Auch wenn die ehemals Kolonisierten die Sprache der Kolonisatoren recht gut beherrschen, können sie sich den Herrschaftsverhältnissen durch und in der Sprache nicht entziehen, selbst auf der Bühne nicht. «Tu ne parleras pas ma langue«[32] («Du sollst meine Sprache nicht sprechen») warnt uns scharfsinnig formuliert der marokkanische Schriftsteller Abdelfattah Kilito im Titel seiner Essaysammlung über Mutter- und Fremdsprachen. Wenn jedoch Schauspieler*innen-Übersetzer*innen die Sprache des Publikums oder in der Sprache des Publikums sprechen, indem sie sich auf der Bühne selbst übersetzen, dann tun sie dies ausschließlich mit dem Ziel, die Nähe des Publikums zu suchen.
Zu diesem Thema hatte Tiago Rodrigues während des Publikumsgesprächs zu Entre les lignes etwas Treffendes bemerkt: Er sagte, der Schauspieler Tónan Quito bleibe stets präsent, wenn er auf Französisch spiele. Er versuche andauernd, die Aufmerksamkeit des französischen Publikums auf sich zu ziehen und zu betonen, dass er auf Französisch spiele, und zwar für das Publikum. Wenn er aber auf Portugiesisch spiele, stehe es ihm frei, ob er präsent bleiben möchte oder nicht. Ob er das Publikum ansieht oder nicht. Ob er seine Sätze flüstert oder schreit. Er ist nicht gezwungen, mit dem Publikum in einen derart direkten, ständigen Kontakt zu gehen, vor allem wenn er sich nicht freiwillig auf das Spiel einlässt, die Zuschauer*innen zu bitten, seine Französischfehler zu korrigieren, wie es bei Entre les lignes der Fall ist.
Somit wird die Übersetzung zu einer Gleichung für Nähe durch Annäherung: Ich gehe das Risiko ein, nicht so gut zu erzählen, wie ich es in meiner eigenen Sprache könnte, nur um mich dir, dem Publikum, anzunähern, indem ich dich in deiner eigenen Sprache anspreche, ohne dir meine eigene, dir fremde Sprache aufzudrängen. Bei Kafka hieß es damals, «alle Sprachen kann ich, aber auf jiddisch»[33]. Und Abdelfattah Kilito übersetzte es so: «Alle Sprachen spreche ich, aber auf Arabisch»[34]. Aufgrund dieser Ästhetik der compl(ex)(ic)ité haben wir die Pflicht, zu übersetzen, Genoss*innen!
(aus dem Französischen von Corinna Popp)
[1] Pressemitteilung: «Verschollene Original-Fassung des Romans «Sonnenfinsternis» von Koestler gefunden«, veröffentlicht am 10.08.2015 auf der Website der Universität Kassel, https://www.uni-kassel.de/uni/aktuelles/sitemap-detail-news/2015/08/10/verschollene-original-fassung-des-romans-sonnenfinsternis-von-koestler-gefunden?cHash=15ab93ab68393a43a1276f8fa3d81dfb [Zugriff: 19.01.2024]
[2]Arthur Koestler, Le Zéro et l’infini, Übersetzung aus dem Englischen von Jérôme Jenatton, Le Livre de poche, Paris, 2020 (nach der Erstauflage von 1945).
[3] Arthur Koestler, Sonnenfinsternis. Roman. Nach dem deutschen Originalmanuskript, Elsinor Verlag, Coesfeld, 2018, S.20.
[4] Ibid., S. 25.
[5] Ibid., S.158.
[6] Ibid., S. 53.
[7] Ibid., S. 44.
[8] Ibid., S. 25.
[9] Ibid., S. 208.
[10] Ibid., S. 84.
[11] Ibid., S. 84.
[12] Ibid., S. 146.
[13] 100 Best Novels, The Modern Library, 1998, https://sites.prh.com/modern-library-top-100#top-100-novels
[Zugriff: 19.01.2024]
[14] Koestler, Op. cit.
[15] Arthur Koestler, Le Zéro et l’Infini. Nouvelle traduction d’après le manuscript original, Übersetzung aus dem Deutschen von Olivier Mannoni, Editions Calmann-Lévy, Paris, 2022.
[16] Arthur Koestler, Darkness at Noon, Übersetzung aus dem Deutschen von Daphne Hardy, MacMillan Company, New York, 1941.
[17] Émile Henriot, «’Le Zéro et l’Infini’ d’Arthur Koestler : dans les méandres d’une âme révolutionnaire russe», in: Le Monde, 7. März 1946,https://www.lemonde.fr/archives/article/1946/03/07/sur-l-esprit-de-revolution_1873310_1819218.html [Zugriff: 19.01.2024]
[18] So formuliert es Michael Scammell, Koestler-Spezialist und Autor des Vorworts zur neuen Edition des Romans von Koestler mit der Überschrift: «Logik der Eiszeit. Zur Erstausgabe des deutschen Originaltextes von Arthur Koestlers Roman ‚Sonnenfinsternis‘». Op. cit., S. 15.
[19] Ibid. S. 17.
[20] «Long missing original manuscript of the novel «Darkness at Noon» by Koestler has been found«, Nachrichten Informationsdienst Wissenschaft, 10.08.2015, https://nachrichten.idw-online.de/2015/08/10/long-missing-original-manuscript-of-the-novel-darkness-at-noon-by-koestler-has-been-found [Zugriff: 19.01.2024]
[21] Dictionnaire de l’Académie française, https://www.dictionnaire-academie.fr/article/A9C3263 [Zugriff: 19.01.2024]
[22] Ibid., https://www.dictionnaire-academie.fr/article/A9C3260 [Zugriff: 19.01.2024]
[23] Für weitere Informationen zum Stück sei verwiesen auf die Website des Athénée Théâtre Louis-Jouvet, https://www.athenee-theatre.com/saison/archives_spectacles/saison-22-23.htm#entre-les-lignes [Zugriff: 19.01.2024]
[24] Für weitere Informationen zu Tiago Rodrigues’ Stücken und den französischen Übersetzungen von Thomas Resendes sei verwiesen auf die Website der Maison Antoine Vitez – Centre international de la traduction théâtrale, https://www.maisonantoinevitez.com/fr/bibliotheque/entre-les-lignes-989.html [Zugriff: 19.01.2024]
[25 Paul Ricoeur, Vom Übersetzen, Übersetzung aus dem Französischen von Till Bardoux, Reihe Fröhliche Wissenschaft 093, Matthes&Seitz Berlin, 2016, S. 17.
[26] Ibid., S. 17-18.
[27] Für weitere Informationen zum Stück sei verwiesen auf die Website der Compagnie Nova: https://lacompagnienova.org/ [Zugriff: 19.01.2024]
[28] Für weitere Informationen zur Inszenierung am Théâtre les Abbesses siehe: https://www.theatredelaville-paris.com/fr/spectacles/saison-2022-2023/theatre/alice-carre-margaux-eskenazi-1983 [Zugriff: 19.01.2024]
[29] Ariane Bonzon, «Pourquoi il ne faut pas parler de ’Marche des beurs’», Slate, 3. Dezember 2013, https://www.slate.fr/story/80627/marche-beurs-racisme-egalite [Zugriff: 19.01.2024]
[30] Für weitere Informationen über Carte de séjour sei auf den Wikipedia-Artikel der Band verwiesen: https://fr.wikipedia.org/wiki/Carte_de_s%C3%A9jour_(groupe) [Zugriff: 19.01.2024]
[31] Carte de séjour, Rhorhomanie (1984), https://www.youtube.com/watch?v=pRj17XZkwK0 [Zugriff: 19.01.2024]
[32]Abdelfattah Kilito, Tu ne parleras pas ma langue, Übersetzung aus dem marokkanischen Arabisch von Francis Gouin, Actes Sud, Arles, 2008.
[33] Franz Kafka, Tagebücher 1909-1912, Originalfassung, Eintrag vom 6. Januar 1912, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2008.
[34] Abdelfattah Kilito, Je parle toutes les langues, mais en arabe, coll. Sindbad, Actes Sud, Arles, 2013.
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