africologne (9): Marie Yan über den fünften Festivaltag Gewalt und Widerstand: Untersuchung eines “und”

Podiumsdiskussion über künstlerische Ethik mit (vlnr.) Annette Bühler-Dietrich, Kagayi Ngobi, Aristide Tarnagda, Odile Sankara und Valentine Cohen (Foto: Marie Yan)

von Marie Yan

 

«Gewalt und Widerstand». Der Titel der Diskussionsreihe, die an diesem fünften Tag africologne eröffnet wird, vermittelt den Eindruck, dass hier etwas fehlt. Gewalt «und» Widerstand. Die Konjunktion «und» liefert nicht wirklich den Schlüssel zur Diskussion. Wird hier über die erduldete Gewalt gesprochen, die zum Widerstand führt? Über den Status der Gewalt, je nachdem, ob sie sich gegen die Unterdrückten oder die Unterdrücker*innen richtet?

Diese etwas unklare Ausrichtung erklärt vermutlich die ein wenig unzusammenhängende Diskussion mit dem Ingenieur Jörg Lange, der vom ISGS (Islamischer Staat in der Größeren Sahara) als Geisel festgehalten und 2022 freigelassen wurde. Seine Aussage zum Thema «Gewalt und Widerstand im Sahel» wirft ein indirektes Licht auf die terroristischen Praktiken der bewaffneten islamistischen Gruppierung. Und wird manchmal unerträglich. Dies wirft die Frage auf: Wie kann man die ungefilterte Erzählung eines Opfers und eines Zeugen furchtbarer Gewalt öffentlich machen? Das Fehlen einer geopolitischen Kontextualisierung der Herausforderungen dieser Diskussion führt leider dazu, dass Jörg Langes Aussage und die Lesung eines Auszugs aus L’Ingérence, einem Stück des burkinischen Autors Justin Stanislas Drabo, in eine unangenehme Unschärfe geraten. Die vielfachen Ursprünge des Phänomens islamistischer Terror im Sahel werden letztlich nicht geklärt und laufen sogar Gefahr, zu vereinfachenden Diskursen beizutragen, die sich lediglich auf seinen religiösen Aspekt konzentrieren. Von «Gewalt und Widerstand» wurde nur die Oberfläche des ersten Begriffs angekratzt.

Die anschließende Aufführung von Terre Ceinte, eine Adaption des gleichnamigen Romans des senegalesischen Autors Mohamed Mbougar Sarr, ist im Gegensatz dazu eine lange Analyse des Widerstands. Wie er entsteht, was er fordert. Der Regisseur Aristide Tarnagda, Schirmherr dieser Ausgabe von africologne und Leiter des Partnerfestivals Les Récréâtrales in Ouagadougou, hat sich mit einer Truppe von sieben Schauspieler*innen umgeben, darunter die Theaterlegende Odile Sankara, die übrigens im Vorfeld des Festivals einen Essay mit dem Titel «Sinn schaffen» für PLATEFORME verfasst hat. Das Stück erzählt davon, wie sich das fiktive Dorf Kalep gegen die Brüderschaft erhebt, eine bewaffnete islamistische Gruppierung, die unter dem Vorwand, Gerechtigkeit zu üben, ein junges Paar ermordet hat, das vorehelichen Geschlechtsverkehr hatte.

Szene aus Aristide Tarnagdas Inszenierung von «Terre Ceinte» (Foto: Sophie Garcia)

Die in Terre Ceinte beschriebene Beziehung zwischen Gewalt und Widerstand verleiht der nicht ausreichend aussagekräftigen Konjunktion «und», vielfältige Formen und Schattierungen. Auf einer in Schatten getauchten Bühne leuchten die blauen Schleier von Aïssata, der Mutter von Aïda, der getöteten jungen Frau, und der von Sadobo, der Mutter von Lamine, dem getöteten jungen Mann, in geteilter Einsamkeit auf. Sie schreiben einander: «Ich verstehe nicht, warum dieselben Leute, die dem Tod unserer Kinder zusahen, verhindert haben, dass diese Frau geschlagen wurde. […] Wie konnte dieses Volk, das getötet hat, sich auflehnen?». Widerstand ist ein langsamer und widersprüchlicher Positionierungsprozess. Eine Veränderung, die von einem Übermaß privater und kollektiver Strafen ausgelöst wird. Die Redakteur*innen einer illegalen Zeitung streiten sich: «- Dieses Volk war mitschuldig. – Wer war es nicht durch sein Schweigen in dem einen oder anderen Moment?». Bald werden die Bewohner*innen Kaleps von Kompliz*innen zu Aufständischen

Das Stück übernimmt unverändert die Dialoge aus dem Roman. Die Wortwechsel wirken oft wie rhetorische Wettstreite, doch verwandelt das energiegeladene, engagierte (jedoch nicht sehr variationsreiche) Spiel der Schauspieler*innen den Text in einen utopischen Raum der Sprache. Trotz des Terrors und der Trauer gelingt es den Bewohner*innen, sich auf widersprüchliche und bewundernswerte Weise über die Ursachen und Konsequenzen ihrer Handlungen, über die Ethik des Blicks auf das Leiden, über das Recht auf Verzweiflung, Schwäche und Abkehr von der Welt auszutauschen. Terre Ceinte wird durch die Dominanz der Sprache, die von Anfang bis Ende trägt, und durch die Figuren, die selbst schreiben, beinahe zu einem heimlichen Porträt des Künstlers, der schreibt, um sich der Gewalt und dem Wahnsinn entgegenzustellen. Schließlich wird «die Zukunft (…) davon abhängen, was jeder Mensch aus seinem Gewissen, seiner Verantwortung und seiner Freiheit macht.»

Aristide Tarnagda und seine Truppe entscheiden sich im Gegensatz zum Autor des Romans für ein Ende, das einen Kampf mit ungewissem Ausgang eröffnet. Eine Entscheidung, die vielleicht durch die Entstehungsumstände der in Burkina Faso uraufgeführten Produktion motiviert ist, wo sich die Frage des Widerstands gegen bewaffnete Gruppen in Ermangelung eines wirksamen staatlichen Schutzes unmittelbar stellt.[3] Ein großer Teil des Publikums in der Alten Feuerwache, wo die Aufführung stattfindet, würdigt die Aufführung mit standing ovations.

Odile Sankara in «Terre Ceinte» (Foto: Sophie Garcia)

Es ist bereits 21:30 Uhr, als eine neue Diskussion zum selben Thema wie die erste dieses Tages beginnt, diesmal mit den eingeladenen Künstler*innen des Festivals: Valentine Cohen, Kagayi Ngobi, Odile Sankara und Aristide Tarnagda. In einer zweisprachigen Gesprächsanordnung zwischen Französisch und Englisch, begleitet von der Übersetzerin Annette Bühler-Dietrich, folgen die Beiträge aufeinander, und jede*r Teilnehmer*in beantwortet die Fragen des Moderators Frank Weigand zu ihrer*seiner künstlerischen Ethik im Umgang mit Gewalt.

Aristide Tarnagda berichtet, wie wichtig es für ihn war, einen Text zu finden, der bereits eine Distanz zum plötzlichen Gewaltausbruch in Burkina Faso hatte, die ihm selbst nicht möglich war. Anknüpfend an einen der Monologe in Terre Ceinte, in dem die Unberechenbarkeit des Volkes thematisiert wird, beantwortet er die Frage nach dem tatsächlichen Einfluss des Theaters auf die Möglichkeiten von Widerstand wie folgt: «Es ist die ganze Komplexität einer Kunst, die das Geschehen um sich herum aufsaugt. Wenn die Revolution zwanzig Jahre später kommt, wissen wir nicht, was in den Herzen, in den Seelen der Menschen passiert, die einen Theatermoment mit uns geteilt haben.»

Odile Sankara beschreibt im Anschluss daran, wie vielfältig Gewalt ist und wie die Kunst weniger offensichtliche Erscheinungsformen zum Ausdruck bringen kann: «Die Gewalt, die in Terre Ceinte angesprochen wird, ist das, was wir derzeit erleben. Es ist die Radikalität, die diese terroristische Gewalt hervorbringt. Aber ich glaube, dass es andere Formen der Gewalt gibt, die im Gedächtnis der Menschheit nicht sichtbar sind und die besonders Frauen erleben. […] Frauen sind viel häufiger Überlebende. Sie fliehen mit den Kindern und stehen am Ende mit nichts da. Jedes Mal, wenn ich die Bühne betrete, erinnere ich mich daran, dass sie da draußen in der Stille sind und leiden. Ich trage die Summe von Millionen von Frauen in mir und genau das gibt mir diese Energie».

Der ugandische Dichter und Performer Kagayi Ngobi, der unter der ständigen Gefahr arbeitet, inhaftiert zu werden: «Die Geschichte ist wichtiger als der Geschichtenerzähler. Meine Sicherheit ist nicht so wichtig wie meine Stimme. […] Ich denke, die schlimmste Gewalt, die ein Geschichtenerzähler seiner Gesellschaft zufügen kann, besteht darin, seine eigene Geschichte zu verschweigen.»

Ein Gedanke, den die französische Regisseurin Valentine Cohen aufgreift, als sie ihrerseits bekräftigt: «Meine Verantwortung ist viel größer als ich.»

«Gewalt und Widerstand». Von der Erfahrung des ersten Begriffes zum zweiten scheint dieser Tag zu dem Schluss zu kommen, dass die Wege uneben und voller Hindernisse sind. Dass es keine Helden oder Heldinnen gibt, sondern lediglich Entscheidungen, die in den Winkeln des Gewissens getroffen werden, manchmal Zufallsbegegnungen, paradoxe Veränderungen, schwieriges, aber lebenswichtiges Teilen. Was die Gewalt betrifft, so haben wir gesehen, dass sie den Raum verbrennt, in dem sie erzählt wird, und der Raum, der sie aufnimmt, trägt die große Verantwortung, ihr weder zu dienen noch sie zu verbergen.

Aus dem Französischen von Frank Weigand

Marie Yan (Foto: (c) Yan Ho)

Marie Yan ist eine mehrsprachige Autorin und Dramaturgin. Sie schreibt auf Französisch und Englisch, spricht Deutsch, lernt Kantonesisch. Die Welten, die sie entwirft, stützen sich auf dokumentarisches Material und spekulative Fiktion. Sie hat über Grenzen (Ich muss rüber, Auftrag des Theaters Eskişehir, 2019), Verschwörungstheorien (La Théorie, Festival Impatience, Paris, 2021), die drohende Klima-Katastrophe und das Anwachsen des Autoritarismus (A Tidal Home, Hong-Kong, 2021) geschrieben. Ihr laufendes Projekt Minotaurus oder das Kind im Labyrinth, nach Dürrenmatt, beschäftigt sich mit der Inhaftierung von Minderjährigen in Frankreich in Zusammenarbeit mit Theatergruppe Lou Pantail. Für ihr erstes Stück The Fog wurde sie mit dem Mary Leishman Preis ausgezeichnet, für ihren demnächst erscheinenden Essay Hong Kong: Struggling home erhielt sie ein Grenzgänger-Stipendium. Sie arbeitet zwischen Frankreich und Deutschland.

www.marieyan.com

@_marie_yan (IG)

 

 

 

Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

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