Der dritte Tag des Symposiums «Primeurs PLUS» 2023 Die Lücken im Archiv
von Miriam Denger
Dekoloniale Theaterarbeit mit Marine Bachelot Nguyen, Eva Doumbia und Aline Benecke
Die beiden Autorinnen sind nicht zum ersten Mal bei «Primeurs» anzutreffen, Bachelot Nguyens Stück «Söhne» gewann 2019 den Preis des Festivals, Doumbias «Drissa» (Le lench) war 2021 eingeladen und ist auch in der von Lisa Wegener und Charlotte Bomy herausgegebenen Anthologie «Afropäerinnen» zu finden (in der Übersetzung von Akilah Silke Güç).
Marine Bachelot Nguyen beschäftigt sich in ihrer Arbeit mit feministischen Fragen in (post-)kolonialistischen Kontexten. Häufig ist ihr Ansatz dabei ein dokumentarischer, sie will historische Prozesse verstehen, um in der Gegenwart handeln zu können, in einer Gegenwart, die von zahlreichen sich überlagernden historischen Schichten problematischer Erblasten mitbestimmt wird, Schichten eines rassistischen, kolonialistischen, sexistischen und patriarchalen Erbes. Vor diesem Hintergrund Dekolonialisierungsarbeit zu leisten, versteht die Künstlerin als Aufgabe unserer Zeit. Wie auch die Arbeiten ihrer Gesprächspartnerinnen ist ihr künstlerisches Schaffen nicht zuletzt auch aus einer biografischen Spannung heraus entstanden. Als Tochter einer Vietnamesin und eines Franzosen sind genealogische, sehr private Fragen immer auch politisch, was sich in ihren Theaterarbeiten widerspiegelt.
Als sie ihre Stücke im Gespräch zu schildern beginnt, wird schnell deutlich, welch große Bandbreite an Themen sie mit ihrem Schreiben abdeckt: «A la racine» bringt Figuren wie Sigmund Freund, Scheherazade, Jesus und Eva in einem feministischen Rahmen zusammen, «La place du chien» erzählt eine französisch-kongolesische Liebesgeschichte mit Hund; im Gespräch mit dem Haustier dreht sich vieles um rassistische und postkoloniale Fragestellungen. «Les ombres et les lèvres» zeigt auf, wie die Kolonialisierung Vietnams auf gesellschaftliche Normen zu Sexualität und sexueller Orientierung eingewirkt hat, «Circulations Capitales(mémoires familiales France-Viêtnam-Russie)» beschäftiget sich u.a. mit der Veränderung des Landes durch Christianisierung und Einführung des Kapitalismus. Ihr jüngstes Stück, «Akila le tissu d’Antigone» stellt die Schwester eines von Polizisten getöteten Terroristen in den Mittelpunkt, die, ähnlich wie ihr antikes Vorbild, entgegen allen Widerständen ihrem toten Bruder die letzte Ehre erweisen will – und je mehr sie diesen Wunsch verfolgt, desto mehr gerät die Welt um sie herum ins Wanken.
Wie auch Bachelot Nguyen gehört Eva Doumbia der Künstler*innen-Initiative «Décoloniser les arts!» an, die u.a. in einer gemeinsamen Publikation die Welt der Kunst und Kultur in Frankreich auf koloniale Strukturen untersucht. In der Anthologie «Décolonisons les arts!» werden Strategien zur Dekolonialisierung von Ausbildungen, Studiengängen, Institutionen und Inhalten vorgeschlagen, ein Appell, die Welt nicht hinzunehmen, sondern sie zu verändern.
In ihrer eigenen Kunst arbeitet Doumbia ebenfalls dokumentarisch, erzählt Geschichten, die sie mit autobiographischen Elementen mischt. Ihr Stück «Drissa» (Le Iench) z.B. kreist um patriarchale Unterdrückungsverhältnisse und ihre Auswirkungen im familiären Kontext, aber auch um Gefahren wie Polizeigewalt, die dem familiären Kosmos einer Schwarzen Familie von außen drohen. Derzeit arbeitet sie an einem Text über Schwarze Soldaten im ersten Weltkrieg und deren Kinder, die «Rheinlandbastarde», sowie an «Autophagies», einem Stück über Kolonialisierung und Ernährung, mithin Lebensmittelmigration.
Doumbia möchte mit ihrer Arbeit ein Frankreich zeigen, über das nicht gesprochen wird, sie versucht, die Texte zu schreiben, nach denen sie selbst lange gesucht hat, Geschichten, die ihr gleichen. Für sie war es ein langer Weg dahin, solche Geschichten schreiben zu können, Geschichten, die Sichtbarkeit schaffen, ein Weg, der Selbstermächtigung voraussetzt, die auch eine wichtige Voraussetzung dafür darstellt, aktiv Fördermittel, also öffentliche Gelder, einzuwerben, weil oft der Eindruck entsteht, diese seien der Mehrheitsgesellschaft vorbehalten.
Aline Benecke faszinierte am Theater von klein auf besonders der Vorgang des Zuschauens selbst, die Möglichkeit, anderen Menschen unzensiert beim Handeln zusehen zu können. Als Studentin der Theatergeschichte weitete sich dieses Interesse an den Blickkonstellationen des Zuschauens auf den Zuschauerraum, den Theaterbau aus: eine Architektur, ein Bühnenbild, die – insbesondere im französischen Illusionstheater – die Blicke hierarchisierte und nur von einer Perspektive aus wirklich gut funktionierte: von der des Königs aus.
Blick, Perspektive und Privilegien sind dem Theaterraum selbst eingeschrieben, werden durch ihn nur nicht nur repräsentiert, sondern im Moment der Aufführung auch immer wieder re-produziert. Auf wen ist sie ausgerichtet, wer ist als ideale*r Zuschauer*in mitgedacht?
Beneckes Reflektion setzt also an mit einem Nachdenken über räumliche Dimensionen von Macht, über Machtverhältnisse, die sich im Raum nicht nur ausdrücken, sondern von diesem auch selbst hergestellt werden. In ihrer eigenen künstlerischen Praxis ist es ihr wichtig, transparent zu machen, wie solche Verhältnisse zustande kommen und wie sie nicht zuletzt von den Zuschauenden selbst durch ihre Blicke immer wieder bestätigt und bekräftigt werden. Ebenfalls zentral in ihrer Arbeit als Solo-Performerin ist die Frage, wie sich Platz einnehmen lässt, ohne Gewalt zu reproduzieren.
Wichtige künstlerische Inspiration sind für sie die Arbeiten von Walid Raad und der Atlas-Group, sein fiktionales Archiv unerzählter Geschichten des Libanonkriegs. Aus der Erkenntnis, wie viele Geschichten unerzählt bleiben, leitete sich für Benecke die Feststellung ab, dass es zumindest möglich sein müsste, (künstlerische) Mittel zu finden, um auf die bestehenden Lücken im Archiv hinzuweisen. Immer mehr in den Vordergrund rückte dabei für sie die Arbeit mit den Biografien. Der Begriff des Archivs erweiterte sich, vom tatsächlichen zum kulturellen Archiv, mit dem sich in Beziehung treten lässt, in das sich eintreten lässt wie in ein riesiges Beziehungsgeflecht. Konkret nähert sich die Performerin Fotos von Menschen in Gewaltkontexten, z.B. Konzentrationslagern an, tritt auf verschiedene Arten in einen Dialog mit ihnen – sei es, dass sie die Fotos abpaust, mit den Menschen spricht oder nur die Stimme einsetzt, um über Geräusche und Summen eine Art erzählendes Rauschen zu erzeugen. «Ich stelle Beziehungen in explodierenden Bildwelten her», sagt Benecke lachend, und fügt gleich hinzu, dass sie das an die Arbeiten Aby Warburgs erinnert.
In dem Gespräch, das sich zwischen den Künstlerinnen entspinnt, geht es viel um Verteilung von Ressourcen, um Institutionen, um Systeme und wie man sie sich zunutze machen kann, wie sie sich vielleicht von innen heraus verändern ließen – und um das permanente Scheitern an diesem Versuch. In einer Gesellschaft, die nach wie vor von rassistischen Strukturen geprägt ist, haben es mehrfach Marginalisierte oft schwerer, etwa an Fördergelder zu kommen als weiße, männlich gelesene Vertreter der Mehrheitsgesellschaft. Wie wütend darf man, wie diplomatisch muss man sein, wie viele Zugeständnisse sollte oder sollte man nicht machen, wenn es um die Radikalität von Ideen und ihrer künstlerischen Umsetzung geht?
Die Arbeit der drei Künstlerinnen erfüllt viele Zwecke, adressiert viele Gruppen: Einerseits ist es eine Bildungsarbeit für die weiße Mehrheitsgesellschaft mit einem pädagogischen Anspruch. Andererseits geht es beim Erzählen der Geschichten von bisher nicht oder nur wenig repräsentierten Menschen auch darum, Schutzräume für deren Bedürfnisse und für den Austausch untereinander zu schaffen. Auch Geschichten von Marginalisierten sind universelle Geschichten, und auf dieser Universalität immer wieder zu bestehen, kann auch eine gezielte Diskursstrategie sein.
Doumbia berichtet, wie es ihr gelungen ist, über social media selbst ein Schwarzes Publikum für Arbeiten zu finden, die auf weiß kuratierten Festivals mit überwiegend weißem Publikum auf wenig Interesse stießen – oder schlicht mit der Erwartung brachen, Schwarze Französinnen müssten sich über afrikanische Themen äußern. Diese Eigeninitiative, der selbstbestimmte, intelligente Einsatz sozialer Medien kann eine gewisse Unabhängigkeit von Institutionen schaffen, und so institutionelle Wahrnehmungen und Kategorisierung umgehen.
Gefragt, welche Art der Unterstützung sie sich wünschen, wird deutlich wie wichtig es ist, dass Stücke gelesen, übersetzt, gespielt werden, dass auch Schulen und Bibliotheken Zugang erhalten; dass Erfahrungen auch über Generationen weitergegeben werden können, welch wichtige Rolle Institutionen spielen und von welch großer Bedeutung es daher ist, dort auf Komplizinnen, Gefährtinnen, Menschen mit ähnlichen Erfahrungshintergründen zu treffen, die die eigene Diskriminierungskritik teilen. Institutionen, die nicht primär daran interessiert sind, vom symbolischen Kapital marginalisierter Sichtbarkeit zu profitieren, sondern tatsächlich an einer ernsthaften Um- und Neuverteilung von Ressourcen.
Die Sprache als Türöffner – Frederik Hahn und Guy Régis Jr im Gespräch
Für Übersetzer*innen interessante sprachphilosophische Überlegungen bietet das letzte Gespräch des Symposiums, das Leyla-Claire Rabih zunächst mit Frederik «Torch» Hahn, dem deutsch-haitianischen «Vater des deutschen Hip-Hop» und dann auch mit dem später hinzukommenden vielseitigen Künstler Guy Régis Jr führte, der neben seinen Tätigkeiten als Autor, Übersetzer, Regisseur usw., derzeit das wichtigste karibische Theaterfestival «Les Quatre Chemins» in in Port-au-Prince, Haiti, leitet.
Im Vergleich seiner beiden Herkunftsländer fiel «Torch» früh auf, dass in Haiti viele gedankliche Trennungen nicht nötig sind, die in der deutschen Sprache gemacht werden müssen, um Konzepte zu verstehen, bevor sie angewendet können: «Integration», «Inklusion», «Mehrsprachigkeit», «generationenübergreifend» nennt er als Beispiele.
Nicht zuletzt deshalb habe er sich für Hip-Hop entschieden, weil da die Trennung zwischen Musik, Graffiti und Tanz keine wesentliche Rolle spiele. Zudem sei es eine Kunstform gewesen, mit der man den öffentlichen Raum für sich beanspruchen kann, ebenfalls etwas, was in Haiti wie selbstverständlich gelebt wird, während in Deutschland öffentlicher Raum eher mit Zurückhaltung und Hemmschwellen verbunden ist. Hip-Hop sei zudem eine von Kindern erfundene Kunst, eine eigene Welt mit eigenen Regeln, eine Gegenwelt zu der der Erwachsenen, die ständig vorgeben, wie alles zu laufen hat. Ein Kind malt ein Bild an die Wand es denkt nicht zweimal drüber nach, ob es das darf oder was das für später bedeutet.
Seine Texte auf Deutsch zu schreiben, wurde ihm immer mehr zu einer Notwendigkeit im Kontakt mit seinem deutschsprachigen Publikum, und es wurde immer mehr ein Schreiben, das schon beim Schreiben auf die Performance abzielt, das Publikum immer im Kopf.
Der Hit seiner Band Advanced Chemistry «Fremd im eigenen Land» ist mittlerweile 30 Jahre alt, die Texte könnten von heute sein. Nur die Farbe des deutschen Passes ist heute nicht mehr grün, sondern rot.
Im den letzten 20 Minuten, die das Gespräch – und damit auch den offiziellen Teil des Symposiums – abschlossen, klinkte sich Theatermacher Guy Régis Jr noch mit in die Runde ein. Er hatte vor einiger Zeit Texte des verstorbenen haitianischen Autors George Castera auf die Bühne gebracht, dem Onkel von Frederik Hahn. Über diese und ähnliche gemeinsame Ausgangspunkte rückten schnell erneut die Zusammenhänge von Sprache und Denken ins Zentrum und spannten einen Bogen zum ersten, sprachphilosophischen Teil des Gesprächs: Die Sprache als Türöffner zu einem Raum, in dem alle Platz finden, der alle aufnimmt. Das in Haiti gesprochene Kreol beschreiben dabei beide als eine sehr kraftvolle Sprache. Sie ist Amts- und auch Unterrichtssprache und auch die in den Medien meistgenutzte Sprache, und auch im Bereich von Kunst, Kultur und Literatur immer selbstverständlicher. (Französisch spricht dagegen ein nur kleiner Teil der Bevölkerung).
Gemeinsam vergleichen die beiden Künstler europäisches bzw. deutsches mit karibischem bzw. haitianischem Denken. In Deutschland müsse man sich immer entscheiden, ein haitianisches Konzept dagegen sei: Es gibt keine Grenzen, man kann alles ausprobieren, alles gleichzeitig sein. Ein nicht-europäisches Denken, dem Ausschlusskriterien, wie Frederik Hahn sie aus Deutschland kennt, fremd sind. Der Begriff des «créateur», des Schöpfers, sei dafür ein gutes Beispiel – wer créateur ist, kann, wie Picasso, heute malen und morgen Theatertexte schreiben. Dazu passt, dass Guy Régis Jr die aktuellen identitätspolitischen Debatten eher als ein europäisches Phänomen betrachtet: «Als ich in meinem letzten Stück ‚Les Quatre Fois où j’ai vu mon père‘ die Hauptrolle mit einem weißen Schauspieler besetzte, wurde ich nur in Europa nach den Gründen für diese Entscheidung gefragt. Das Publikum auf Haiti sagte einfach: ‚Was für ein großartiger Schauspieler!‘»
Miriam Denger ist freie Übersetzerin (aus dem Spanischen) und Dramaturgin. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft und Romanistik in Gießen und Pamplona. Nach einer theaterpädagogischen Zusatzausbildung in Berlin arbeitete sie einige Jahre als Dramaturgin und Theaterpädagogin fest an verschiedenen Häusern, u. a. in Meiningen und Konstanz. Auch als Übersetzerin begleitet sie Proben und Stückentwicklungen vor Ort und übertitelt Gastspiele für internationale Festivals. Das kubanische Theater und das Werk des Dramatikers Rogelio Orizondo ist dabei einer der Schwerpunkte ihrer übersetzerischen Arbeit. Sie lebt bei Landau in der Pfalz.
Die Hamburger Illustratorin Neele Jacobi bewegt sich irgendwo zwischen Idealismus & Humor. Ersteres hat viel damit zu tun, dass sie sich in ihrem Studium den Politik- und Kulturwissenschaften zugewandt hat. Und Humor ist bei ernsten Themen ja oft nicht verkehrt. Wenn sie also nicht gerade für Kund*innen arbeitet, die die Welt auf irgendeine Weise ein bisschen besser machen wollen, hält sie die Absurditäten des Alltags fest, wovon es ja bekanntermaßen auch genügend gibt.
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