africologne(1): Die burkinische Schauspielerin und Regisseurin Odile Sankara über Theater als soziales Ereignis Sinn schaffen

In Kooperation mit dem Festival africologne präsentieren wir vier Essays afrikanischer und afro-diasporischer Künstler*innen, die über das widerständige Potenzial ihrer Theaterarbeit reflektieren und gleichzeitig kritisch auf postkoloniale Machtverhältnisse blicken. Den Anfang macht heute Odile Sankara, eine der bedeutendsten Theaterpersönlichkeiten auf dem afrikanischen Kontinent. In ihrem Text für PLATEFORME spricht sie über die Anfänge ihrer Bühnenkarriere, die Verantwortung, die sie als Schauspielerin verspürt, über Theaterarbeit als Widerstand und die wichtige Suche nach bedeutenden weiblichen Vorbildern.

Die Schauspielerin und Regisseurin Odile Sankara (Foto: d.r.)

von Odile Sankara

 

Theater zu machen bedeutet, an einem gemeinsamen Schaffensprozess teilzunehmen, sich voller Verlangen und mit offenen Augen dem Austausch mit anderen Menschen zu verschreiben. Größer als die Gemeinschaft. Ein Vibrieren im tiefsten Inneren. Es ist der geheime Ort des Widerstands, ein tatsächlicher Kampf, der in uns grollt. Wie die Erde, die Wurzeln, die Kraft, die Spiritualität. Meine Theaterpraxis hat es mir ermöglicht, mich einer kollektiven Vorstellungswelt zu öffnen und meinem Gefühl der Zugehörigkeit zur gesamten Menschheit Nahrung zu geben.

Zu Anfang war es wie ein Weg durch die Dunkelheit, auf dem mich nur meine Leidenschaft geleitet hat, oder besser gesagt, meine künstlerische Ader, denn die Leidenschaft kommt mit der Zeit, sie bildet sich heraus. Die Leidenschaft ist die Wahrheit, die versucht, uns zu enthüllen, wer wir sind, und die dafür sorgt, dass wir bei der Ausübung unseres Berufs um jeden Preis auf dem Weg der Suche nach der Freiheit bleiben. Ich kam zum Theater, wie man einen Sprung ins Leere macht. Ohne Anhaltspunkte, ohne Erfahrung, auf die ich mich stützen konnte. Nur mit Verlangen.
Um mich herum herrschte zunächst ein wenig Aufregung, aber sehr schnell war die Sache beschlossen, auch wenn niemand daran glaubte und alle fest davon überzeugt waren, dass es nur ein kurzer Zeitvertreib sei, bis ich einen weniger prekären und angeseheneren Beruf ergreifen würde. Trotz des sozialen Drucks trieb mich die Überzeugung voran, dass ich das starke Glied sein könnte, das zum Aufbau der Menschheit beitragen kann. Ist das nicht unser aller Aufgabe?

 

Odile Sankara in «Terre Ceinte» nach dem Roman von Mohammed Mbougar Sarr, inszeniert von Aristide Tarnagda (Foto: Sophie Garcia)

Für mich schafft Theater sozialen Zusammenhalt. Es ist vom Anfang bis zum Ende ein menschliches Abenteuer. Durch die Werkzeuge, die es verwendet, ist es eine Religion, eine Medizin, eine echte Therapie, um die Sinne zu wecken und die Seele zu heilen. Warum ist das so? Weil es mit einer mächtigen und furchterregenden Waffe ausgestattet ist, der Poesie und ihren Worten, die glühend nachhallen. Das ist es, was Widerstand bedeutet. Nein zur Ungerechtigkeit zu sagen, das Unnennbare mit Kraft und Schönheit zu benennen. Bei jedem neuen Projekt, bei dem ich auf der Bühne in mein Theatermacherinnenkostüm schlüpfe, vergesse ich nicht, dass ich Millionen anderer Frauen in mir trage. Und dass ich das Leid in golden glänzende Lichtpunkte verwandeln muss.
Auf jeden Fall muss ich das Theater so begreifen. Und die Zeit ist es, die es für uns definiert. Drei Jahrzehnte Übung auf der Bühne, bis sich das Bewusstsein für den Beruf einstellt. Jahrzehnte, in denen wir uns abarbeiten wie der heilige Skarabäus, der es sich jeden Tag zur Aufgabe macht, die Scheiße auf seinem Weg wegzuräumen, ohne sich Fragen zu stellen. Man könnte dieses Bild mit dem Begriff «Engagement» verbinden. Ein totales Engagement. Wie Mütter, die ihre Nachkommen in der Stille ihrer inneren Welt erziehen.

Szene aus «Et que mon règne arrive» von Léonora Miano, inszeniert von Odile Sankara (Foto: Christophe Pean)

Die Entscheidung, Schauspielerin zu werden und als Schauspielerin Karriere zu machen, kam nach einigen Jahren unterschiedlicher Tätigkeiten am Theater. Aus zwei Gründen: Ich wollte als Frau existieren. Und das Wort ergreifen. Dieser Akt des Engagements war zunächst eine Form des Widerstands. Widerstand gegen die Ketten, die uns festhalten, die Dekonstruktion vorgefasster Meinungen, um uns schließlich voll und ganz zu befreien. Und schnell kam angesichts der Entwicklung unserer Gesellschaften ganz selbstverständlich die Idee des sozialen Engagements hinzu.
Theater hat nur deshalb einen Sinn, weil es für eine Gemeinschaft bestimmt ist, die es sich zu eigen macht. Gemeinsam schaffen wir Sinn und das müssen wir auch, denn die gegenwärtige Krise der Menschheit ist eine Sinnkrise. Jedoch müssen die Kunst, die Poesie und das Theater Emotionen hervorrufen, damit die Katharsis eintreten kann. Stellen Sie sich vor, wie das möglich ist, stellen Sie sich mich vor, eine Frau, die auf dem afrikanischen Kontinent lebt. Könnte ich beim Ausleben meiner Kunst alles um mich herum ausblenden, das Leid der anderen Frauen nicht sehen und mich nicht von all diesem Leid und den Erfahrungen von Millionen von Frauen durchdringen lassen? Ich spreche nicht von «Gender», das wohl das Lieblingskonzept des Jahrhunderts ist. Ich könnte das auf andere marginalisierte soziale Kategorien ausdehnen. Menschen, die lautlos dahinschleichen, die fiebrig sind und zittern. Bei jedem neuen künstlerischen Projekt ist mir bewusst, dass ich die Erwartungen aller Frauen, Mütter, aber auch all jener anderen Menschen in mir trage, d. h. der Mehrheit, die nach Freiheit strebt und schweigend über ihren Kummer nachsinnt.

Szene aus «Et que mon règne arrive» von Léonora Miano, inszeniert von Odile Sankara (Foto: Christophe Pean)

Ich vergesse nie, dass ich privilegiert bin.

Aus diesem Grund habe ich mich entschieden, selbst zu inszenieren. Genau an dem Ort meines Unwohlseins und meiner Fragen möchte ich das Wort ergreifen. Ich will das hier nicht weiter ausführen, denn ein solcher Ansatz ist nicht besonders ungewöhnlich. Es scheint mir jedoch wichtig, mich hier zu meiner letzten Regiearbeit zu äußern: Et que mon règne arrive, ein Text von Léonora Miano. Ein gemeinsamer Wunsch einer Autorin und einer Regisseurin, einander in der künstlerischen Arbeit zu begegnen. Diesmal mache ich keinen Sprung ins Leere, nein, ich mache eine echte Begegnung mit der Kunst des gemeinsamen Schaffens. Es ist ein Wendepunkt in meiner Karriere. Ich hatte das Bedürfnis, das Wort zu ergreifen, weil es dringend ist, weil angesichts des Verfalls der Emotionen und der allgemeinen Desillusionierung alles dringend ist.
Et que mon règne arrive ist ein Text, ein Denken, strukturiert, um einer starken, einzigartigen Stimme Gehör zu verschaffen, die von dem Ort aus spricht, von dem ich stamme. Léonora Miano zeugt durch ihren Werdegang und ihre Präsenz in der Welt von einer komplexen Reflexion über den Feminismus, die afrikanische Frau, Afrika und seine Diaspora und ganz allgemein über die Gesellschaft, die sie umgibt. Ich wollte einen Text, der uns aus der Opferrolle herausholt und uns mit den Themen Bildung und Weitergabe eine Zukunftsperspektive eröffnet. Die Frage der globalen Schwesternschaft auf die Theaterbühne zu bringen, bedeutet, sich hier und jetzt die Herrschaft der Frauen vorzustellen, die Triebkraft für eine Veränderung der Welt sein kann.
Wie können wir afrikanischen Frauen anerkannt werden und uns Gehör verschaffen, wie können wir uns von Schuldgefühlen lösen, wie können wir uns auf die bedeutenden Frauengestalten in der Geschichte Afrikas berufen, die mit der Waffe in der Hand für ihre Freiheit und gleichzeitig auch für die der Männer gekämpft haben?
In diesen Zeiten, wo Bewusstsein und Widerstand erwachen, ist es wichtig, dass die uralten Fragen und die Vielfalt der möglichen Antworten aus einer weiblichen Perspektive zu uns gelangen.
Theater in seinen verschiedenen Formen bleibt eine Gesamtkunst. Aus diesem Grund sind alle Bezeichnungen wie «engagierte Kunst», «aktivistisches Theater» oder «politisches Theater» ein Missbrauch der Sprache, denn Kunst im Allgemeinen und das Theater im Besonderen sind all das zugleich. Im Licht der Form beleuchtet es den Inhalt und umgekehrt. Es berührt das Bewusstsein, ich würde sogar sagen, die menschliche Seele.

Szene aus «Et que mon règne arrive» von Léonora Miano, inszeniert von Odile Sankara (Foto: Christophe Pean)

Theater in Ouagadougou zu machen  oder in Tokio oder im tiefsten North Carolina, bedeutet, mit Ungerechtigkeit konfrontiert zu sein, mit politischer Misswirtschaft, dem Verhältnis zur Macht, der politischen und wirtschaftlichen Krise, mit Religion, Medizin, Bildung, Weitergabe, Spiritualität, Problemen in Paarbeziehungen, dem Zerfall der Familie, mit Korruption, Eifersucht, Ängsten, Gewalt, Gewalt gegen Frauen, mit Krieg, Vergewaltigung, Pädophilie, Krankheiten, Immigration, Überschwemmungen, Ausbeutung der einen durch die anderen, Plünderung der Reichtümer eines Teils der Welt durch einen anderen, Neokolonialismus, Umweltzerstörung, Auslaugung der Böden, Einsatz von Pestiziden, Klimaerwärmung, mit erneuerbaren Energien, Terrorismus, Armut, Elend, Leben, Tod usw.
Natürlich gibt es allgemeine Fragen und spezifische Fragen, die sich jedem einzelnen Individuum stellen, je nachdem, wo es auf der Erde lebt. Aber letztendlich betreffen diese Fragen uns alle und müssen uns im Namen der Globalisierung betreffen. Kein Land und kein Mensch wird dem Schlimmsten entkommen. Am Ende ist es also der Blick, den wir auf die Welt werfen, der ihr Sinn verleiht und der das Theater erschafft.

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

 

Die Schauspielerin und Regisseurin Odile Sankara (Foto: d.r.)

Odile Sankara ist eine der bedeutendsten Theaterpersönlichkeiten auf dem afrikanischen Kontinent.  Sie ist die Präsidentin des Festivals und der Theaterplattform Les Récréâtrales mit Sitz in Ouagadougou. Die burkinische Schauspielerin und Regisseurin war unter anderem an Inszenierungen von Amadou Bourou, Jean Louis Martinelli, Jean Lambert-Wild, Pierre Guilloisou, Moïse Touré, Fargass Assandé und Aristide Tarnagda beteiligt und hat an zahlreichen internationalen Tourneen teilgenommen.
Derzeit spielt sie in «Terre Ceinte» und «La plus secrète mémoire des hommes» von Mohamed Mougar Sarr, zwei Romanen, die von Aristide Tarnagda adaptiert und inszeniert wurden.
Als Regisseurin ist die Theaterarbeit für sie nicht nur eine Leidenschaft sondern auch und vor allem eine Herausforderung, um Frauen in die Strukturen des Theaterschaffens in Afrika einzubinden. Ihr Engagement ist ein Wunsch nach Emanzipation. Sie hat Texte von Aimé Césaire, Aristide Tarnagda und Leonora Miano inszeniert und ist Gründungsmitglied der Association Talents de Femme in Burkina Faso.

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Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

Im Rahmen des Kölner Festivals africologne ist Odile Sankara am 5. und 6. Juni in der Alten Feuerwache in Aristide Tarnagdas Inszenierung von «Terre Ceinte» von Mohammed Mbougar Sarr zu sehen. Außerdem nimmt sie am 5. Juni um 21 Uhr an der Diskussionsrunde «Gewalt und Widerstand» teil.

 

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