Ein Übersetzer*innen-Journal von Annette Bühler-Dietrich und George Bwanika Seremba Den wahnsinnigen Dichter ins Deutsche bringen

Annette Bühler-Dietrich, Kagayi Ngobi und George Bwanika Seremba im Herbst 2023 beim Kamapala International Theatre Festival in der ugandischen Hauptstadt (Foto: privat)

 

Im vergangenen Sommer war das Bühnenstück «For My Negativity» des ugandischen Performance-Poeten Kagayi Ngobi erstmals in Deutschland zu sehen – beim Kölner Festival africologne. Übersetzt und übertitelt wurde es damals gemeinsam von der deutschen Literaturwissenschaftlerin Annette Bühler-Dietrich und dem im kanadischen Exil lebenden ugandischen Schauspieler, Theaterwissenschaftler und Dramatiker George Bwanika Seremba. In einem zweigeteilten Übersetzer*innen-Journal für PLATEFORME reflektieren die beiden über den historischen und kulturellen Hintergrund von Ngobis provokativer politischer Lyrik und über die Schwierigkeiten einer adäquaten Übertragung ins Deutsche.

 

 

Ein gefährliches Land vor Gericht: Kagayi Ngobis For My Negativity

von George Seremba

 

Der dramatische Monolog For My Negativity besteht aus einer Reihe von Gedichten in der Tradition von Song of Lawino und Song of Ocol, zwei berühmten Versepen des ugandischen Lyrikers Okot b’Bitek. Vermutlich ist Lawino der denkwürdigere der beiden bahnbrechenden Texte, die die «Song School» begründeten. Dies liegt an der Sprache der Protagonistin Lawino und ihrer scharfen Zunge bei dem vehementen Versuch, ihre Traditionen und ihre Weltsicht gegenüber ihrem entfremdeten Ehemann und seiner gleichermaßen verwestlichten und orientierungslosen Geliebten zu verteidigen. Letztendlich bezahlte Okot für sein Werk mit dem unerträglichen Leiden des Exils. Man kann nur hoffen, dass Ngobi dies oder, da sei Gott vor, noch Schlimmeres, niemals durchmachen muss.

Ngobi schrieb und performte Negativity selbst, inszeniert wurde es von Kalundi Serumaga. Der bissige, satirische Monolog ist eine Art ironische apologia in Versen und dauert etwas über eine Stunde. Ngobi wütet gegen die Verleugner, die blind gegenüber den kolossalen Missständen in ihrem postkolonialen Staat sind, aber ihn (den Dichter, Rufer und Wahrheitsverkünder) schamlos zum Sündenbock machen. Er wird beschuldigt, verdammt und für wahnsinnig erklärt, weil er einige brutale, unangenehme Wahrheiten über das marode koloniale Nationenkonstrukt aufdeckt. Ngobi spielt unter anderem einen Rechtsanwalt, einen angeblich wahnsinnigen Dichter und einen Vater. Die Aufführung entfaltet sich vor einem weißen Leintuch im Bühnenhintergrund, auf das Fotografien und grobkörniges Dokumentarmaterial projiziert werden, gelegentlich kombiniert mit Voice-Overs, um sowohl die Narration als auch die nachweisbaren, dokumentierten Fakten von Ngobis Klage zu unterstreichen.

In einer Nation, die sich schon lange von allgemein anerkannten, unumstößlichen Fakten und Wahrheiten verabschiedet hat, nimmt Ngobis Klage das Publikum mit durch Jahre einer erschütternden, schäbigen Geschichte, zur Quelle, Natur, Anatomie und Diagnose des gescheiterten Staats, der sein Land ist. Dessen tödliches Leiden begann bereits wenige Jahre nach der politischen Unabhängigkeit oder der Fahnenunabhängigkeit. Die Aufführung beginnt mit einer Tonaufnahme von Ugandas erstem Premierminister Milton Obote, vermutlich kurz nachdem dieser die Insignien der Macht akzeptiert hat. Wichtiger als das, was er sagt, ist sein unausgesprochenes, letztendliches Ziel einer quasi monarchischen Lebenspräsidentschaft à la «L’État, c’est moi».

Kagayi Ngobi performt «For my negativity» (Foto: Kitara Nation)

Zwar mögen die Ludwig XIV. zugeschriebenen Worte apokryph sein, doch sollte sich Obote kurze Zeit später tatsächlich zum Präsidenten erklären, indem er die absolute Macht an sich riss. Die föderale, bei der Unabhängigkeit vereinbarte Verfassung steht im Mittelpunkt des Stücks. Sie wurde ersetzt durch eine, die die Parlamentsmitglieder in ihren Postfächern finden sollten. Jene, die Widerstand leisteten, wurden jahrelang ohne Gerichtsverhandlung inhaftiert. Kurze Zeit später befahl Obote der Armee, den Königspalast zu stürmen, was als die Schlacht um Mengo vom 24. Mai 1966 bekannt wurde. Der Kabaka (König von Buganda) war auch der gewählte Präsident und der einzige je Gewählte, selbst nachdem sein Leben ein allzu frühes tragisches Ende im Exil fand (1969). Der Tyrannei wurde Tür und Tor geöffnet, bevor sich Staub über die Ekstase von Selbstverwaltung und Unabhängigkeit legen konnte. Dies führt zu Ngobis unmissverständlicher Warnung: «Die Grundnorm steht zum Verkauf!».

Wenn es ein Problem mit der ursprünglichen, föderalen Verfassung gab, dann, dass sie in der Sprache des Kolonisators verfasst war und blieb, daher der greifbare Zorn des Dichters und seine ständige Verunglimpfung der englischen Königin, Ugandas ehemaliger Herrin. Es war in der Tat Großbritannien, welches das künstliche Land schuf, das nach dem zentralen, größten und wohlhabendsten Königreich und der Nation (B)Uganda benannt wurde. Der Kolonisator blieb durch Ugandas offizielle Verkehrssprache präsent; von daher die berechtigte Wut im Refrain, der sich durch viele der Gedichte zieht: «Dieses Land gehört Queen Elizabeth». Tatsache ist, dass diese räuberische Verletzung, Aufkündigung und Vernichtung der legitimen Verfassung das Konstrukt bereits in den Kinderschuhen aus seiner natürlichen Umlaufbahn warf und es sich seitdem wie ein verirrter Satellit um sich selbst dreht. Noch nie dagewesener Konflikt, physische und psychische Gewalt – und Entfremdung gegenüber den durch Zeit und Übereinkunft geprüften Sitten, Werten und Normen sind die herrschende, wenn auch absurde, verkehrte und schließlich eingebürgerte Logik.

Kagayi Ngobi in «For my negativity» (Foto: Kitara Nation)

Außer Mutesa hat jeder der «unkündbaren» Staatsoberhäupter den autoritären Griff nur verstärkt und dabei die Grenzen der Herrschaft des bewaffneten starken Mannes im Namen der Selbsterhaltung und Selbstverherrlichung stetig ausgeweitet.
«Öffne die Wunde und lasse den Eiter raus», bittet Ngobi sie alle und ihre Gefolgsleute. Zu den jüngsten Angriffen auf das Volk gehören die Steuern. Daher der Refrain: «Aber bevor ich für meine Entschuldigung besteuert werde.» Die gewaltige ökologische Zerstörung des Landes, die um sich greifende Korruption sind alle Teil des dichterischen Grabgesangs und seiner ironischen apologia. Das Verteilen von Zucker und Salz bei den grotesken politischen Kampagnen streut weiteres Salz in die Wunden des großen Volks und verleiht den Selbst-Fortsetzern eine Art rituelle Selbstbestätigung. «Zuschauerwarnung» für Wähler, gibt uns Ngobi sechs Mal zu verstehen.

Die Verfassung ist schon lang an das Kreuz genagelt, das der Dichter zusammen mit dem Mülleimer-Koffer trägt. Seine Kinder wünschen sich schon lange den Tod anstatt ihrer elenden Leben. «Gibt es einen Himmel für Korruption?», fragt er stellvertretend für sie am traditionellen Schrein.

Es gibt eine schwache Hoffnung, einen winzigen Funken und einen Hüftschwung, als er einige der Säulen der Integrität heraufbeschwört, die in Idi Amins Todesfeldern zu Grunde gingen: den Erzbischof und Märtyrer Luwum, den Obersten Richter Ben Kiwanuka und den Dramatiker Byron Kawadwa. Er ruft auch die Ahnen an und rühmt sie. Das Auftreten der Verschwundenen und sogar der legendären Lawino, deren Vater tatsächlich ein berühmter Krieger war, weist möglicherweise darauf hin, dass sich etwas rührt. Ngobi grüßt die Ahnen und geht anmutig tanzend und singend ab, vielleicht erfüllt mit ein bisschen Hoffnung.

 

Aus dem Englischen von Annette Bühler-Dietrich

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George Bwanika Seremba (Foto: Kathleen Lantos)

George Seremba hat einen MPhil und einen PhD in Theaterwissenschaften am Trinity College Dublin erworben. Er war Assistenzprofessor an der Case Western Reserve, USA, und hatte ein IWP-Stipendium an der Brown University (RI). Sein Essay «Myth, Mythopoeia and Robert Serumaga’s Majangwa» wurde von der der African Theatre Association (2017) veröffentlicht. Seremba ist auch Schauspieler und Dramatiker. Er trat in Irland, Kanada und den USA in Fernseh- und Kinofilmen auf. Er hat in zahlreichen Stücken mitgewirkt, darunter Athol Fugards The Blood knot, Master Harold and … «the boys» sowie in seinem autobiografischen Monolog Come Good Rain, für den er mit dem Dora Award für herausragende neue Stücke ausgezeichnet wurde. Seine Monographie: Robert Serumaga and the Golden Age of Uganda’s Theatre (1968-1978) wurde kürzlich von Cambridge Scholars Publishing in Großbritannien veröffentlicht. Seremba lebt seit Mitte der 80er Jahre in Kanada. Er hält weiterhin Vorträge und forscht, spielt und schreibt für das Theater.

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For My Negativity – Übersetzungsfragen

von Annette Bühler-Dietrich

 

Kagayi Ngobis Langgedicht For My Negativity liegt seinem Theaterstück für einen Performer, Musik, Tonaufnahmen und Projektionen zugrunde. Der Theatertext beinhaltet die Aussagen der Dichterfigur und Regieanweisungen, jedoch keine Transkripte der Radionachrichten.

Das Gedicht ist in freien Versen verfasst, die Hauptsprache Englisch mischt sich mit Formulierungen in Luganda und Lusoga. Sätze wie «I am sorry for my negativity/my melancholy…» sowie der abgeänderte Schwur aus der ugandischen Verfassung kehren wieder:

 

So, before I am taxed for my apology
Before you make me swear
This land belongs to Queen Elizabeth
For God to save my forsaken country
I am sorry
For my melancholy.

 

Aber bevor ich für meine Entschuldigung beschuldigt werde
Bevor ihr mich schwören lasst
Dieses Land gehört Queen Elizabeth
damit Gott mein verlorenes Land rettet
sorry
für meine Melancholie

 

Bezüge auf Ugandas gegenwärtige und vergangene Gesellschaft häufen sich im Stück – zum Beispiel Bezüge auf die Flagge, korrupte Politiker, Street Food, Literatur. All dies geschieht in einer manchmal gereimten Sprache, die mit poetischen Bildern, Alliterationen und Anaphern, Inversionen und verdichteter Wortstellung arbeitet. Manche Begriffe erschließen sich erst beim wiederholten Lesen und Betrachten des Stücks und seiner Aufführung. Kagayis Kampf mit dem Englischen, «Because I hate this English language too –», macht die ehemalige Kolonialsprache zu einer Sprache, die der Dichter abändern kann. Nicht das Standardenglisch soll hier gesprochen werden. Um die Vorherrschaft des Englischen zu brechen, fügt der Dichter Wörter und Sätze in Nationalsprachen ein, die vom lokalen Publikum, nicht jedoch von den Zuschauer*innen in Köln verstanden werden. Trotzdem bestand er darauf, diese Zeilen im Original zu belassen. Wörter wie «tebawuliriza» werden im Text auf Englisch wiederholt «they do not listen», «sie hören nicht zu», und können so wie manch andere Wörter aus der direkten Übersetzung oder dem Kontext erschlossen werden. Da sie in beiden Sprachen vorkommen, kann der Text mit Länge und Klang, aber auch mit unterschiedlichen Formen von Adressierung spielen.

Für die Übersetzung mussten zuerst die Bezüge auf die ugandische Geschichte und Gesellschaft erhellt werden. Hierfür war George Serembas Kenntnis der Sprachen, Kultur und Geschichte unerlässlich. Als die Bezüge klar waren, ging es mir zunächst vor allem darum, den Rhythmus des Textes und die Länge der Verse zu erhalten – weil es sich um Lyrik handelt, aber auch weil die Übertitel mit dem Ablauf der Aufführung harmonieren sollten. Die Möglichkeit von Wortschöpfungen im Deutschen und die flexible deutsche Wortstellung unterstützten dieses Ziel.

Kagayi Ngobi performt «For my negativity» (Foto: Jackson)

Kagayis Satz «I am sorry for my negativity» war ein größeres Problem, denn ich fand keine passende deutsche Entsprechung. Schließlich entschied ich mich für «sorry», heutzutage ein im Deutschen häufig verwendeter Anglizismus. «Negativity» blieb schließlich «Negativität». Im Englischen klingt dies etwas gestelzt und im Deutschen ebenfalls. Gespräche mit dem Autor ließen erkennen, dass diese Gestelztheit Absicht war: Leute hatten ihn beschuldigt, in seiner Lyrik zu negativ zu sein – als ob die Negativität des Dichters das gesellschaftliche Problem sei und nicht all die anderen Übel, die er im Stück anspricht.

Finanzielle Angelegenheiten – der Verkauf der Verfassung, der Korruptionshimmel, die Prekarität der Lebensbedingungen in den Slums von Bwaise, weil alle nationalen Ressourcen privatisiert wurden – ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Stück. Wenn der Dichter also sagt «Before I am taxed for my apology», kann man beides hören, «Bevor ich für meine Entschuldigung beschuldigt werde» oder «Bevor ich für meine Entschuldigung besteuert werde». Eine Möglichkeit der Übersetzung ist es, zwischen beiden Varianten zu wechseln.

Ein anderer Strang ist Kagayis intertextuelle Referenz auf die Bibel, ein Bezug, den er auf der Bildebene unterstützt, wenn er als christusgleiche Figur die gekreuzigte Verfassung trägt. Während der Inszenierung wird das Kreuz zum Gewehr, und der Bezug auf den Missbrauch des Christentums in einem Land, das für seinen religiösen Fundamentalismus bekannt ist, wird ersetzt durch eine Hinwendung zum traditionellen Gott: «Dear Moulder, creator of all things.» George Seremba bemerkt, dass in Lusoga das Wort für «moulder» für das Göttliche verwendet wird. Im Deutschen machte mir dieses Wort Schwierigkeiten. Für die endgültige Fassung der Übersetzung denke ich jetzt an «Erschaffer». Alle Substantive aus dem Bereich der Bearbeitung von Ton – Kneter, Töpferer, Former – klingen im Deutschen falsch. Auch die Art der Anrede galt es zu bewahren. Daher behielt ich den gehobenen Stil des Englischen bei.

 

For our politicians,
I come to you,
Giver of good health;
To tell you of your children
Left in villages asking
The fire of Jjajja ssalongo
A difficult answer
To a simple question
I ask you on their behalf:

Is there a heaven for corruption?

 

Wegen unserer Politiker
komme ich zu dir
Gesundheitsstifter
um dir von deinen Kindern zu berichten
zurückgelassen in Dörfern
mit einer Frage an
Jjajja Salongos Feuer
nach einer schwierigen Antwort
auf eine einfache Frage
ich frage für sie:

Gibt es einen Himmel für Korruption?

 

Schließlich ließen sich manche Bezüge wie die «sugar-and-salt-giveaway-ceremony» (vgl. Seremba) oder die essbare «rolex of orature» nur durch den Kontext entschlüsseln: Eine Rolex ist ein populäres Street Food in Kampala. Am Ende war das Schwierigste, den Textfluss beizubehalten, der sich auch auf Hip-Hop und andere Musikformen bezieht.

 

Doom glides in a centipede,
Terror flies in a vulture,
Fear manifests in a snail trail,
The signs of a fox tail-shed
Have ripened our Fate

 

Verhängnis tausendfüßelt dahin
Terror im Geierflug
Furcht im Schneckengang
Die Zeichen eines schwanzlosen Fuchses
haben unser Schicksal reifen lassen

 

Während Kagayi die Balance zwischen Rhythmus, Reim, Umgangssprache und gehobenem Stil hält, bemühte ich mich selbst darum, nicht zu sehr nach Friedrich Hölderlins später Lyrik zu klingen. Doch mag es zwischen dem «wahnsinnigen» revolutionären Dichter des frühen 19. Jahrhunderts und Kagayis wahnsinnigem Dichter durchaus Gemeinsamkeiten geben.

 

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Annette Bühler-Dietrich (Foto: privat)

Annette Bühler-Dietrich übersetzt vor allem französischsprachige Theaterstücke und Prosa afrikanischer Autor*innen, darunter Hakim Bah, Raharimanana, Aristide Tarnagda und Sami Tchak. Das auf der Basis ihrer Übersetzung erstellte Hörspiel Pisten … von Penda Diouf wurde von der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste zum Hörspiel des Jahres 2022 ernannt (Regie Christine Nagel). 2021 stand ihre Übersetzung Zurückkehren des Romans Revenir von Raharimanana auf der Longlist des Prix Première. Sie ist außerplanmäßige Professorin an der Universität Stuttgart und forscht vor allem zu deutschsprachigem und frankophonem Drama und Theater.

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