Alexis Diamond Den Graben überwinden

Ich bin in zwei Sprachen aufgewachsen. Englisch, der Sprache meines Elternhauses, und Französisch, der Sprache, die ich in der Schule lernte. Zwischen beiden erstreckt sich ein tiefer Graben, den man in Québec als Sprachpolitik bezeichnet. Das Englische, die Sprache der Eroberer, steht hier, historisch bedingt, für kulturelle Unterdrückung und die Durchsetzung von Territorialansprüchen.

Sobald ich also in meiner Heimatprovinz, in der meine Familie seit fünf Generationen lebt, den Mund aufmache, werde ich als Vertreterin der Unterdrücker behandelt, und nicht als Nachfahrin unterdrückter osteuropäischer Jüdinnen und Juden. Es ist absurd, in Québec, der einzigen französischsprachigen Provinz Kanadas, bin ich doppelt in der Minderheit. Durch meine Herkunft und meine Zugehörigkeit zur englischsprachigen Bevölkerung.

Ein Symbol dieser Absurdität ist das vom Québecer Bildungsministerium ausgestellte Zeugnis, das mir muttersprachliche Französischkenntnisse bescheinigt. Doch es stimmt nicht, mein Französisch ist ein wildes Sammelsurium von Gelerntem, verdauten Texten und Errungenschaften aus dem Lexikon, gewürzt mit zufällig aufgeschnappten Ausdrücken und Übersetzungen aus dem Englischen.

Eine Muttersprache kann man nicht lernen. Sie wird im Leib und durch den Atem der Mutter weitergegeben. Doch schon als Kind hätte ich mir das Québecer Französisch als Muttersprache gewünscht.

Es ist eine kraftvolle, poetische, raue, stilisierte, bildreiche, tief verwurzelte, ergreifende und unanständige Sprache, archaisch und zeitgenössisch, literarisch und umgangssprachlich zugleich. Diese Sprache habe ich erst wirklich im Theater gelernt. Und zwar nicht das Französisch aus der Schule oder aus dem staatlichen Radio. Es war etwas Lebendiges, Pulsierendes, das mich mit seiner vertrauten Fremdheit anzog. Ich kannte diese Sprache, obwohl ich sie so noch nie zuvor gehört hatte.

So wurde meine Arbeit als Übersetzerin für mich zu einer Brücke in die Québecer Theaterpraxis.

Wenn ich auf Englisch schreibe, fällt es mir schwer, die Konventionen von realistischem Dialog und Szenenanweisungen hinter mir zu lassen, um mich offenen Strukturen und Metaphern hinzugeben. Anscheinend kann ich das nur, wenn ich Libretti verfasse oder eben auf Französisch schreibe. Ästhetisch habe ich meine wahre Heimat irgendwo zwischen diesen beiden Theatertraditionen gefunden, zwischen dem englischsprachigen Theater, das offen und unverblümt Probleme und ethische Fragen anspricht, und dem französischsprachigen Theater, das sich stärker in Metaphern ausdrückt.

Auf Französisch bin ich eine andere, ein bisschen tapferer, ein bisschen witziger, ein bisschen unverschämter. Das muss ich auch, denn jedes Mal, wenn ich zu sprechen beginne, fühlt es sich an wie ein Risiko. Als würde ich aus einem Flugzeug springen, ohne davor meinen Fallschirm zu überprüfen, mich im Dunklen an einem Ort vorantasten, den ich mir bei meinem ersten Besuch nicht genügend eingeprägt habe.

Vielleicht habe ich mich auf Umwegen trotzdem selbst gefunden. Vielleicht gibt es für die von der Sprachpolitik verursachten Konflikte doch eine winzige Lösung durch meine Versuche, den Riss oder auch Bruch zwischen diesen beiden Sprachen und Kulturen und ihrer halb-inzestuösen Hassliebe zu heilen. Das zu beschreiben ist vielleicht ein erster Schritt dahin, es auch leben zu können.

 

 

(c) Ron Diamond

Alexis Diamond ist Dramatikerin, Autorin von Libretti für Opern und Musicals, Übersetzerin und Kuratorin. Sie arbeitet auf beiden Seiten der Montréaler Sprachgrenze. Ihre Übersetzungen von Pascal Brullemans’ Theaterstücken «Amaryllis» und «Little Witch» waren 2020 für den Governor General’s Award nominiert.

 

Aus dem Englischen von Frank Weigand. Dieser Text erschien ursprünglich in Theater der Zeit Spezial: Kanada, September 2021.

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