Dante auf Deutsch
Bis dahin hatte ich diese verschiedenen Herangehensweisen beobachtet und auch gemerkt, wie verschieden sie sein konnten: die eine, die ich die französische nenne, wo es darum geht, den Text gut zu hören und die andere, die deutsche, wo es darum geht, zu handeln oder eher in einer Situation zu sein, die zum Sprechen bringt. Selbst hatte ich aber noch nicht ausprobiert, wie es ist, in einer anderen Sprache zu spielen. Diese Möglichkeit kam, als ich 2007/2008 mit der Regisseurin Maya Boesch im GRÜ (Théâtre du Grutli in Genf) arbeiten durfte. Ich war Teil des Ensembles, das für eine Spielzeit gegründet wurde (in der französischen Schweiz haben die Theater, wie in Frankreich, keine eigenen Ensembles, es war also ein Versuch). Die ganze Spielzeit drehte sich um das Inferno – den ersten Teil von Dantes epischem Gedicht «Die Göttliche Komödie». Wir zehn Ensemble-Schauspieler:innen haben die ganzen 34 Gesänge des Infernos gelernt und zu Spielzeitende in einer langen Nacht gespielt. Den fünften Gesang durfte ich auf Deutsch lernen, und das war ein Aha-Erlebnis. Ich habe mich selbst nicht wiedererkannt, der Text lag ganz woanders im Körper. Ihn nur im Kopf auswendig zu lernen war da unmöglich, ich musste den Text in Bewegung lernen, es war eine ganz andere körperliche und sinnliche Erfahrung.
Dies lag einerseits daran, dass es einfach schwieriger war, in einer Fremdsprache Text zu lernen. Ich musste die Worte oft in den Mund nehmen, sie häufig sagen, damit sie richtig ausgesprochen herauskamen, das war anstrengend. Andererseits lag es auch an der deutschen Sprache, die einen ganz anderen Rhythmus hat. Ich habe mich so geerdet gefühlt, als ich diesen fünften Gesang sprechen musste. Es war wunderbar. Daraufhin bin ich nach Berlin gezogen!
Französisch vs. Deutsch
Ich wollte tatsächlich auf Deutsch spielen. Ich hatte die Überzeugung, dass ich nur weiterkomme, wenn ich mich mit der deutschen Sprache auseinandersetzen kann. Auf Deutsch konnte mein Körper endlich mitsprechen! Auf Französisch hatte ich immer den Eindruck, mein Körper sei von meinem Kopf und von der Sprache getrennt.
Ich hatte es schon gespürt, als wir mit Michel Deutsch an Heiner Müller gearbeitet haben. Ich habe die Texte immer auch auf Deutsch gelesen. Und so einfache Sätze wie: ICH BIN OPHELIA. fand ich einfach viel stärker als JE SUIS OPHÉLIE. Im ersten Fall bekommt jedes Wort eine Kraft, in zweiten schwebt irgendwie der ganze Satz.
Es geht natürlich auf der Bühne nicht darum, die Worte zu spielen, sondern darum, was dahintersteckt. Und so ist ja auch die Arbeit von Übersetzer:innen: Es geht nicht darum, jedes einzelne Wort in die andere Sprache zu übersetzen, sondern das, was eigentlich gesagt wird – und das wiederum ist eine Frage der Interpretation!
Ich weiß noch, dass ich auf Französisch große Mühe hatte, mich von den Wörtern zu distanzieren -eigentlich ein typischer Anfänger:innenfehler: nämlich die Worte zu spielen anstatt der Situation. Als ich angefangen habe, auf Deutsch zu spielen, war ich mit anderen Dingen beschäftigt: wie eben, die Wörter einfach richtig auszusprechen, in der richtigen Reihenfolge bis zum Ende des Satzes, wenn endlich das Verb kommt! Das hat mich wahnsinnig befreit. Es ging plötzlich um etwas anderes. Mein Körper musste sich an dieser Sprache abarbeiten, diese Worte richtig aussprechen. Der Text wurde gekaut, wieder ausgespuckt, blieb stecken, erforderte den Einsatz des ganzen Körpers. Auf Deutsch zu spielen hat mir dabei geholfen, die Materie der Sprache und der Wörter stärker körperlich zu erfahren. Es hat bestimmt damit zu tun, dass Deutsch eben nicht meine eigentliche Muttersprache ist und sie mehr Anstrengung erfordert, aber ich denke, dass es auch an der Sprache selbst liegt. Die deutsche Sprache befindet sich ganz woanders im Körper als die französische. Sie klammert sich fest, wie eine Kletterpflanze, wie Efeu, und gleichzeitig will sie sich erden wie eine alte Eiche, sie zieht eher nach unten, zum Boden. Die französische Sprache dagegen, so empfinde ich es, will immer nur hoch, und man muss sehr hart kämpfen, um sie zu erden, eigentlich geht es kaum, sie fliegt hoch zum Mund, zum Kopf.
Dazwischen
In Deutschland bin ich eine französisch-schweizerische Schauspielerin geblieben. Und wenn ich auf Französisch spiele, spüre ich eine neue Kraft, die ich meiner deutschen Erfahrung verdanke. Mein Weg im Theater ist ein Weg zur Sprache. Eine Suche nach meiner eigenen Sprache. Irgendwo dazwischen. Zwischen Deutsch und Französisch, zwischen Wort und Körper. Das Schauspielen erlaubt es mir, Texte mit meiner eigenen Sprache zu übersetzen und greifbar zu machen.
Diese Freude, die ich als Kind beim Spielen am Strand – auf Deutsch, Französisch oder Italienisch – empfunden habe, empfinde ich auf der Bühne wieder. Als Schauspielerin übernehme ich die Rolle der Vermittlerin und der Übersetzerin.
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