In der von George Sand gezeichneten Gesellschaft eines privilegierten europäischen Adels, in der die sozialen Normen stark kodifiziert sind, zählt nicht das Individuum, sondern die standesgemäße Erfüllung seiner Aufgaben. So gibt es keinen Raum für Gabriel*les eigene Identität, die heute wohl als genderfluid bezeichnet werden kann. Vielmehr geht es um das, was für sie*ihn als Mann oder als Frau jeweils machbar ist oder erwartet wird. Ausgeblendet bleibt dabei interessanterweise der biologische Faktor der Gebärfähigkeit. Doch erlebt Gabriel*le am eigenen Leib, dass Gender eine Performance ist. Geradezu durchexerziert wird dies in der Duellszene, in der Nebenbuhler Antonio Gabriel*les Geschlecht auf die Probe stellt.
ANTONIO «Halt! Meister! Wenn diese Ohrfeige von der Hand einer Dame kommt, strafe ich sie mit einem Kuss; wenn Sie aber ein Mann sind, geben Sie mir Satisfaktion. (…)»
GABRIEL (…) «Bleiben Sie im Unklaren, wenn Sie wollen, bis Sie an der Art, wie ich meinen Degen einsetze, erkennen, ob ich berechtigt bin, ihn zu tragen.»
Gabriel beweist durch – erlernte – Fechtkünste seine Männlichkeit, indem er Antonio besiegt und verwundet. So entgeht er dem von seinem Gegner (und Möchtegern-Liebhaber) geforderten Geschlechtsnachweis durch das Freilegen der Brust. Mit dem Entblößen der Brust als – auch juristische – Festlegung auf eine weibliche Identität droht auch Gabrielles Cousin und Liebhaber Astolphe, falls sie ihm die Heirat verweigert, die seine Autorität über Gabrielle vertraglich absichern würde. Die begehrte Brust zu schänden, um sie dem patriarchalen Zugriff zu entziehen, erscheint Gabriel als mögliche Erlösung.
«Dieser letzten Beleidigung verweigere ich mich, und eher, als diese Kränkung auf mich zu nehmen, werde ich diese Brust in Stücke reißen, diesen Busen verstümmeln, bis er das Grauen derer weckt, die ihn erblicken, und niemand, der mich nackt sieht, wird lächeln…»
Die simple Gleichung «Brüste = Frau» wird in der Karlsruher Inszenierung gebrochen, indem Gabriel*le-Darstellerin Swana Rode von Anfang an ein transparentes Oberteil trägt. Für mich war es ein wichtiges Erlebnis, den übersetzten Text bei der Premiere endlich leben zu sehen. Jede Übersetzung steckt voller Entscheidungen, die immer auch anders ausfallen könnten. In keiner Version wird es jedoch zu verhindern sein, dass «Gabriel» die Finger tief in die Wunden des sozialen Geschlechts legt.
«Gabriel» von George Sand
In der deutschen Übersetzung von Yasmine Salimi (Aufführungsrechte: henschel SCHAUSPIEL)
Regie: Sláva Daubnerová
Bühne: Sebastian Hannak
Dramaturgie: Anna Haas
Kostüme:Natalia Kitamikado
Mit Swana Rode, Gunnar Schmidt, André Wagner u. a.
Premiere am 14. April 2022 am Badischen Staatstheater Karlsruhe
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