Der mexikanische Theaterübersetzer Humberto Pérez Mortera im Gespräch mit Frank Weigand 800 Euro für ein Buch

Frank Weigand: Ich freue mich, heute mit einem Kollegen zu sprechen, der geografisch gesehen sehr weit weg ist. Aber wir beschäftigen uns mit ziemlich ähnlichen Dingen. Manchmal übersetzen wir die gleichen Autoren und Autorinnen. Im Laufe dieser Interviewreihe habe ich festgestellt, dass die Realität des Berufs des Theaterübersetzers oder der Theaterübersetzerin in unterschiedlichen  Ländern absolut nicht dieselbe ist, sowohl materiell als auch manchmal in Bezug auf die tatsächliche Arbeit. Es gibt Kolleg:innen, die nicht nur Übersetzer:innen sind, sondern auch ein bisschen Agent:in oder Regisseur:in oder die etwas ganz anderes machen, um überleben zu können. Das ist der Gedanke hinter den Fragen, die ich dir stellen möchte. Also, Humberto Pérez Mortera, du lebst und arbeitest in Mexiko City. Vielleicht fangen wir mit einer ganz einfachen Frage an: Wie bist du Theaterübersetzer geworden?

Humberto Pérez Mortera: Bei mir war es ähnlich wie bei Bobby (Theodore), unserem kanadischen Kollegen. Wie er wollte ich Theaterautor werden und studierte an der SOGEM, der Sociedad General de los Escritores de Mexico, in Mexiko-Stadt. Und da ich damals, vor fast 20 Jahren, nach dem Abschluss des Studiums dachte, dass mir noch viele Werkzeuge zum Schreiben fehlten, begann ich, mein erstes Stück zu übersetzen. Es war «Cendres de cailloux» von dem Québecer Autoren Daniel Danis. Und dann habe ich sofort angefangen zu übersetzen und gleichzeitig weiterzuschreiben. Zu Anfang sagte ich mir, nein, ich werde nur ein Stück übersetzen und das war’s dann. Aber da ich das große Glück habe, mit einem Freund zusammenzuarbeiten, der Regisseur ist, haben wir fast zehn Jahre lang weitergearbeitet. Ich habe immer Autor:innen vorgeschlagen und er wollte, dass ich Stücke übersetze. Er liebt Wajdi Mouawad, also haben wir insgesamt zehn, elf Jahre lang zusammengearbeitet.

Also hast du eigentlich immer aus einem bestimmten Anlass heraus gearbeitet. Das ist anders als bei Kolleg:innen, die sagen, ich habe jetzt Lust, einen Text zu bekannt zu machen, auch wenn das Risiko besteht, dass ich ihn für die Schublade übersetze. Bei dir ist es immer mit etwas Konkretem verbunden. Ist das vielleicht der Unterschied zu der Arbeit als Autor, die du immer noch machst? Wo man sich manchmal Projekte ausdenkt, die vielleicht nicht zustande kommen?

Das kommt darauf an. Jedes Projekt ist anders. Manchmal kommt es vor, dass, während ich ein Stück übersetze, das aufgeführt werden soll, bereits Anfragen von anderen Regisseur:innen kommen, für sie ein anderes Stück zu übersetzen. Im Allgemeinen war es jedoch eher so, dass ich ein Stück entdeckt habe, das mir sehr gut gefallen hat, und dann habe ich angefangen, es zu übersetzen. Ich habe immer sofort mit dem Autor oder der Autorin gesprochen, um die Autorisierung zu erhalten. Und dann habe ich sofort angefangen, auch wenn es keinen Auftrag gab – einfach um zu sehen, wie es funktioniert. Und während der Arbeit fällt mir dann ein, ah vielleicht kann ich das Stück dieser oder dieser Company zeigen. Das hängt stark von den Projekten und den Texten ab.

Und was die wirtschaftliche Realität angeht, wie funktioniert das Theater in Mexiko? Gibt es große Nationaltheater mit festen Ensembles?

Nein, nein, nein. Wir haben so etwas wie eine Comédie française mit festem Ensemble. Aber mit denen habe ich noch nicht wirklich gearbeitet. Ich habe nur einmal die Übersetzung einer anderen Übersetzerin für sie korrigiert. Die Produktionsbedingungen in Mexiko sind schwierig. Man kann sagen, dass in den letzten 20 Jahren die Unterstützung für Übersetzungen und für Theaterproduktion im Allgemeinen stark zurückgegangen ist. Jedes Jahr gibt es weniger Geld von der Regierung für Übersetzungen und für neue Produktionen. Es ist interessant, sich andere Modelle anzusehen. Ich glaube, in den USA finanzieren private Unternehmen die Übersetzungen für Theatercompanies, die an Theatern produzieren. So etwas findet man hier kaum. Wer soll uns bezahlen? Manchmal ist es ein Regisseur, der privat zahlt und zu mir sagt: «Okay, gefällt dir das Stück? Du übersetzt es, wir geben dir drei Monate Zeit.» Und dann muss ich es schnell fertigstellen, damit er es testen und auf die Bühne bringen kann.

Ist das für dich persönlich ein Beruf, von dem du leben kannst, oder bist du gezwungen, tausend andere Dinge gleichzeitig zu tun?

Ja. Ich bin auch Dozent und mache Verlagsarbeit und bin auch Autor. Ich übersetze nicht nur sondern lektoriere auch andere Übersetzungen. Ich denke, dass es in Mexiko niemanden gibt, der ausschließlich Übersetzer sein kann. Manche Übersetzer sind gleichzeitig Dolmetscher, das ist ein anderer Beruf, der gut bezahlt ist, aber trotzdem noch etwas mit Übersetzung zu tun hat.

Humberto Pérez Mortera und Nadxeli Yrízar Carrillo mit den ersten Büchern aus ihrem Verlag Editorial de la Casa

Du hast gerade deine Tätigkeit als Verleger erwähnt. Aus deutscher Perspektive klingt das seltsam, weil hier Theatertexte in diesem Sinne nicht verlegt werden. Eigentlich wird Theater fast nie in Buchform veröffentlicht. Es gibt nur Manuskripte, die herumgeschickt werden, bis sie ein Regisseur in die Hände bekommt. Der macht dann etwas ganz anderes daraus. Er hat sogar das Recht, einen bestimmten Anteil des Textes zu ändern, bis zu 20 Prozent.

Aber andererseits habt ihr Online-Bibliotheken, wie das Goethe-Institut. Da gibt es eine riesige Online-Theaterbibliothek. So lernen wir in Mexiko seit 20 Jahren das zeitgenössische deutsche Theater kennen. Ich selbst habe Roland Schimmelpfennig, Dea Loher und Marius von Mayenburg dadurch kennengelernt, durch das Lesen. Wir haben die Texte einfach dort gefunden, auf dem Portal, auf der Internetseite. In Mexiko ist das anders. Es stimmt, vor 20 Jahren gab es hier noch mehrere Theaterverlage. Fast 20 Verlage, die viele Texte in Umlauf brachten. Heute gibt es vielleicht noch fünf oder sechs. In den letzten fünf Jahren sind einige Verlage verschwunden, aber mitten in der Pandemie haben meine Freundin Nadxeli Yrízar Carrillo, die auch Übersetzerin ist, und ich uns gesagt, wir gründen jetzt einen kleinen Verlag. Er funktioniert nach dem argentinischen System der cartoneras, die Texte in sehr kleinen Auflagen in Umlauf bringen, manchmal 100, 120, 150, 200 Exemplare. Wir kennen einige Regisseure, Companys und Schauspieler und so bringen wir die Texte unter die Leute.

Aber ihr macht Bücher? Das sind wirklich kleine Bücher, die gedruckt werden.

Ja, sie sind klein, aber es sind richtige Bücher. Wir sind auch sehr stark vom kanadischen Modell inspiriert. Da gibt es den Verlag Atelier 10, aber die bringen nur vier Titel pro Jahr heraus. Zum Beispiel Texte von Olivier Choinière und Alexia Bürger, die ich gerade übersetze, das wird unser nächstes Buch. Im Moment machen wir auch nur vier Titel pro Jahr, vielleicht irgendwann auch mehr. So haben wir drei Monate Zeit für das Layout, das Lektorat und die Übersetzung. Wir übernehmen auch die Kommunikation mit den Autor:innen, und so ist das Buch nach drei Monaten fertig, um in Umlauf gebracht zu werden.

Ihr habt ja bereits Kontakt zu Theaterleuten. Die Idee ist also, dass dadurch vielleicht Produktionen entstehen. Gehört das zu den Auswahlkriterien für euer Programm, für die vier Texte, die ihr veröffentlicht habt? Dass sie in Mexiko funktionieren können?
 
Naja, eigentlich hängt die Auswahl von unserem Geschmack ab. Es ist in erster Linie unser persönlicher Geschmack, der entscheidet. Ich war immer der Meinung, dass man Dinge in sein eigenes Land importieren sollte, die es dort nicht gibt. In Mexiko gibt es kaum Theater für Kinder und Jugendliche. Ich arbeite seit zehn Jahren in diesem Bereich, und langsam wird Kinder- und Jugendtheater populärer. Das ist zum Beispiel der Arbeit von Boris Schoemann zu verdanken, einem französischen Regisseur, der seit 30 Jahren in Mexiko lebt. Er hat viel Theater aus Frankreich und Québec mitgebracht, das hat sehr dabei geholfen, das Theater für junges Publikum hier weiterzuentwickeln. Eines unserer Kriterien ist also, nach dem zu suchen, was in Mexiko fehlt.

Ihr seid beide Übersetzer. Macht ihr auch alle Übersetzungen für euren Verlag?

Ja, weil wir kein Geld für Lektorat und Layout bezahlen können. Während der Pandemie haben wir zum Beispiel mit belgischen Autor:innen gearbeitet. Für so ein Projekt stellen wir dann einen Antrag. Bei der belgischen Autorenvereinigung. Und die geben uns dann vielleicht 800 Euro. Mit diesem Geld machen wir alles, wir bezahlen uns ein bisschen für die Übersetzung, das Layout und das Lektorat, aber eigentlich werden dadurch fast nur die Druckkosten abgedeckt. Die liegen bei beinahe 600 Euro. Also können wir im Moment keine weiteren Übersetzer oder Übersetzerinnen bezahlen.

Also verdient ihr eigentlich kein Geld damit.
 
Nein, nein, ganz und gar nicht. Und selbst wenn wir die Texte in Umlauf bringen, geht es nicht darum, durch den Verkauf Geld zu verdienen. Ja, das Buch wird verkauft, aber der Preis ist niedrig. Wenn ein Buch etwas kostet, ist es wahrscheinlicher, dass die Leute es auch lesen. Aber wenn jemand nicht bezahlen kann, okay, dann sagen wir, du bekommst es geschenkt. Aber wie du schon sagst, das Ziel ist es, eines Tages die Hoffnung zu haben, dass das Buch gelesen, als Hörspiel adaptiert oder inszeniert wird. Und es beginnt langsam, Früchte zu tragen. Unser erstes Buch war die Trilogie von Jennifer Tremblay. Drei feministische Monologe, die sich mit Gewalt gegen Frauen beschäftigen und die in die aktuelle mexikanische Realität passen. Immer mehr Companies und Schauspielerinnen wollen diese Stücke spielen, entweder in Mexiko-Stadt oder irgendwo anders im Land. Es ist ein großer Vorteil, dass es in Mexiko kaum Tourneebetrieb gibt. Also ist es möglich, dass es eine Inszenierung von Jenifers erstem Stück «La Liste» in Mexiko-Stadt gibt und eine weitere im Norden und eine weitere im Süden. Das sind die Vorteile der mexikanischen Geografie.

In Deutschland ist es ein bisschen das Gleiche. Tatsächlich kann es, wenn man Glück hat, bis zu 45 verschiedene Produktionen geben, wie zum Beispiel von Wajdis Mouawads «Verbrennungen«. Weil es geografisch möglich ist.
 

In Frankreich gibt es oft nur eine einzige Inszenierung, haben mir manche Autoren erzählt. Zum Beispiel war Luc Tartar total begeistert, dass wir ein Stück von ihm übersetzt haben, weil es in Frankreich nur eine Produktion gab und es dann vorbei war. In Mexiko gab es jetzt schon mehrere Produktionen seiner Texte.

Wie ist das denn mit Texten aus dem Ausland? Haben die es schwer, sich gegen das nationale Repertoire zu behaupten? Ist das mexikanische Publikum oder das mexikanische Theater neugierig auf Texte aus dem Ausland? Oder ist es schwierig, die zu verkaufen?

Oh, es gibt beides. Manche Leute sagen, nein, es gibt schon mexikanisches Theater, also sollten wir mexikanische Autoren spielen. Aber es gibt auch andere, die sagen, es ist gut, wenn unterschiedliche Textsorten nebeneinander existieren. Für mich geht es immer darum, Dinge in Umlauf zu bringen, damit Texte und Autor:innen einander gegenseitig beeinflussen können. Es ist immer wichtig, neugierig zu sein, um mehr über jemand anderen zu erfahren.

Kannst du sagen, welche Art von Text deiner Erfahrung nach leichter nach Mexiko reist und für welche Texte es vielleicht schwieriger ist? Mir ist es zum Beispiel passiert, dass ich einen Text übersetzt habe und dachte: Wow, das wird in Deutschland wirklich funktionieren, da bin ich mir sicher. Und niemand hat sich dafür interessiert. Während ich andere Texte übersetzt habe, die eigentlich eher Auftragsarbeiten waren, und plötzlich wurden das richtige Erfolge.

Das ist eine gute Frage. Meiner Erfahrung nach könnte ich sagen, dass es Texte leichter haben, die universeller sind, aber eigentlich weiß ich gar nicht wirklich, was die Definition von «universell» ist. Eigentlich hängt alles vom Engagement bestimmter Personen ab. In Mexiko gibt es viele Theaterkünstler:innen, die nach New York reisen und dort Shows am Broadway sehen und sich sagen, ah, das werde ich in Mexiko inszenieren. Also beantragen sie die Rechte und bezahlen die Übersetzung. Aber es gibt auch Mexikaner:innen, die nach Spanien reisen. Die sehen Texte in Spanien und inszenieren sie dann in Mexiko. Andere reisen nach Frankreich oder Québec, um dort nach Texten zu suchen. Aber es sind immer Individuen, glaube ich. Die sagen: Ah, das gefällt mir. Das hängt nicht von den großen Institutionen, den großen Companies ab, es ist eher eine persönliche Entscheidung, einen Text in Mexiko auf die Bühne bringen zu wollen.

Aber was passiert dann? Wenn ein Text zum Beispiel aufgeführt wird, bekommst du als Übersetzer auch Tantiemen, oder?

Ja, aber das ist manchmal sehr, sehr wenig.

Also ist das wirklich kein Beruf, von dem du leben kannst?

Nein, ganz und gar nicht. Ich habe vor fünfzehn Jahren mit dem Übersetzen angefangen. Wenn damals ein Stück aufgeführt wurde, gab es 30 Aufführungen in einer Spielzeit. Damals habe ich also ganz gut Tantiemen bekommen, es war nicht wahnsinnig viel, aber es war in Ordnung. Jetzt sind es in der Regel neun bis zwölf Aufführungen pro Spielzeit. In Deutschland und auch in Kanada ist das Abonnent:innenpublikum sehr wichtig. In Mexiko gibt es kaum Abonnements. Wir müssen bei jeder Vorstellung schauen, wie viele Karten an der Kinokasse verkauft werden. Also ja, ich verdiene mein Geld nicht damit, auch wenn Übersetzen mein Beruf ist. Aber von Tantiemen kann man hier nicht leben.

Du übersetzt hauptsächlich aus dem Französischen, oder?

Bisher ja. Aber das ändert sich gerade. Ich lerne seit zehn Jahren Schwedisch, also habe ich vor ein, zwei Jahren angefangen, Suzanne Osten zu übersetzen, ich weiß nicht, ob du sie kennst. Ihre Arbeit wurde mir von Luc Tartar empfohlen, unter Autoren und Übersetzern ist die Welt ja sehr klein. Ich habe alle ihre Texte gelesen und letztes Jahr zwei davon übersetzt. Einer davon war «Die Kinder der Medea». Das war mein erstes aus dem Schwedischen übersetztes Buch. Ich übersetze auch aus dem Englischen. Ich mag das australische Theater sehr, also werde ich vielleicht in zwei Jahren ein oder zwei Stücke veröffentlichen. Außerdem spreche ich auch noch Portugiesisch. Meine Zukunft liegt also darin, andere Kulturen, die mich interessieren, zu übersetzen, um sie allen zugänglich zu machen.

Und wenn man dich in ein oder zwei Sätzen fragt, was dich an diesem Beruf fasziniert?

Der Gedanke der kulturellen Öffnung. Für mich bedeutet Übersetzen, eine Verbindung zu anderen Menschen herzustellen.

Ist das die gleiche Faszination wie, wenn du Autor bist? Oder gibt es da für dich einen Unterschied?

Du meinst, wenn ich ein Stück schreibe? Ob es einen Unterschied zwischen einem komplett neuen Stück und einer Übersetzung gibt? Vor zehn Jahren dachte ich, dass das zwei völlig verschiedene Dinge sind. Damals befand ich mich irgendwie in einem Wettlauf mit mir selbst. Anstatt eigene Stücke zu schreiben, übersetze ich jetzt mehr. Für mich sind das aber beides «Stücke von mir». Nur ist vielleicht die praktische Arbeit etwas anders. Wenn ich ein Stück oder eine Kurzgeschichte schreibe, muss ich mehr am Schreibtisch arbeiten und mich mehr konzentrieren. Das ist eine andere Strategie. Aber beides sind «Stücke von mir», beides ist irgendwie meine Handschrift.

Ich nehme an, deine Übersetzungen und deine eigenen Textes können sich auch  gegenseitig anstecken?

Ich mag es sehr, wenn sie sich anstecken. Warum auch nicht? Das hilft mir sehr beim Schreiben. Es dauert sehr lange, ein neues Stück zu schreiben, aber ich mag das sehr. Manchmal habe ich auch keine Lust, zu übersetzen. Es tut gut, zwischen beiden Tätigkeiten hin- und herzuspringen.

Das Leben in Mexiko ist wirtschaftlich viel komplizierter und härter als in Deutschland. Wir habt ihr die Pandemie erlebt? Bei uns war es zwei Jahre lang eine Art On-Off-Situation. Mal waren die Theater offen, durften aber nur mit 25 % Auslastung spielen. Dann mal mit bis zu 50 Prozent. Und dann waren die Theater wieder geschlossen. Jetzt dürfen die Säle wieder gefüllt werden, aber mit Maske, Test und Impfung. Und ich glaube, es gibt enorme wirtschaftliche Einbußen. Einige Theaterschaffende haben sich andere Jobs gesucht. Aber es gibt hier immer noch eine Art «Wohlfahrtsstaat», wie auch in Kanada, der den Leuten helfen kann. Ich kann mir vorstellen, dass die Folgen in Mexiko viel, viel, viel heftiger sind.

Ja, ja, natürlich, ja, wir haben kein wirkliches Sozialsystem. Und bei uns waren die Theater fast 18 Monate komplett geschlossen. Seit vier Monaten fängt alles langsam wieder an, aber auch hier durfte zu Anfang nur halb so viel Publikum rein, jetzt spielen wir mit voller Kapazität. Aber immer noch mit cubre-bocas, mit Masken. Es ist gerade eine besondere Situation in Mexiko, weil wir vor drei Jahren einen Regierungswechsel hatten. Das ist das erste Mal seit 40 Jahren, dass es nach der Wahl nicht noch weiter nach rechts ging. Davor war alles neoliberal. Und jetzt haben wir jemanden, der versucht, die Prioritäten zu ändern. Wir werden sehen, was für eine Kulturpolitik dabei entsteht. Früher war die Kultur sehr elitär. Jetzt versucht man, sich mehr für indigene Kultur und unterschiedliche Ausdrucksformen zu öffnen. Man versucht es, aber wir wissen noch nicht, was passieren wird. Es bleibt abzuwarten, wie die Spielpläne aussehen werden, wenn alle pandemiebedingt abgesagten Shows abgespielt sind.

Glaubst du, dass das Publikum zurückkommt? Oder haben sich alle daran gewöhnt, zu Hause Netflix zu schauen?

Ja, wir haben uns an Netflix gewöhnt, aber trotzdem ist Mexiko ist ein Land mit großartigem Klima. Das Wetter ist bei uns sehr gut. Also wollen wir rausgehen und das genießen. Aber es stimmt, dass die Theatertradition bei uns sehr stark zurückgegangen ist. Die Leute gehen eher ins Kino. Ich weiß nicht, wie sich das in Zukunft entwickelt. Wir werden sehen.

Immerhin habt deine Freundin und du ja ein Projekt während der Pandemie gefunden. Das ist doch eigentlich großartig, oder?

Ja, für uns war das eine Gelegenheit, etwas zu tun. Wenn wir schon gezwungen waren, zu Hause zu bleiben, wollten wir wenigstens in der Lage sein, weiterhin das zu tun, was wir lieben, denn wenn wir etwas können, dann Texte in Umlauf bringen. Jetzt machen wir Lesungen und arbeiten mit Schauspieler:innen zusammen. Und wir hoffen, dass wir in den nächsten drei, vier Jahren neue Stimmen, neue Übersetzungen, neue Autor:innen, die wir übersetzt haben, auf der Bühne sehen werden.

Hast du irgendein Traumprojekt, das du in den nächsten Jahren unbedingt realisieren willst?

Ich würde mir wünschen, dass es mehr Theaterübersetzer:innen gibt, viel mehr, weil der Beruf leider immer unpopulärer wird. Das gilt auch für das Übersetzen im Allgemeinen, für die literarische Übersetzung und sogar das Dolmetschen. Ich glaube, in Mexiko gibt es höchstens neun, zehn Übersetzer, die sich selbst als Theaterübersetzer:innen bezeichnen.
Ich würde mir wünschen, dass es 2, 3, 4 für jede Sprache gibt, dass die Ausbildung und generell die Arbeit besser gefördert wird, aber nicht nur von Theatercompanys, sondern auch mit Geld von der Regierung.
In Mexiko ist es generell das Problem, dass wir vor allem von ausländischen Regierungen abhängig sind, um Geld für eine Übersetzung zu bekommen. Ich finde, dass das Land sich auch beteiligen sollte, damit ein Text aus Deutschland oder ein Text aus Polen ins Spanische übersetzt wird. Dass beide Seiten im Verhältnis 50/50 beteiligt sein sollten.
Das ist das, was mich sehr interessiert. Deshalb unterrichte ich seit sechs Jahren Theaterübersetzung im Rahmen eines Studiengangs für literarisches Übersetzen in Mexico City. Im meinem ersten Kurs mache ich Übersetzungsübungen, eine Szene und ein kleines Stück von um die 10 Minuten, im 2. Semester gibt es dann ein ganzes Stück zu übersetzen. Ich begleite ungefähr sechs Übersetzer:innen über vier Monate hinweg bei der Arbeit und bringe sie wenn möglich auch mit den Autor:innen in Verbindung. Es geht darum, die Übersetzer:innen von morgen auszubilden.

Leider gibt es immer noch keine spezifische Ausbildung für Theaterübersetzer:innen. Das ist überall das Problem.
 
Die Studierenden fragen mich immer, ja, du unterrichtest mich, aber wo soll ich am Ende arbeiten? Bei dir, in deinem Verlag? Bei der Company, mit der du arbeitest?
Aber das ist nicht die Antwort. Die Antwort ist, dass jeder seine eigene Company finden muss. Am Ende muss es Arbeit für alle geben. Finanziert von der Regierung und von den Companies, das ist mein Traum.

Ja, da geht es mir ganz ähnlich. Es ist wichtig, eine neue Generation auszubilden, vor allem, weil wir langsam auch nicht mehr die Jüngsten sind, oder?

Ja, das stimmt. Ich lese immer noch jeden Tag Texte. Autorinnen wie Fanny Britt, Mishka Lavigne und neue Stimmen wie Émilie Monnet und ich denke mir, ich würde gerne alles übersetzen, aber ich habe nicht die Zeit dazu. Also würde ich mir wünschen, dass jede Autorin, jeder Autor einen Übersetzer hat, der sagt OK, ich kann das nicht selbst machen, aber ich gebe den Text jemand anderem. Damit er die Stimme dieser Autorin oder dieses Autors in Mexiko bekannt macht. Für mich wäre das toll, wenn wir alle so arbeiten würden und alle unsere  befreundeten Autor:innen in Umlauf bringen könnten, in Mexiko, in Deutschland und in der ganzen Welt. Man kann sich nur wünschen, dass es eines Tages so sein wird.

Immerhin können wir Netzwerke aufbauen…

Ja, und Online-Bibliotheken, wie du es tust, oder wie es das Goethe Institut gemacht hat. Eine Online-Bibliothek ist ein weiterer Traum für mich, eine großartige mexikanische Online-Bibliothek. So wie das Magazin, das du über Kanada gemacht hast. Durch das ich viele englischsprachige kanadischen Künstler:innen kennengelernt habe. Das ist etwas, was in Mexiko fehlt. Wir kennen nur das französischsprachige Kanada und Québec, aber der Rest? Das ist totales Neuland für uns.

Vielen Dank für dieses nette Gespräch. Wie gesagt, selbst wenn wir das Gleiche tun, tun wir es unter manchmal sehr unterschiedlichen Bedingungen. Gleichzeitig beneide ich dich. Ich hätte auch gerne einen eigenen Verlag. Und ich hoffe, dass es sich trotzdem irgendwie für euch auszahlt. Warum habt ihr eigentlich parallel dazu nicht gleich eine Agentur gegründet?

In gewisser Weise arbeiten wir tatsächlich ein bisschen wie eine Agentur. Wenn zum Beispiel eine Company in Mexiko eine meiner oder unserer Übersetzungen auf die Bühne bringen möchte, stelle ich die Verbindungen zwischen dem Autor oder dem Agenten des Autors und der Company her. Ich schreibe eine Menge E-Mails, und manchmal sagt der Agent: «Oh, wenn ich dreißig kanadische Dollar pro Aufführung verlange, ist das für dich in Mexiko angemessen?» Und ich sage: «Nein. Dreißig kanadische Dollar für einen Auftritt bei uns ist zu viel, vielleicht können wir auch nur fünfzehn oder zehn bezahlen. Es gibt ja auch nur 12 Vorstellungen. Und dann noch die Banküberweisungsgebühren, das kann sich die Company gar nicht leisten.» Wir arbeiten also zusammen, um gemeinsam Strategien zu entwickeln. Jedes Land hat da eine andere Vorgehensweise. Das machen wir alles. Aber eine richtige Agentur, das wäre zu viel für mich, weil das nicht mein Ding ist, mich nur um Geld zu kümmern. Geld ist gut, aber es ist nicht mein Beruf. Aber ja, wir arbeiten wie eine Agentur, in kleinerem Rahmen.

Und ohne dafür bezahlt zu werden.

Genau das ist das Problem. Wir müssten dafür Prozente verlangen. Aber das ist sehr schwierig mit den Banken, mit all den Gebühren. Das ist ein weiterer Aspekt unserer Arbeit, für den wir nicht bezahlt werden.

Trotz allem wünsche ich euch viel Erfolg mit der Verlagsarbeit. Und vielen Dank für das Gespräch, Humberto!

Humberto Pérez Mortera wurde 1976 in Mexiko-Stadt geboren. Nach einem Studium der Elektrotechnik studierte er Literarisches Schreiben an der SOGEM (Sociedad General de los Escritores de Mexico). Er arbeitet als Dozent, Lektor und Theaterübersetzer aus dem Englischen, Französischen, Schwedischen und Portugiesischen ins Spanische und verfasst außerdem eigene Theatertexte. 2021 gründete er mit seiner Kollegin und Lebensgefährtin Nadxeli Yrízar Carrillo den Theaterverlag Editorial de la Casa.

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