Einen neuen Blick bringt dieses Stück nicht in erster Linie dadurch, dass hier der Selbstermächtigung einer unterdrückten Frau eine Bühne geboten wird, sondern im Gegenteil: Dem schmerzhaften Prozess der De- und Rekonstruktion einer zunächst von außen empowerten Persönlichkeit. George Sand benutzt die Märchenfolie: Prinzen, Fürsten, Schlösser, konspirative Häuser im Wald, Weltflucht, Verkleidungsspektakel im Boudoir und im Karneval, es gibt die Intrige, den Mord. Unter dem Setting einer Fabel erzählt sich eine Parabel. Wie ein kleiner Buddha tritt dieser exemplarische Mensch aus einer Naivität heraus in die Welt, erlebt, macht Fehler, erfährt, erkennt, handelt und verheddert sich schließlich. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Auch hier werden Kollateralschäden entsorgt (nur, dass diesmal die männlichen Kollegen das spielen dürfen). Mit biblischen Motiven demontiert Sand die Konstruktion der Schöpfungsgeschichte. So wie Kleist fragte, ob wir nicht irgendwie von der anderen Seite wieder ins Paradies hineinkommen könnten, im Zweifel durch einen zweiten Sündenfall, so stellt Sand die Frage nach einer anfänglichen Ordnung. Gabriel träumt, er sei eine Frau. Dieser Traum ähnelt dem Sturz der Engel, womit gleich im Anfang des Stückes eine Welt- und Himmelsordnung auf den Kopf gestellt wird. Die Frage nach dem Geschlecht geht weit über die Frage nach einem biologischen Geschlecht eines Individuums hinaus. Die Gender-Frage (im modernen gesellschaftlichen Sinne) wird von Sand fast nebenbei erstaunlich gelassen gestellt. Nicht die Protagonistin hat ursprünglich ein Identitätsproblem, sondern alle Figuren um sie herum jagen Projektionsfantasien hinterher.
Abgeschottet von der Welt wächst Gabriel in einer idealen Blase auf, zwar misogyn erzogen, aber ausgestattet mit unendlicher Neugier und dank der Inkonsequenz seines Mentors auch mit Empathie, geschärfter Urteilskraft und einem moralischen Kompass. Außerhalb dieser Blase gerät er jedoch in Konflikte. Die reale Welt als ein Lokal, eine Spelunke, in der getrunken und sich geprügelt wird, die Welt als Kneipe, Bühne, Spektakel! Die W-Fragen beginnen und nicht nur Gabriel kommt ganz im Sinne Judith Butlers: in Gender Trouble. Von der Kneipe geht es nach gemeinsamer Schuldaufladung (sowohl Gabriel als auch Astolphe bringen einen Menschen um) ins Gefängnis und von da in ein gemeinsames Leben als Freunde und schließlich als Liebende. Nicht zuerst Gabriel hat damit ein Problem, zwischen Gabriel und Gabrielle zu switchen, zwischen Kumpel und Liebender, mit Verwandtschaft oder ohne, sondern eben Astolphe, der mit einer normativen Ideologie aufwartet und alles kaputtmacht, wonach er sich sehnt. Sand erzählt gleichberechtigt vom menschlichen Kampf mit Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit und denkt diese auch immer zusammen. Die Entlarvung dieses binären Systems als Fehlkonstruktion gleicht einer Empörung gegen diese eine Schöpfungsgeschichte. Sand lässt Gabriel zuerst nicht revoltieren, sondern sich in die Debatte begeben: Verstehen, Begreifen, in Dialog treten, Argumentieren. Dennoch führt das in die Eskalation. Zu starr sind gesellschaftliche Normen und Vorurteile.
Statt des Ideals des Genderfluiden erstarren Gender, werden Rückzugsort: Safe Spaces.
Ein Scheitern, denn Sand ist auf der Suche nach einem Zustand der Androgynie. Sie spricht von einem «Dritten Geschlecht». Sie bevorzugt die Gleichwertigkeit (égalité) statt einer Gleichartigkeit (similitude) der Geschlechter. Dies wird Gabriel nicht ermöglicht zu leben. Ständig arbeiten sich sowohl Männer als auch Frauen an der Frage ab, wer oder was Gabriel sei. So bleibt nur Kampf.
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