Der Autor und Regisseur Guy Régis Jr über Zweisprachigkeit auf Haiti und die damit verbundenen Konflikte Von der Diktatur zur Demokratie: vom spannenden Bedürfnis nach Übersetzung

Der Theatermacher Guy Régis Jr (Foto: Henry Roy)

von Guy Régis Jr

Kein Datum in der zeitgenössischen Geschichte Haitis ist von wesentlicherer Bedeutung als der 7. Februar 1986. Es erinnert an das Ende der Duvalier-Diktatur, eines der blutigsten diktatorischen Regimes in der Karibik und auf der Welt, das in den 29 Jahren seiner Herrschaft schätzungsweise 30.000 Menschenleben forderte.

Nach François Duvalier (Papa Doc) übernahm 1971 sein 19-jähriger Sohn Jean-Claude Duvalier (Baby Doc) die Macht, bis er schließlich Anfang Februar 86 nach Aufständen im ganzen Land und einem Trommelfeuer an Besuchen der internationalen Gemeinschaft (Papst Johannes Paul II., der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter usw.) ins Exil ging.

In diesem turbulenten Übergang von der Diktatur zur Demokratie (eher einem Hoffnungschimmer von Demokratie, denn, um den Eifer des Volks und die Gewalt auf den Straßen zu bändigen, übernahmen schnell die Streitkräfte die Interimsmacht) kündigte sich eine Fülle von Veränderungen an, die einander an Entschlossenheit überboten.

«L’Amour telle une cathédrale ensevelie», Text und Inszenierung von Guy Régis Jr (Foto: Christophe Péan)

In der Tat hatten sich alle unterschiedlichen Gruppen darauf geeinigt, eine andere Nationalflagge zu fordern. Aus schwarz-rot wurde blau-rot. Der politische Wandel war so umfassend, dass er sogar Einfluss auf die beiden von den Haitianern «praktizierten» Sprachen nahm: das Französische, das von der Mehrheit nicht gesprochen wird, und das Kreol, die Volkssprache. Alle Unruhen, Demonstrationen, Gesänge, Musik, selbst die vehementesten Reden der Aktivisten, die zuvor in der Sprache Molières formuliert worden waren, fanden nun ganz bewusst auf Kreol statt.

Als wäre eine Umkehrung der Vorherrschaft der einzigen bisherigen Amtssprache, des Französischen, gegenüber dem Kreol, der Sprache des Volkes, notwendig. Als müsste dies zwangsläufig mit dem Sturz der Macht einhergehen. Sehr schnell, bereits ein Jahr später, am 29. März 1987, wurde eine neue Verfassung auf Kreol verabschiedet.

Wie immer wurde jedoch im Laufe der Jahre die Leidenschaft, die auf die Revolution folgte, schnell von den Stigmata der zuvor herrschenden Realität untergraben, die immer zäher ist als die frische und fiebrige Revolution. In einigen Bereichen des öffentlichen Lebens blieb die Macht des Französischen bestehen. Die Sprache hatte einiges an Ansehen verloren, konnte aber nicht vollständig geschwächt werden.

«Men Tonton Makout vle tounen», Text und Inszenierung von Guy Régis Jr (Foto: Festival 4chemins)

Allerdings hatte das Kreol Oberwasser bekommen. Von nun an war es nicht mehr die Sprache einer Handvoll Intellektueller und engagierter Dichter, sondern die all jener, die ihre Nähe zum Volk demonstrieren wollten. Alle Politiker überboten sich nun dabei, sie blindlings überall zu verwenden, um das Volk zu umgarnen. Mit der neuen Verfassung wurde Kreol zur Amtssprache, ex aequo mit dem Französischen, das nicht vollständig aufgegeben wurde. Obwohl Kreol tatsächlich von fast allen Haitianern gesprochen wird, gab es erst Anfang der 1980er Jahre, bereits gegen Ende der Diktatur, Versuche, die Sprache schriftlich zu fixieren.

In unserem Bereich, dem dramatischen Schreiben, erlebte Kreol bereits ab den 1960er Jahren eine Blütezeit. Einige Dramatiker, und nicht die unbedeutendsten, erkannten schnell die Notwendigkeit dieser Sprache für die Bühne. Franck Fouché und Feliz Moriso Leroy haben die meisten ihrer Werke direkt auf Kreol verfasst. Letzterer ging sogar so weit, dass er den gesamten Sophokles ins Kreolische übersetzte. Selbstverständlich verfolgte er damit ein soziales, ja sogar politisches Ziel, denn er übersetzte und adaptierte einen der ersten westlichen Dichter dieses Genres in die Sprache des Volkes, die von den meisten Intellektuellen der damaligen Zeit vernachlässigt wurde.

Feliks Morisseau-Leroy jedoch (der seinen Namen als Feliks Moriso-Lewa ins Kreolische übersetzt) wollte ein Theater schreiben, das in der Lage wäre, direkt zum Volk zu sprechen, in seiner eigenen Sprache und Kultur. Er übersetzte nicht nur Antigone als Antigòn, sondern verlegte das Stück auch ganz bewusst in einen hounfor, eine Voodoo-Kultstätte. So konnte die Mehrheit verstehen, was in diesem Stück vor sich ging, in dem sich Antigòn als Widerstandskämpferin der autokratischen Macht von König Kreon widersetzt, der hier als Voodoo-Priester über den Ort herrscht.

«Men Tonton Makout vle tounen», Text und Inszenierung von Guy Régis Jr (Foto: Festival 4chemins)

Mit diesem Erbe sah ich mich konfrontiert, als ich – zugegebenermaßen mehr als dreißig Jahre später – ein Stück schreiben wollte, das eine halbdespotische Macht in Haiti anprangerte. Angesichts des eher zaghaften, aber von Tag zu Tag härter auftretenden autokratischen Regimes, fürchtete ich die drohende Rückkehr der Angst. In diesem Land, in dem alles und zugleich nichts möglich ist, in dem man von einer verrückten Zeit in die nächste schlittert, ist die einzige Konstante die Angst vor der ständig plausiblen Rückkehr zu einer tyrannischen Macht.

Ist es nicht auch heutzutage, wo haufenweise Waffen an Jugendliche verteilt werden, die überall Gangs bilden, gerechtfertigt, sich zu fragen, wer uns mit diesen hochgerüsteten Aushilfssoldaten zum Schweigen zwingen will, wem eine solche Situation nützt, die (insgesamt) faktisch jede mögliche Rückkehr zur Demokratie verhindert?

Der Kontext, in dem sich die beiden Sprachen bewegen, ist nicht mehr derselbe. Das Exil hat zumindest einen grundlegenden Vorteil. Es zwingt zur Vielsprachigkeit, denn sonst integriert man sich nicht und stirbt. Meinen haitianischen Landsleuten begegne ich auf der ganzen Welt, und sie sprechen Englisch, Spanisch, Portugiesisch … Heutzutage ist Kreol die einflussreichste Sprache in den haitianischen sozialen Netzwerken, die Nachrichten auf allen Smartphones werden offen auf Kreol verfasst, das inzwischen zu einer der offiziellen Sprachen Floridas, dem ersten Tor zu den USA, geworden ist.

Da ich meine Schulausbildung auf Französisch erhalten habe, schreibe ich für gewöhnlich auf Französisch. Nachdem ich mein Stück «Men Tonton Makout vle tounen/Die tonton macoute¹ wollen wiederkommen» verfasst hatte, erschien es mir sofort selbstverständlich, dass ich den Text übersetzen musste. Wenn man von Demokratie sprechen, direkt zu den Menschen sprechen will – muss das in der Muttersprache sein? Warum muss man zwangsläufig jene Sprache vernachlässigen und ignorieren, die man aus den Büchern gelernt hat? Warum muss sich die Kunst ein aktivistisches Kostüm überstreifen und sich in der Volkssprache anbiedern?  Woher kommt diese Leidenschaft, Sprachen auf dem Weg von der Diktatur zur Demokratie gegeneinander auszuspielen? Woher kommt überhaupt diese Leidenschaft der Übersetzung, einen Gegensatz zwischen Sprachen zu behaupten? Die Franzosen sind stolz darauf, dass Descartes› Philosophie auf Französisch verfasst wurde, um das Lateinische als Amtssprache zu entmachten. Als Beispiel nennen sie meistens seinen großen Klassiker, den Discours de la méthode.

Damit Sie sich weiterhin über diese Fragen den Kopf zerbrechen können, würde ich Ihnen gerne folgende Übung vorschlagen: Ich lade Sie ein, die Übersetzung des Eingangsmonologs des Stücks Men tonton Makout vle tounen zu überfliegen, eine textseitenlange Innenschau der Figur, die die Einleitung des Textes bildet, um eine Antwort auf folgende Frage zu finden: Warum besteht bei einem Text wie diesem die Notwendigkeit, ihn zu übersetzen?

Es ist jedoch wichtig zu erwähnen, dass ich das Stück nicht komplett selbst übersetzt habe. Die Selbstübersetzung war zu anstrengend für mich. Schließlich habe ich die Übersetzung einem befreundeten Dichter, Jacques Adler Jean Pierre, angeboten. Adler ist Journalist, Geschichtenerzähler, und obwohl ich selbst Übersetzer für beide Sprachen bin, ist er in der täglichen Kreol-Praxis viel bewanderter als ich.

Es war auch nicht das erste Mal, dass ich ihm vorschlug, eines der Stücke zu übersetzen, die ich inszeniere. Als Dichter und Erzähler verfügt sein Kreol über eine mündliche Prägung, die im Theater wunderschön klingt. Wir sind beide zweisprachig, beide Übersetzer, haben aber einen unterschiedlichen Zugang zur kreolischen Sprache. Dieser Unterschied mag auf manche wirken wie ein Gegensatz.

Es ist einer der heftigsten Gegensätze, den man häufig in Debatten hört. In einem Land, in dem alle offiziellen Schriftstücke zweisprachig sind – der paspò² ist ein perfektes Beispiel dafür -, ist es nicht ungewöhnlich, von vehementen Kritikern des Kreol zu hören, dass sie das Französische ablehnen. Selbst wenn es offizielle Dokumente wie die Straßenverkehrsordnung gibt, um ein konkretes Beispiel zu nennen, die bis heute nicht übersetzt wurden, gehen einige sogar so weit, für ein Verbot der französischen Sprache zugunsten des Kreol einzutreten.

Der Hauptgrund, warum die beiden Sprachen des Landes gegeneinander ausgespielt werden, und das ist äußerst wichtig zu erwähnen, ist jedoch vor allem sozialer Art. Wer in diesem Land genießt das Privileg, Französisch zu sprechen? Die Antwort liegt auf der Hand. Es waren abwechselnd die Franzosen, die Nachkommen der Franzosen oder schlicht und einfach diejenigen, die eine Schule besucht haben, und heutzutage, angesichts des schlechten Zustands unseres Bildungssystems, sind es eher diejenigen, die das Glück haben, gute Privatschulen zu besuchen, die zugleich die teuersten sind. Diese Sprecher sind also privilegiert.

Im Gegensatz dazu wird Kreol von Kindesbeinen an gesprochen. Es ist ganz natürlich, dass eine Bewohnerin des Nordens sich mit einer Bewohnerin des Südens austauschen kann, wie eine Bewohnerin des Ostens über die nötigen Fähigkeiten verfügt, um sich mit einem Bewohner oder einer Bewohnerin des Westens zu unterhalten, ohne dass sich Syntax oder Vokabular groß ändern.

Im Theater wird der gleiche Kampf geführt.

«L’Amour telle une cathédrale ensevelie», Text und Inszenierung von Guy Régis Jr (Foto: Christophe Péan)

Wie oft wurde ich in meinem geliebten zweisprachigen Land nach der Aufführung von einem meiner französischen Stücke gefragt, warum es nicht auf Kreol war? Als hätte man es kreolisch untertiteln müssen. Wovon das haitianische Publikum im Übrigen nicht besonders viel hätte. Im Allgemeinen haben Haitianerinnen und Haitianer, die viel eher daran gewöhnt sind, auf Französisch zu lesen, große Schwierigkeiten, wenn sie Texte auf Kreol lesen müssen.

Dies gilt auch für Schauspieler, die angesichts eines kreolsprachigen Textes sofort anfangen, mit übertriebener Stimme und in emphatischem Tonfall zu lesen. Das Lesen von Kreol auf dem Papier ist für sie unverdaulich. Sie beherrschen die Sprache nur sehr schlecht. Sie sind zwar kreolsprachig, doch das Problem ist, dass sie es nicht wirklich gewohnt sind, längere Texte auf Kreol zu lesen. Da sie schon in der Schule immer nur auf Französisch gelesen und später fast ausnahmslos auf Französisch gespielt haben, ist Kreol für sie schwerfällig, wie eine Fremdsprache.

Ein Theatertext ist geschriebenes Sprechen. Lesen ist nicht sprechen. Doch wie soll man es anstellen, diese Sprache zu artikulieren, die auf dem Papier steht? Vielleicht indem man es mit Improvisation versucht, um ihnen zu ermöglichen, ihre Zunge zu lockern und wie im Alltag zu sprechen, sonst bleibt dieses Handicap bestehen. Würden ihnen mehr Partituren in ihrer Muttersprache zur Verfügung stehen, könnte dieses kleine Übel behoben werden.

Wir sind jedoch weit davon entfernt, unendlich viele Möglichkeiten zu haben. Leider werden Theaterklassiker wie das Werk von Sophokles nur sehr selten ins Kreolische übersetzt. Und das ist sehr schade. Die Übersetzungen von Feliks Moriso-Lewa gehören auch heute noch zu den meistgespielten Stücken auf unseren Bühnen.

 

¹ Die «tontons macoute» waren eine Miliz im Dienste des Duvalierregimes. Sie waren nur dem Präsidenten verpflichtet und kultivierten ein grausames, dem Voodoo-Kult nahestehendes Image. Bis in die 80er-Jahre hinein sind sie für die Verschleppung und Ermordung Tausender Haitianer*innen verantwortlich.
² Kreol für «passeport», Reisepass.

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

 

Der Theatermacher Guy Régis Jr (Foto: Henry Roy)

Guy Régis Jr wurde 1974 in Port-au-Prince (Haiti) geboren und ist Autor, Regisseur, Übersetzer und Filmemacher. Viele seiner Texte, die Theaterstücke, Romane und Lyrik umfassen, wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Er selbst übertrug Texte von Maeterlinck, Proust, Camus und Koltès ins haitianische Kreol. 2001 gründete er die Company NOUS Théâtre. Seine interdisziplinären Theaterarbeiten werden in Frankreich (Festival Les Francophonies de Limoges, Festival d’Avignon), in Haiti und international aufgeführt. Derzeit ist er künstlerischer Leiter des Festivals 4 Chemins in Port-au-Prince, das sich zu einem der prominentesten künstlerischen Ereignisse in der französischsprachigen Karibik entwickelt hat. 2021 wurde Guy Régis Jr zum Officier des Arts et des Lettres ernannt. 2022 erschien sein Text «Die Liebe wie eine verschüttete Kathedrale» in der Übersetzung von Leopold von Verschuer in der Anthologie SCÈNE.

Noch keine Kommentare / Diskutieren Sie mit!

Wir freuen uns auf Ihre Kommentare. Da wir die Diskussionen moderieren, kann es sein, dass Kommentare nicht sofort erscheinen. Mehr zu den Diskussionsregeln erfahren Sie hier.

Kommentar erstellen

Bitte geben Sie Ihren Namen und Ihre E-Mail-Adresse an, um einen Kommentar zu verfassen.