiner Essaysammlung über Mutter- und Fremdsprachen. Wenn jedoch Schauspieler*innen-Übersetzer*innen die Sprache des Publikums oder in der Sprache des Publikums sprechen, indem sie sich auf der Bühne selbst übersetzen, dann tun sie dies ausschließlich mit dem Ziel, die Nähe des Publikums zu suchen.

Zu diesem Thema hatte Tiago Rodrigues während des Publikumsgesprächs zu Entre les lignes etwas Treffendes bemerkt: Er sagte, der Schauspieler Tónan Quito bleibe stets präsent, wenn er auf Französisch spiele. Er versuche andauernd, die Aufmerksamkeit des französischen Publikums auf sich zu ziehen und zu betonen, dass er auf Französisch spiele, und zwar für das Publikum. Wenn er aber auf Portugiesisch spiele, stehe es ihm frei, ob er präsent bleiben möchte oder nicht. Ob er das Publikum ansieht oder nicht. Ob er seine Sätze flüstert oder schreit. Er ist nicht gezwungen, mit dem Publikum in einen derart direkten, ständigen Kontakt zu gehen, vor allem wenn er sich nicht freiwillig auf das Spiel einlässt, die Zuschauer*innen zu bitten, seine Französischfehler zu korrigieren, wie es bei Entre les lignes der Fall ist.

Somit wird die Übersetzung zu einer Gleichung für Nähe durch Annäherung: Ich gehe das Risiko ein, nicht so gut zu erzählen, wie ich es in meiner eigenen Sprache könnte, nur um mich dir, dem Publikum, anzunähern, indem ich dich in deiner eigenen Sprache anspreche, ohne dir meine eigene, dir fremde Sprache aufzudrängen. Bei Kafka hieß es damals, «alle Sprachen kann ich, aber auf jiddisch»[33]. Und Abdelfattah Kilito übersetzte es so: «Alle Sprachen spreche ich, aber auf Arabisch»[34]. Aufgrund dieser Ästhetik der compl(ex)(ic)ité haben wir die Pflicht, zu übersetzen, Genoss*innen!

 

(aus dem Französischen von Corinna Popp)

 

[1] Pressemitteilung: «Verschollene Original-Fassung des Romans «Sonnenfinsternis» von Koestler gefunden«, veröffentlicht am 10.08.2015 auf der Website der Universität Kassel, https://www.uni-kassel.de/uni/aktuelles/sitemap-detail-news/2015/08/10/verschollene-original-fassung-des-romans-sonnenfinsternis-von-koestler-gefunden?cHash=15ab93ab68393a43a1276f8fa3d81dfb [Zugriff: 19.01.2024]

[2]Arthur Koestler, Le Zéro et l’infini, Übersetzung aus dem Englischen von Jérôme Jenatton, Le Livre de poche, Paris, 2020 (nach der Erstauflage von 1945).

[3] Arthur Koestler, Sonnenfinsternis. Roman. Nach dem deutschen Originalmanuskript, Elsinor Verlag, Coesfeld, 2018, S.20.

[4] Ibid., S. 25.

[5] Ibid., S.158.

[6] Ibid., S. 53.

[7] Ibid., S. 44.

[8] Ibid., S. 25.

[9] Ibid., S. 208.

[10] Ibid., S. 84.

[11] Ibid., S. 84.

[12] Ibid., S. 146.

[13] 100 Best Novels, The Modern Library, 1998, https://sites.prh.com/modern-library-top-100#top-100-novels

[Zugriff: 19.01.2024]

[14] Koestler, Op. cit.

[15] Arthur Koestler, Le Zéro et l’Infini. Nouvelle traduction d’après le manuscript original, Übersetzung aus dem Deutschen von Olivier Mannoni, Editions Calmann-Lévy, Paris, 2022.

[16] Arthur Koestler, Darkness at Noon, Übersetzung aus dem Deutschen von Daphne Hardy, MacMillan Company, New York, 1941.

[17] Émile Henriot, «’Le Zéro et l’Infini’ d’Arthur Koestler : dans les méandres d’une âme révolutionnaire russe», in: Le Monde,‎ 7. März 1946,https://www.lemonde.fr/archives/article/1946/03/07/sur-l-esprit-de-revolution_1873310_1819218.html  [Zugriff: 19.01.2024]

[18] So formuliert es Michael Scammell, Koestler-Spezialist und Autor des Vorworts zur neuen Edition des Romans von Koestler mit der Überschrift: «Logik der Eiszeit. Zur Erstausgabe des deutschen Originaltextes von Arthur Koestlers Roman ‚Sonnenfinsternis‘». Op. cit., S. 15.

[19] Ibid. S. 17.

[20] «Long missing original manuscript of the novel «Darkness at Noon» by Koestler has been found«,  Nachrichten Informationsdienst Wissenschaft, 10.08.2015, https://nachrichten.idw-online.de/2015/08/10/long-missing-original-manuscript-of-the-novel-darkness-at-noon-by-koestler-has-been-found  [Zugriff: 19.01.2024]

[21] Dictionnaire de l’Académie française, https://www.dictionnaire-academie.fr/article/A9C3263 [Zugriff: 19.01.2024]

[22] Ibid., https://www.dictionnaire-academie.fr/article/A9C3260 [Zugriff: 19.01.2024]

[23] Für weitere Informationen zum Stück sei verwiesen auf die Website des Athénée Théâtre Louis-Jouvet, https://www.athenee-theatre.com/saison/archives_spectacles/saison-22-23.htm#entre-les-lignes [Zugriff: 19.01.2024]

[24] Für weitere Informationen zu Tiago Rodrigues’ Stücken und den französischen Übersetzungen von Thomas Resendes sei verwiesen auf die Website der Maison Antoine Vitez – Centre international de la traduction théâtrale, https://www.maisonantoinevitez.com/fr/bibliotheque/entre-les-lignes-989.html [Zugriff: 19.01.2024]

[25 Paul Ricoeur, Vom Übersetzen, Übersetzung aus dem Französischen von Till Bardoux, Reihe Fröhliche Wissenschaft 093, Matthes&Seitz Berlin, 2016, S. 17.

[26] Ibid., S. 17-18.

[27] Für weitere Informationen zum Stück sei verwiesen auf die Website der Compagnie Nova: https://lacompagnienova.org/  [Zugriff: 19.01.2024]

[28] Für weitere Informationen zur Inszenierung am Théâtre les Abbesses siehe: https://www.theatredelaville-paris.com/fr/spectacles/saison-2022-2023/theatre/alice-carre-margaux-eskenazi-1983  [Zugriff: 19.01.2024]

[29] Ariane Bonzon, «Pourquoi il ne faut pas parler de ’Marche des beurs’», Slate, 3. Dezember 2013, https://www.slate.fr/story/80627/marche-beurs-racisme-egalite [Zugriff: 19.01.2024]

[30] Für weitere Informationen über Carte de séjour sei auf den Wikipedia-Artikel der Band verwiesen: https://fr.wikipedia.org/wiki/Carte_de_s%C3%A9jour_(groupe) [Zugriff: 19.01.2024]

[31] Carte de séjour, Rhorhomanie (1984), https://www.youtube.com/watch?v=pRj17XZkwK0 [Zugriff: 19.01.2024]

[32]Abdelfattah Kilito, Tu ne parleras pas ma langue, Übersetzung aus dem marokkanischen Arabisch von Francis Gouin, Actes Sud, Arles, 2008.

[33] Franz Kafka, Tagebücher 1909-1912, Originalfassung, Eintrag vom 6. Januar 1912, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2008.

[34] Abdelfattah Kilito, Je parle toutes les langues, mais en arabe, coll. Sindbad, Actes Sud, Arles, 2013.

 

 


Dieser Text entstand während Meriam Bousselmis Forschungsarbeit im Rahmen des Graduiertenkollegs 2477 «Ästhetische Praxis», gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Projektnummer: 394082147.


 

Die Forscherin, Autorin und Regisseurin Meriam Bousselmi (©Angela Ankner)

Meriam Bousselmi, geboren 1983 in Tunis, studierte Rechts- und Politikwissenschaft an der Universität Tunis Karthago. Sie ist eine mehrsprachige Autorin, Regisseurin, Rechtsanwältin, Dozentin, Forscherin und Brückenbauerin. Sie forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit im DFG-Graduiertenkolleg 2477 – Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim zur Inszenierung von Gerechtigkeit und setzt dieses Thema auch künstlerisch um.
In ihrer künstlerischen Praxis verbindet Meriam Bousselmi die unterschiedlichsten Formen des Erzählens: literarische Texte, Theaterinszenierungen und performative Installationen. Sie reflektiert anhand verschiedener ästhetischer Formen die gegenwärtigen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Indem sie Genregrenzen überschreitet und sich mit Tabuthemen auseinandersetzt, gibt sie ein kritisches Bild unserer Zeit wieder. Ihre Arbeiten werden zu einem künstlerischen Statement gegen politische Manipulationen und die vorherrschenden negativen Narrative unserer Welt.
2018 ist Meriam Bousselmi nach Berlin gezogen und hat seitdem einen mehrsprachigen Schreibstil und einen transkulturellen künstlerischen Ansatz entwickelt. Ihre neuen Projekte übersetzen Begriffe wie Dialog, Transfer und Vermischung von Erzählweisen in die Praxis.

 

Auf PLATEFORME hat sie bislang folgende Essays veröffentlicht:

Über feministische Komplizinnenschaft als ästhetische Praxis

Gendert das weibliche Genie die ästhetische Praxis?

Übersetzung als ästhetische Praxis – Der Titel ist frei übersetzbar

 

 

 

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