Antoine Palévody und Jean-Louis Besson über die gemeinsame Arbeit an dem Stück «Vereinte Nationen» von Clemens J. Setz Praktische Pädagogik

Der Autor Clemens J. Setz (Foto: Max Zerrahn)

Im zweiten Teil unserer Reihe zum Thema übersetzerische Kollaborationen sprechen Antoine Palévody und Jean-Louis Besson über ihre Arbeit an dem Stück «Vereinte Nationen» von dem österreichischen Dramatiker und Romancier Clemens J. Setz im Rahmen eines Mentoratsprojekts. Jenseits traditioneller Lehrer-Schüler-Rollen beschreiben sie die Entwicklung ihrer Arbeitsmethode, reflektieren über Erfahrungsunterschiede und unterschiedliche Sensibilitäten und brechen eine Lanze für das zeitlich ineffiziente Übersetzen im ständigen Dialog.

 

Jean-Louis Besson:

Ende 2022 beschloss die Maison Antoine Vitez, das französische Zentrum für internationale Theaterübersetzung,  ihren Beitrag zur Ausbildung von jungen Übersetzerinnen und Übersetzern zu leisten. Ziel war es, ihnen die Gelegenheit zu bieten, in der einen oder anderen Form mit erfahrenen Übersetzern oder Übersetzerinnen zusammenzuarbeiten. In diesem Rahmen wurde mir angeboten, als «Mentor» (so der gewählte Begriff) von Antoine bei der Übersetzung von «Vereinte Nationen» zu fungieren. Clemens Setz ist ein Autor, für den sich das deutsche Komitee bereits seit einiger Zeit interessiert, und so war die Idee entstanden, vier Stücke des Dramatikers jeweils zu zweit zu übersetzen. Das «Mentorat» fand also auf natürliche Art und Weise seinen Platz in diesem Projekt.

Ich habe schon lange Erfahrung mit vierhändigen Übersetzungen, sei es mit Jean Jourdheuil (K. Valentin, G. Büchner, H. Müller, H. v. Kleist…), Heinz Schwarzinger (J. N. Nestroy, K. Kraus) René Loyon (E. Bond) oder Hélène Kuntz (G.E. Lessing), doch wäre ich nie auf die Idee gekommen, dies zu einem Ausbildungszweck zu tun.

In «Vereinte Nationen» verkaufen Eltern im Internet Videos, die den Vater bei der Züchtigung seiner Tochter zeigen. Das bitterböse Stück zeigt all die Strategien, die die Figuren ersinnen, um sich mit der Realität zu arrangieren. Es ist effizient und rhythmisch geschrieben und entfaltet eine komplexe Dramaturgie, die nichts dem Zufall überlässt. Setz gehört zu jenen österreichischen Autoren und Autorinnen, die verstören, weil sie auf gleichermaßen witzige und brutale Art und Weise die Gemeinheiten, die Niedertracht und die schmutzigen Triebe aufdecken, die untergründig das gesellschaftliche Miteinander prägen. Die Dialoge sind lebendig und geistreich, und die Figuren, die einer Galerie von modernen Sittengemälden entliehen scheinen, weisen dennoch Abweichungen auf, die sie seltsam und erstaunlich machen und sowohl unsere Abneigung als auch unsere Neugierde wecken. Diese Seltsamkeit zu übersetzen, die hinter der scheinbaren Alltäglichkeit des gesprochenen Wortes durchscheint, stellt für einen jungen Übersetzer eine wertvolle Übung in Aufmerksamkeit und Feingefühl dar.

Antoine und ich mussten uns zunächst auf einen gemeinsamen Ansatz, eine gemeinsame Methode verständigen. Ich schlug ihm vor, so vorzugehen, wie es früher in den Werkstätten der Maler üblich war: Man lernt nicht nur, indem man zuschaut oder Entwürfe macht, die der «Meister» korrigiert, sondern steigt von Anfang an direkt in die Materie ein. Man arbeitet zusammen, ohne besondere pädagogische Ziele, aber mit der Überzeugung, dass die gemeinsame praktische Arbeit eine lehrreiche Dimension hat. Ich bin davon überzeugt, dass man Theaterübersetzen nicht auf der Grundlage einer «Grammatik» lernt, einer Reihe von anerkannten Regeln oder Verfahren, die angeblich für das Schreiben für die Bühne geeignet sind. Zum Beweis: Keine zwei Übersetzungen gleichen sich (es sei denn, es handelt sich um Plagiate).

Das Wesentliche liegt in der Herangehensweise: Es gilt, seine eigene künstlerische Sensibilität in Bezug auf den Originaltext zu entwickeln, die Sprache so lange zu bearbeiten, bis man die tiefe Intuition verspürt, dass das, was man schreibt, in dem Moment, in dem man es schreibt, stimmig ist. Und obwohl diese Intuition jedem Menschen eigen ist, kultiviert man sie besonders zu zweit, im Austausch zwischen unterschiedlichen Sensibilitäten. Die Zusammenarbeit mit einem jungen Übersetzer besteht für mich also darin, ihm dabei zu helfen, den Weg zu diesem Unaussprechlichen, diesem schöpferischen Raum zu finden, den ich bereits vor ihm lange Zeit erkundet habe.

Hinzu kommt die komplizenhafte Vertrautheit der Arbeit zu zweit. Sie ist nicht immer selbstverständlich, doch zwischen Antoine und mir hat sie sich ganz von selbst entwickelt. Zum Glück, denn ohne sie ist nichts möglich.

 

Antoine Palévody:

Als die Maison Antoine Vitez mir anbot, an diesem Mentoratsprogramm teilzunehmen, fühlte ich mich zunächst sehr geehrt. Und dann ein bisschen gestresst. Von der ersten bis zur letzten Replik zu zweit zu übersetzen, wie Jean-Louis es mir verschlug, bedeutet, auf die Intimität des ersten Entwurfs zu verzichten, bei dem man sich alle Ungenauigkeiten und wackeligen Sätze erlaubt, deren Verfeinerung man auf später verschiebt. Alleine brauche ich immer mindestens zwei oder drei Fassungen, bevor ich einen französischen Text erhalte, der zwar unvollendet ist, den ich aber dennoch als «vorzeigbar» betrachte. Hier bleibt keine Zeit für den zaghaften Umgang mit Unsicherheiten. Nicht, dass diese verschwinden würden, doch sind sie ganz einfach Teil unserer gemeinsamen Arbeit. Schon bei der ersten Sitzung las Jean-Louis die erste Replik vor, und es war an mir, aus dem Stegreif etwas vorzuschlagen. Bei jeder Szene tauschten wir die Rollen, bis wir den gesamten Text durchgearbeitet hatten.

Wir hätten auch anders vorgehen können, z. B. den Text aufteilen und uns gegenseitig Korrektur lesen. Das wäre in mancher Hinsicht vielleicht effizienter gewesen. Doch hätte es zu einer ganz anderen, auf dem Lehrer-Schüler-Modell basierenden Pädagogik geführt, bei der es Jean-Louis‘ Aufgabe gewesen wäre, mich zu korrigieren. In unserem Fall wurde jeder Satz potenziell zu einem «Fallbeispiel», ohne dass es einen Lehrer gab, der die «Richtigkeit» einer Lösung bestätigt hätte.

Das gemeinsame Übersetzen, das gemeinsame Durchsprechen aller Sätze stellte eine relative Gleichheitsbeziehung her. Gleichheit, weil meine Vorschläge nicht von vornherein weniger wert waren und wir beide gleichermaßen für den endgültigen Text verantwortlich sind; jedoch auch relativ, weil Jean-Louis natürlich viel mehr Erfahrung mitbringt als ich. Dieser Unterschied an Erfahrung – aber nicht an Status – war es, der einen unendlich reichen Lernraum eröffnete. Bei einigen Wendungen, die ich zum ersten Mal übersetzte, profitierte Jean-Louis vom Widerhall früherer Arbeiten. Für mich war dies die Gelegenheit, einen flüchtigen Blick in das von einem Übersetzer angehäufte Gedächtnis zu werfen: dieses und jenes Wort, das bereits auf diese und jene Art und Weise für dieses und jenes Buch übersetzt worden war. Mir wurde das Ausmaß der intimen Geschichte bewusst, die sich im Laufe zahlreicher Übersetzungen entfaltet und in der sich die Ausgangssprache mit all den Wegen auflädt, die zur Zielsprache gefunden werden mussten. Erfahrung löst jedoch nicht alle Probleme, und während ich mich von den Vorschlägen, Reflexen und Anekdoten meines Mentors nährte, lernte ich besonders aus den langen Zeiträumen, die wir damit verbrachten, nach der richtigen «Stimme» zu suchen, wenn wir an einer Stelle nicht weiterkamen. Es lag vielleicht auch etwas Beruhigendes darin, festzustellen, dass das Übersetzen auch nach so vielen Berufsjahren nicht einfacher wird. Im Grunde genommen ist vierhändiges Übersetzen weniger eine Methode oder eine Technik als die Möglichkeit, durch Nachahmung eine bestimmte Haltung gegenüber dem zu übersetzenden Text zu erlernen.

Die Arbeit zu zweit bringt eine andere Zeitlichkeit mit sich. Man «gewinnt» keine Zeit. Im Gegenteil: Man verwendet mehr Zeit darauf, alles miteinander in einen Dialog zu bringen. Die Zweifel werden doppelt so groß und jeder intuitive Einfall wird sofort dem kritischen Ohr des anderen unterbreitet. Was dabei vielleicht an Spontaneität verloren geht, wird jedoch durch einen gesteigerten Gestenreichtum beim Theaterübersetzen ausgeglichen, da Mündlichkeit hier keine bloße Methode mehr ist, sondern ein Weg, den man zwangsläufig einschlagen muss. Man spricht einander die Sätze vor, man erprobt Intonationen. Man macht sich gegenseitig Vorschläge, von denen man weiß, dass sie «nicht stimmen», und versucht, den anderen dadurch zu einer Reaktion zu bewegen, bis irgendwann beide das Gefühl haben, dass «es stimmig ist». Manchmal verhandelt man auch, weil sich unsere subjektive Wahrnehmung des Französischen unterscheidet: Das Übersetzen im Kollektiv ist eine Möglichkeit, sich bewusst zu machen, wie stark jede Übersetzung von Willkür, Subjektivität und ihrer eigenen Geschichtlichkeit geprägt ist. Es bietet die Gelegenheit, unsere Reflexe mit etwas Abstand zu betrachten. Doch vor allem liegt in dem Augenblick, in dem die Übersetzung die Selbstverständlichkeiten unserer eigenen Sprache ins Wanken bringt, eine gewisse Freude darin, nicht allein zu sein, jemanden zu haben, mit dem man sprechen kann, um sich daran zu erinnern, wie man sagt – oder vielmehr, wie man sagen könnte.

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

 

Jean-Louis Besson (Foto. privat)

Jean-Louis Besson ist Professor emeritus der Universitäten Paris Nanterre und Louvain-la-Neuve. Am Theater arbeitet er als Dramaturg und hat zahlreiche klassische und zeitgenössische Werke aus dem Deutschen ins Französische übersetzt. Seine Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen befassen sich mit dem deutschen Theater vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, mit Fragen der Inszenierung und der Theaterübersetzung.

Antoine Palévody (Foto: Elise Martin)

Antoine Palévody wurde 1999 in Toulouse geboren. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in einer classe préparatoire und anschließend an der ENS de Lyon, wo er derzeit im Bereich Theaterwissenschaft forscht. Er begann 2017 mit dem Übersetzen von Theaterstücken, nachdem er an dem deutsch-französischen Theaterübersetzungsworkshop Transfert Théâtral teilgenommen hatte. Er hat unter anderem Stücke von Jens Raschke übersetzt.

Clemens J. Setz (Foto: Max Zerrahn)

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er als Übersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 prämiert. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit Vereinte Nationen war Setz 2017 und mit Die Abweichungen 2019 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. 2021 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.

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