Die zweisprachig arbeitende Schauspielerin Lucie Zelger über das Spielen als Übersetzung Zwischen Himmel und Erde

Als ich ein Kind war, haben wir mehrere Jahre lang unsere Sommerurlaube in einer kleinen Stadt an der ligurischen Küste verbracht. Ich habe diese Ferien, in denen wir den ganzen Tag am Strand waren, geliebt. Jedes Jahr haben wir dieselben Kinder am Strand wieder getroffen. Sie kamen für den ganzen Sommer aus den großen Städten Norditaliens, wie Genua, Turin oder Mailand. Schon ab dem zweiten Jahr haben wir in meiner Wahrnehmung zu den Einheimischen gehört! Sehr schnell hatte ich meine Rolle in dieser «Strandkinderbande» gefunden: Ich übersetzte. Ich habe diese Rolle geliebt, ich war im Zentrum, konnte vermitteln, wusste alles. Mein Italienisch war bestimmt zäh, ich hatte es allein durch unsere vielen Italienreisen gelernt und mein Deutsch sehr wenig praktiziert, da wir zu Hause, obwohl meine Mutter aus Deutschland kam, nur Französisch gesprochen haben. Aber ich habe meine Rolle sehr ernst genommen und leidenschaftlich für alle übersetzt. Sie waren mein Publikum!

Bei der Arbeit an diesem Text über meine Perspektive als zweisprachige Schauspielerin ist mir diese Kindheitserinnerung wieder eingefallen. Ich glaube, dass ich dieses Spielen in mehreren Sprachen schon immer gesucht und geliebt habe.

Meine französische Ausbildung

Die Schauspielschule habe ich in Genf auf Französisch abgeschlossen. Einer meiner ersten Dozenten war Michel Deutsch, ein französischer Autor und Regisseur. Wir haben an seinen eigenen Texten gearbeitet, aber da er auch ein großer Heiner Müller-Liebhaber ist, haben wir auch mehrere Müller-Stücke aufgeführt. Dank ihm habe ich mit Anfang zwanzig diesen unglaublichen Autor kennengelernt. Michel Deutsch war für mich eine wichtige Begegnung, und ich habe von da an regelmäßig mit ihm gearbeitet. Trotz seiner Liebe für deutsche Autoren hat Deutsch eigentlich eine sehr französische Art, Theater zu machen. Was ich damit meine, ist eine Spielweise, die mit der Nouvelle Vague angefangen hat: so wenig spielen wie möglich und den Text einfach sagen.
Es geht hauptsächlich um die Idee, die Worte und natürlich auch das Politische im Text. Obwohl wir Heiner Müllers Texte gespielt haben, waren wir nicht im Körper sondern in den Worten.

Schon kurz nach der Schauspielschule durfte ich mit Matthias Langhoff arbeiten. Wir hatten eine lange Probenzeit in Paris am Théâtre des Amandiers, und obwohl ich eine sehr kleine Rolle hatte, habe ich sehr viel dabei gelernt. Es war sehr spannend zu sehen, wie er arbeitet. Er wollte nicht, dass wir den Text bereits auswendig kannten. Der Text musste auf der Bühne durch die Proben in den Körper einfließen, es sollte keine Kopfsache sein. Langhoff gab den Schauspieler:innen immer eine konkrete Tätigkeit – wie zum Beispiel Kartoffeln schälen – um sich darauf konzentrieren zu können, damit der Text dann einfach so herauskommt wie er herauskommt, also ohne zu denken. Wichtig ist dabei das Handeln.

 

Lucie Zelger in «Miss None» von Guillaume Poix, Inszenierung Manon Krüttli (Foto: Dorothée Thébert)

Dante auf Deutsch

Bis dahin hatte ich diese verschiedenen Herangehensweisen beobachtet und auch gemerkt, wie verschieden sie sein konnten: die eine, die ich die französische nenne, wo es darum geht, den Text gut zu hören und die andere, die deutsche, wo es darum geht, zu handeln oder eher in einer Situation zu sein, die zum Sprechen bringt. Selbst hatte ich aber noch nicht ausprobiert, wie es ist, in einer anderen Sprache zu spielen. Diese Möglichkeit kam, als ich 2007/2008 mit der Regisseurin Maya Boesch im GRÜ (Théâtre du Grutli in Genf) arbeiten durfte. Ich war Teil des Ensembles, das für eine Spielzeit gegründet wurde (in der französischen Schweiz haben die Theater, wie in Frankreich, keine eigenen Ensembles, es war also ein Versuch). Die ganze Spielzeit drehte sich um das Inferno – den ersten Teil von Dantes epischem Gedicht «Die Göttliche Komödie». Wir zehn Ensemble-Schauspieler:innen haben die ganzen 34 Gesänge des Infernos gelernt und zu Spielzeitende in einer langen Nacht gespielt. Den fünften Gesang durfte ich auf Deutsch lernen, und das war ein Aha-Erlebnis. Ich habe mich selbst nicht wiedererkannt, der Text lag ganz woanders im Körper. Ihn nur im Kopf auswendig zu lernen war da unmöglich, ich musste den Text in Bewegung lernen, es war eine ganz andere körperliche und sinnliche Erfahrung.

Dies lag einerseits daran, dass es einfach schwieriger war, in einer Fremdsprache Text zu lernen. Ich musste die Worte oft in den Mund nehmen, sie häufig sagen, damit sie richtig ausgesprochen herauskamen, das war anstrengend. Andererseits lag es auch an der deutschen Sprache, die einen ganz anderen Rhythmus hat. Ich habe mich so geerdet gefühlt, als ich diesen fünften Gesang sprechen musste. Es war wunderbar. Daraufhin bin ich nach Berlin gezogen!

Französisch vs. Deutsch

Ich wollte tatsächlich auf Deutsch spielen. Ich hatte die Überzeugung, dass ich nur weiterkomme, wenn ich mich mit der deutschen Sprache auseinandersetzen kann. Auf Deutsch konnte mein Körper endlich mitsprechen! Auf Französisch hatte ich immer den Eindruck, mein Körper sei von meinem Kopf und von der Sprache getrennt.

Ich hatte es schon gespürt, als wir mit Michel Deutsch an Heiner Müller gearbeitet haben. Ich habe die Texte immer auch auf Deutsch gelesen. Und so einfache Sätze wie: ICH BIN OPHELIA. fand ich einfach viel stärker als JE SUIS OPHÉLIE. Im ersten Fall bekommt jedes Wort eine Kraft, in zweiten schwebt irgendwie der ganze Satz.

Es geht natürlich auf der Bühne nicht darum, die Worte zu spielen, sondern darum, was dahintersteckt. Und so ist ja auch die Arbeit von Übersetzer:innen: Es geht nicht darum, jedes einzelne Wort in die andere Sprache zu übersetzen, sondern das, was eigentlich gesagt wird – und das wiederum ist eine Frage der Interpretation!

Ich weiß noch, dass ich auf Französisch große Mühe hatte, mich von den Wörtern zu distanzieren -eigentlich ein typischer Anfänger:innenfehler: nämlich die Worte zu spielen anstatt der Situation. Als ich angefangen habe, auf Deutsch zu spielen, war ich mit anderen Dingen beschäftigt: wie eben, die Wörter einfach richtig auszusprechen, in der richtigen Reihenfolge bis zum Ende des Satzes, wenn endlich das Verb kommt! Das hat mich wahnsinnig befreit. Es ging plötzlich um etwas anderes. Mein Körper musste sich an dieser Sprache abarbeiten, diese Worte richtig aussprechen. Der Text wurde gekaut, wieder ausgespuckt, blieb stecken, erforderte den Einsatz des ganzen Körpers. Auf Deutsch zu spielen hat mir dabei geholfen, die Materie der Sprache und der Wörter stärker körperlich zu erfahren. Es hat bestimmt damit zu tun, dass Deutsch eben nicht meine eigentliche Muttersprache ist und sie mehr Anstrengung erfordert, aber ich denke, dass es auch an der Sprache selbst liegt. Die deutsche Sprache befindet sich ganz woanders im Körper als die französische. Sie klammert sich fest, wie eine Kletterpflanze, wie Efeu, und gleichzeitig will sie sich erden wie eine alte Eiche, sie zieht eher nach unten, zum Boden. Die französische Sprache dagegen, so empfinde ich es, will immer nur hoch, und man muss sehr hart kämpfen, um sie zu erden, eigentlich geht es kaum, sie fliegt hoch zum Mund, zum Kopf.

Dazwischen

In Deutschland bin ich eine französisch-schweizerische Schauspielerin geblieben. Und wenn ich auf Französisch spiele, spüre ich eine neue Kraft, die ich meiner deutschen Erfahrung verdanke. Mein Weg im Theater ist ein Weg zur Sprache. Eine Suche nach meiner eigenen Sprache. Irgendwo dazwischen. Zwischen Deutsch und Französisch, zwischen Wort und Körper. Das Schauspielen erlaubt es mir, Texte mit meiner eigenen Sprache zu übersetzen und greifbar zu machen.
Diese Freude, die ich als Kind beim Spielen am Strand – auf Deutsch, Französisch oder Italienisch – empfunden habe, empfinde ich auf der Bühne wieder. Als Schauspielerin übernehme ich die Rolle der Vermittlerin und der Übersetzerin.

Lucie Zelger Porträt (Foto: Stefan Klüter)

Lucie Zelger hat den Großteil ihrer Kindheit in Genf verbracht. Sie hat dort 2004 die Schauspielschule (ESAD) absolviert und arbeitet jetzt als Schauspielerin in der Schweiz, in Frankreich, Belgien und Deutschland. Für die Bühne hat sie mit unterschiedlichen Regisseur:innen gearbeitet, unter anderem mit Michel Deutsch, Matthias Langhoff, Manfred Karge, Maya Boesch, Peggy Thomas, Lydia Ziemke und zuletzt mit Manon Krüttli. 2010 nahm sie am Internationalen Forum des Theatertreffens teil. Von den Schweizer Casterinnen Susann Müller und Corinna Glaus wurde sie für «Junge Talente» nominiert und arbeitet immer wieder auch für Film und Fernsehen. 2020 war sie am Schauspielhaus Hamburg tätig. 2021 wieder einmal in ihrer Heimatstadt Genf mit einem Text von Guillaume Poix. Zurzeit wohnt Lucie mit ihrer Familie in Weimar (Holzdorf).

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