africologne (12): Marie Yan über drei künstlerische Kollektivarbeiten Repräsentieren und künstlerisch Arbeiten unter ungleichen Vorzeichen

Publikumsgespräch nach der Aufführung «The Ghosts are returning» des Kollektivs 50:50 (vlnr: Annette Bühler-Dietrich, Christiane Tabaro, Eva-Maria Bertschy, Elia Rediger, Franck Moka (Foto: Marie Yan)

Africologne hat in diesem Jahr drei Produktionen eingeladen, die aus der Zusammenarbeit zwischen europäischen und afrikanischen Künstler*innen entstanden sind: Swap Families, The ghosts are returning und Dialaw-Project.
Diese drei Produktionen haben mehrere Gemeinsamkeiten: die Verwendung von dokumentarischen Bildern und Aussagen, kollektive Arbeitsprozesse und Erzählungen, die mit postkolonialen Kontexten verbunden sind. In diesem Text interessiere ich mich dafür, inwieweit jede einzelne Produktion die Auswirkungen dieser Beziehungen auf ihren Arbeitsprozess und die fertige Aufführung bedacht hat – oder eben nicht. Ich gebe hier einen kurzen Überblick.

SWAP FAMILIES von FUTUR3 (Köln, Deutschland) & EX-PARA-MENTAL (Kumasi, Ghana).

Das im Raum verstreute Publikum betrachtet eine Ausstellung von Alltagsgegenständen. Ein daneben angebrachtes Kärtchen gibt uns Aufschluss über ihre Herkunft und, kurz zusammengefasst, über ihre sentimentale Bedeutung. Bald werden uns diese Geschichten erzählt, ohne dass irgendwelche Marker darauf hinweisen würden, ob sie aus Deutschland oder Ghana stammen. Die gesamte Produktion verläuft mit mehreren rührenden Momenten nach diesem Prinzip und führt dann die Geschichte der Ansiedlung deutscher Siedler in der Volta Region ein. Wir hören, dass die Eltern der einheimischen Bevölkerungsgruppen in dieser Region äußerst stolz darauf waren, dass die Deutschen ihnen bestimmte handwerkliche Fertigkeiten vermittelt hatten. Eine rassistische Mythologie der technischen Errungenschaften der Kolonialisierung, die jedoch im weiteren Verlauf der Performance metaphorisch besiegt wird, indem der mit Gold überzogene Künstler und Akademiker Bernard Akoi-Jackson Elemente seiner eigenen Performances wiederverwendet, darunter die Säge aus Untitled: How to Usher the [an] African fully into [His]tory… (2016), um eine Tafel Schokolade zu zerschneiden, die er dann im Publikum verteilt. Diese Geste ist eine Anspielung auf die Teilung Afrikas während der Berliner Konferenz und die Verteilung seiner Ressourcen an die kolonisierenden Nationen. Damit kehrt der Künstler die Vorstellung um, diese Anekdote könnte die grundlegende Ungerechtigkeit der Kolonialisierung auslöschen.
Die hervorstechendste Frage in dieser Produktion ist für mich die des Ausgangspunkts. Warum reproduziert man etwas, und sei es auch nur in Ansätzen, um es dann wieder zu dekonstruieren? Der Titel und der ursprüngliche Rahmen der Performance scheinen verhindert zu haben, dass durch die künstlerische Zusammenarbeit überkommene Vorstellungen tatsächlich erneuert wurden. Warum beruft man sich auf horizontalen «Kulturaustausch», wenn doch die Bedingungen ungleich sind, und auf die Vorstellungswelten der (neo)kolonialen Beziehung, die man kritisieren möchte? Die ausufernde und zersplitterte Dramaturgie der Arbeit, sehr postdramatisch in ihren Codes im Dienste einer Kritik an der Möglichkeit eines «Swaps» an sich, hätte vielleicht zu interessanteren Entdeckungen geführt.

DIALAW-PROJECT von Mikaël Serre / Germaine Acogny.

Thema: Die École des Sables und das Dorf Toubab Dialaw im Senegal werden von einem Hafenprojekt bedroht. Befürworter*innen und Gegner*innen des Projekts geraten inmitten der Irrungen und Wirrungen von Besucher*innen und den Berichten der Bewohner*innen aneinander.

Als ich eine*n der Schauspieler*innen und Mitautor*innen des Textes von Dialaw-Project sagen höre, dass sich der Regisseur Mikaël Serre mehr für Problematiken als für Worte interessiert, verstehe ich, warum der Text das größte Manko der Aufführung ist [1]. Der kollektive Arbeitsprozess hat den Schauspieler*innen als Autor*innen ihrer Figuren viel Platz eingeräumt. Leider gelingt es durch diesen Prozess nicht, die ungeheure Dimension seiner Geschichte wirklich zu erfassen, auch wenn die szenische Umsetzung im Bühnenraum ansonsten äußerst gut funktioniert. So besteht beispielsweise eine bewusste ästhetische Kluft zwischen der poetischen Prosa von Germaine Acogny und den übrigen Figuren, die sich nur schwer überbrücken lässt.

Die Lösung dafür wäre nicht die Rückkehr zu einem stärkeren Zugriff durch den Regisseur oder eines*einer einzelnen Autor*in gewesen, sondern vielleicht ein differenzierterer, ja sogar realerer Ausdruck dessen, was die einzelnen Figuren mit Toubab Dialaw verbindet. Sie sagen lediglich in äußerst wenigen Worten, was sie mit diesem Ort verbindet, ihre Dialoge klingen ein wenig abgehoben, auf der Suche nach einer Aussage. Und dies, obwohl die Geschichte des Hafenprojekts, das die École des Sables bedroht, das tatsächliche Ausmaß einer Tragödie hat. Wie eine autoritäre Interpretation des Fortschritts im Dienste der Globalisierung einen Ort zerstören will, der bereits seine eigene Interpretation besitzt, die von einem Gedächtnis und einer Menschlichkeit genährt wird, für die die École des Sables eines der Symbole ist. Zwei nach außen gerichtete Bewegungen, von denen eine jedoch aufgezwungen und die andere geduldig ist. Die projizierten Bilder der Bewohner von Toubab Dialaw erhalten weitaus mehr Gewicht als die Figuren.

Mit Ausnahme von Germaine Acogny, denn ihre Worte als Figur haben das Gewicht ihrer Geschichte, die bekannt ist und außerhalb der Bühne stattfindet. Die anderen Darsteller*innen bleiben für mich relativ unscharf. Einige von ihnen nehmen sogar eine rückwärtsgewandte Wendung, wie der von Selbsttäuschung geprägte Monolog der Figur Iris. Sie behauptet, dass es auf der Sklaveninsel Gorée keine Sklavenhalterinnen gab, obwohl dies erwiesen ist, und scheint das universelle Leid der Frauen und das Leid der versklavten Völker, einschließlich der Schwarzen Afrikaner*innen auf dieselbe Stufe zu stellen. Ein von der zweiten Welle des weißen Feminismus der 1960er Jahre ererbter Diskurs, der jedoch durch den Afrofeminismus und den intersektionalen Feminismus dekonstruiert wurde. Aus einer gleichberechtigten Herangehensweise an die Sprache der Interpret*innen und einer ersten Zusammenarbeit entsteht eine Geschichte, die trotz ihres gewaltigen Potenzials schlecht umgesetzt wurde. Vielleicht wird der zweite Teil eine positive Überraschung.

«The Ghosts are returning» (Foto: Susanne Diesner)

THE GHOSTS ARE RETURNING von dem Kollektiv Group50:50

Das Musiktheaterstück ist ein großer Erfolg. Die Recherchen des Kollektivs zu der Geschichte von sieben Leichnamen des Mbuti-Volkes, die von einem Schweizer Arzt exhumiert und gestohlen wurden und nun an der Universität Genf aufbewahrt werden, wird durch eine äußerst präzise Dramaturgie zwischen dokumentarischen Bildern, Erzähltexten und Musik gestützt. Von Anfang an wird jede*r Darsteller*in durch eine Reihe von Fragen verortet, die mit «Wie würdest du gerne beerdigt werden?» endet. Dadurch wird die Geschichte, die gerade beginnt, für jede*n noch präsenter. Der Tod als Ausgangspunkt, der aber nichts gleich macht, sondern im Gegenteil zum Schrecken der Beziehung zwischen Kolonialherren und Kolonisierten wird.

Das Kollektiv 50:50, das The Ghosts are returning erarbeitet hat, ist sowohl Kollektiv als auch Produktionsstruktur und verknüpft bewusst Arbeitsbedingungen und künstlerische Entscheidungsfindung durch eine Art Satzung. Diese legt beispielsweise fest, dass die Konzepte der Projekte gemeinsam entwickelt werden müssen, dass mindestens 50 % der Künstler*innen in einem afrikanischen Land leben müssen und dass auch 50 % der Gagen an sie gehen sollen. Diese Satzung entstand nach mehreren Projekten mit unterschiedlichen Künstler*innen in unterschiedlichen Kombinationen. Die Zeit und die erneute Zusammenarbeit mit denselben Akteur*innen scheinen ein wichtiger Impulsgeber für die Bewusstwerdung der Schieflagen in diesem transnationalen Projekt gewesen zu sein und erklären seinen Erfolg, der immer wieder auf Messers Schneide steht und das Risiko einer hauptsächlich musikalischen Ästhetik eingeht, die sich voll und ganz der Ungerechtigkeit bemächtigt und sie lautstark anprangert.

WIE GEHT ES WEITER?
Alle drei Kollaborationen waren Versuche, sich als Künstler*innen zu begegnen. Die daraus resultierenden Einsichten und Schlussfolgerungen, die Art und Weise, wie ungleiche Verhältnisse auf und neben der Bühne ins Gleichgewicht gebracht werden können, kann die Zeit vertiefen, wenn es dazu Gelegenheit gibt. Die Zeit und ein scharfer Blick auf diese ungleichen Verhältnisse.

 

 

[1] Dieser Artikel wurde am 15.06.23 geändert, um das Zitat und seine irrtümliche Zuschreibung an den Schauspieler und Autor Hamidou Anne zu berichtigen.

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

Marie Yan (c) Yan Ho

Marie Yan ist eine mehrsprachige Autorin und Dramaturgin. Sie schreibt auf Französisch und Englisch, spricht Deutsch, lernt Kantonesisch. Die Welten, die sie entwirft, stützen sich auf dokumentarisches Material und spekulative Fiktion. Sie hat über Grenzen (Ich muss rüber, Auftrag des Theaters Eskişehir, 2019), Verschwörungstheorien (La Théorie, Festival Impatience, Paris, 2021), die drohende Klima-Katastrophe und das Anwachsen des Autoritarismus (A Tidal Home, Hong-Kong, 2021) geschrieben. Ihr laufendes Projekt Minotaurus oder das Kind im Labyrinth, nach Dürrenmatt, beschäftigt sich mit der Inhaftierung von Minderjährigen in Frankreich in Zusammenarbeit mit Theatergruppe Lou Pantail. Für ihr erstes Stück The Fog wurde sie mit dem Mary Leishman Preis ausgezeichnet, für ihren demnächst erscheinenden Essay Hong Kong: Struggling home erhielt sie ein Grenzgänger-Stipendium. Sie arbeitet zwischen Frankreich und Deutschland.

www.marieyan.com

@_marie_yan (IG)

 

Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

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