Ein Gespräch mit der litauischen Übersetzerin Akvilé Melkunaité »Leute können sich verstehen, ohne ihre Unterschiede zu vergessen.«

Frank Weigand: Akvilé, du lebst und arbeitest in Vilnius. Du machst viele verschiedene Dinge, wie z.B. Kulturmanagement, aber dein Hauptberuf ist immer noch das Übersetzen. Wie kam es dazu, dass du dich für diesen Beruf entschieden hast?

Akvilé Melkunaité: Eigentlich hat sich der Beruf für mich entschieden. Das war nicht wirklich geplant. Ich war in einer Schule, wo der Englischunterricht mit sechs Jahren begann. Russisch war für alle verpflichtend, da wir ja noch zur Sowjetunion gehörten. Ich hatte also zwei Fremdsprachen. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für Sprachen und Literatur. Nach zwölf Jahren Schule musste ich mich für ein Studium entscheiden. Damals wollte jeder Englisch an der Universität von Vilnius studieren. Aber ich dachte mir, zehn Jahre Englisch sind genug, also kam ich auf die Idee, Französisch zu machen. Meine Tante und meine Mutter, die beide Lehrerinnen waren, fanden eine Nachhilfelehrerin für mich, die mir die Grundlagen für die Aufnahmeprüfung beibrachte. Damals hatte ich keine Ahnung von französischer Kultur, nur Klischees über Poesie, Malerei, den Eiffelturm, Van Gogh und so weiter. Es war also ein Sprung ins kalte Wasser, ohne eine wirkliche Vorstellung, was ich später damit machen würde. Und es war auch das Ende der Sowjetzeit. Wir hatten das Gefühl, dass etwas passieren würde, dass sich etwas öffnen würde. Es gab Demonstrationen. Es wurden viele patriotische Lieder gesungen und es ging darum, die Mauern einzureißen und die Unabhängigkeit des Landes zurückzugewinnen. Gerade war die Berliner Mauer gefallen. Es herrschte also eine Art Aufbruchsstimmung. Und vielleicht wurde es deshalb realistischer, eine Sprache zu lernen. Und so bestand ich die Aufnahmeprüfung.
Ein langes Stück meiner Biografie ist mit meiner Nachhilfelehrerin, der Literaturwissenschaftlerin Genovaité Dručkutė verbunden. Sie unterstützte mich bei meinem Studium und meinen Jahresabschlussarbeiten. Anschließend hatte ich eine Professorin namens Laima Rapšytė, die Camus und viele Klassiker und auch viel Theater übersetzt hat. Sie hat uns nur selten unterrichtet, aber ich habe ihre Art zu denken sehr bewundert. Sie sprach mit uns über ihre Einstellung zum Übersetzen, aber auch allgemein über das Leben. Und ich glaube, das hat mich sehr beeinflusst. Für meine Abschlussarbeit habe ich «Nadja» von André Breton übersetzt. Mit einem kleinen historischen Überblick über den Kontext. Ab dem zweiten Studienjahr habe ich als Dolmetscherin gearbeitet, zuerst für Englisch, dann für Französisch. Das habe ich gut 15 Jahre lang gemacht. Nach der Uni bekam ich eine kleine Stelle bei einem Verlag, der sofort meine Übersetzung von «Nadja» herausgebracht hat, also habe ich das als Hobby neben meinem Job weitergemacht.

 

Im Bereich Übersetzung gelten Theaterübersetzer:innen beinahe als Außerirdische. Wie bist du dazu gekommen?

Stimmt, ich hätte beim Wort «Übersetzung» nie an Theater gedacht. 1995 war ich gerade dabei, mein Studium abzuschließen und dolmetschte nebenher. Damals gab es großes Interesse an unserem Theater und unserer Kultur – aus Frankreich und aus dem Westen im Allgemeinen. Es war die Zeit einer besonderen Generation von Regisseuren, Oskaras Koršunovas bei uns, und sein Zeitgenosse Thomas Ostermeier in Deutschland. Damals kam die französische Regisseurin Brigitte Jaques-Wajeman nach Vilnius, um das Stück «Elvire Jouvet 40» zu inszenieren. Meine Lehrerin Laima Rapšytė hatte den Text übersetzt, und ich dolmetschte die Proben. Brigitte Jaques-Wajeman hatte das litauische Theater in Frankreich bekannt gemacht, und auf ihre Initiative hin kam der Direktor des Festival d’Avignon nach Vilnius und beschloss, Oskaras Koršunovas einzuladen. Und damit begann meine Zusammenarbeit mit ihm. Ich dolmetschte gerade, als eine Übertitelung gebraucht wurde. Und dann wurde ich gefragt, weil ich ja sowieso vor Ort war. Das heißt, ich habe den Beruf durch die Praxis gelernt. Außer dem Unterricht meiner Übersetzungprofessorin hatte ich keine theoretischen Grundlagen.
Ich fing also an, Übertitel zu machen und irgendwann wollte Oskaras Koršunovas «Roberto Zucco» von Bernhard-Marie Koltès inszenieren. Er brauchte eine Übersetzung, und da ich eben da war, fragte er mich, und das war dann meine erste Theaterübersetzung. Ich hatte keine Ahnung, was das war. Ich hatte noch nicht mal Angst, das kam mir ganz natürlich vor. Ich war schon mit «Ici être là», seiner Trilogie nach Danil Charms, und «La Vieille 2» nach Werken von Alexander Vvedensky als Übertitlerin auf Tournee gewesen. Bei «Roberto Zucco» war ich bei den Proben dabei und überprüfte mit den Schauspieler:innen und dem Regisseur, wo der Text funktionierte und wo nicht. Damals fing ich an, zu begreifen, was Theaterübersetzung eigentlich bedeutete, aber theoretisches Wissen hatte ich wie gesagt, keines.

 

Du hast also angefangen, Theater in dem sehr pragmatischen, sehr präzisen Rahmen einer Produktion zu übersetzen, in dem viele Dinge bereits festgelegt waren. Es war klar, wer die Schauspieler:innen sein würden, und man brauchte «nur noch» den Text, weil der Regisseur wahrscheinlich schon eine Inszenierungsidee im Kopf hatte. Aber später hast du auch Texte übersetzt, die als eine Art Partitur für mehrere verschiedene Inszenierungen dienen konnten.

Ja, das stimmt. Bald bekam ich Übersetzungsaufträge oder schlug auch selbst Stücke vor. Irgendwann, nach einem Übersetzerkongress in der Chartreuse in Frankreich, hatte ich ein ganzes Paket von Texten, die ich vorschlagen konnte. Diese Veranstaltung hat mir ein wenig die Augen geöffnet, weil wir da die Gelegenheit hatten, Lesungen zeitgenössischer französischer Texte zu hören. Da waren einige Sachen dabei, die mir gefallen hatten. Später habe ich sie ins Litauische übersetzt und wir haben sie hier auf einem internationalen Festival szenisch gelesen. Es gab Texte, die ich sehr mochte und bekannt machen wollte, u. a. Stücke von Emmanuel Darley, von Fabrice Melquiot und «Bouge plus» von Philippe Dorin, ein Stück für Kinder und Jugendliche. Ich habe es übersetzt, wir haben eine Werkstattlesung gemacht, fast eine Inszenierung. Das ist ein Text, den ich immer noch liebe und den seitdem viele Studenten und Theatergruppen für Regieübungen verwendet haben. So bin ich auf den Geschmack gekommen, Theater zu übersetzen. Es macht Spaß, zuzusehen, wie ein Text auf der Bühne Gestalt annimmt. Das ist ein Ereignis mit seiner eigenen Dauer. Wenn du ein Buch übersetzt hast und jemanden im Bus siehst, der es liest, ist das toll, aber das war es dann auch schon.

 

Französisches Theater (aus Frankreich) zu übersetzen ist eine ganz besondere Herausforderung. In Frankreich gibt es traditionell eine stark literarische und stilisierte Theaterpraxis, die einzigartig auf der Welt ist. Der Text ist dort fast unantastbar, was sich sehr vom deutschen System mit unserer Tradition des «Regietheaters» unterscheidet. Ist die kulturelle Kluft zwischen dem litauischen und dem französischen Theater genauso groß?

In Litauen ist traditionell der Regisseur König. Das stammt noch aus der osteuropäischen Theatertradition. Das ändert sich langsam, es gibt jetzt mehr Kollektivarbeit, bei der alle Stimmen zählen. Aber als ich anfing, im Theater zu arbeiten, hatte immer der Regisseur das Sagen und entschied sogar über Striche im Text. Damals war das Theater ein Ort, an dem man Dinge zwischen den Zeilen sagen konnte, verbotene Dinge. Es war vor allem ein Theater der Metaphern. Die Leute gingen ins Theater, um Dinge zu hören oder auf der Bühne zu sehen, die gesagt oder gezeigt wurden, aber oft nicht im Text standen. Es gab dieses Vergnügen daran, Fabeln zu entschlüsseln, Witze über das System, das Regime oder den Parteichef zu hören. Dadurch entwickelte sich eine ganz besondere Aufmerksamkeit für den Bühnentext. Das bedeutet aber auch, dass er manipuliert, gekürzt und je nach Inszenierungsabsicht bearbeitet werden kann. In Frankreich ist das ganz anders.
Das habe ich beim Übersetzen während der Proben gelernt, als Oskaras Shakespeares «Der Widerspenstigen Zähmung» an der Comédie-Française inszenierte. Wir mussten uns mit dieser unterschiedlichen Beziehung zum Text auseinandersetzen und sie verstehen. Es ist vor allem ein Theater des Textes und der Text ist heilig. Natürlich hat er das respektiert, aber gleichzeitig ist er viel freier mit dem Text umgegangen. Und er hatte ein Problem mit der deklamatorischen Sprechweise der Schauspieler:innen. Sie mussten bei ihm vergessen, was sie gelernt hatten und den Text organisch mit der Handlung verbinden.
Bei der Übersetzung von französischem Theater ins Litauische habe sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht: Einmal behielt ein Regisseur nur zwei,drei Sätze aus meiner Übersetzung von Giraudoux› «La Folle de Chaillot» bei und machte daraus eine völlig andere Aufführung. Es gab aber auch Glücksfälle. Wie bei «Le pays lointain» von Jean-Luc Lagarce (Inszenierung von Gintaras Varnas). Im Original gibt es Wiederholungen im Text, die wie Wellen funktionieren. Das war für mich beim Lesen zunächst seltsam und gewöhnungsbedürftig. Dann habe ich versucht, dieses Gefühl einer wiederkehrenden Welle in meiner Übersetzung zu vermitteln. Das Team hat sich das dann auf eine ganz subtile Art und Weise erarbeitet. Sie hatten Kürzungen im Text vorgenommen, aber nichts Dramatisches, und man konnte die besondere Sprechweise von Lagarce in der litauischen Aufführung wiederfinden. Ich war selbst erstaunt, wie viel von dem Geist des Stücks, den ich beim Lesen gefunden hatte, hinterher auf der Bühne spürbar war.

 

Wenn man Theater übersetzt, sitzt man ein bisschen zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite ist man die einzige Person, die den Originaltext vollständig versteht, also will man ihn verteidigen, auf der anderen Seite begreift man aber, dass der Text nicht alles ist, dass Theater ein Dialog, ein Austausch ist.

Es stimmt, dass man auf Nuancen achten muss. Manchmal versuche ich bei der Leseprobe, auf die Stellen aufmerksam zu machen, die man nicht ändern kann. Wo man nicht so viele Witze oder Assoziationen aus dem Alltag einbauen kann, weil es immer noch ein französischer Text mit einem französischen Geist ist. Das ist immer Verhandlungssache. Als ich Texte von Joël Pommerat übersetzt habe, wollte der Autor, dass alles kontrolliert wird. Das war sehr streng und ich hatte Schwierigkeiten, meine Entscheidungen als Übersetzerin zu erklären. Jedes Mal musste ich meine gesamte Übersetzung an eine eine Art Lesekomitee aus litauischen Übersetzern, die in Frankreich lebten, schicken. Und die kritisierten Dinge in Bezug auf die Zeichensetzung oder Ausdrücke, die die für mich bewusste Entscheidungen im Geiste des Stücks waren. Und für sie waren das Übersetzungsfehler. Ich verstehe, dass es nicht einfach ist, einer Übersetzung zu vertrauen. Aber schließlich kommen danach auch noch Regieentscheidungen. Niemand kann einen Text schützen und der Regisseur, der ihn inszeniert, hat das Recht, ihn so zu bearbeiten, wie er will.

 

Wie war es, als ihr an der Comédie-Française gearbeitet habt, diesem Theater, das ja immerhin ein Symbol der «großen» französischen Kultur ist? Hast du einen Zusammenstoß zwischen dieser etwas arroganten französischen «Größe» und der «kleinen» litauischen Kultur empfunden?

Natürlich gibt es diese «Größe» der Kultur, des Kontextes, die manchmal, wenn man sie ins Litauische überträgt, eine Menge Erklärungen erfordert. Das Französische ist historisch und geografisch eine große Kultur, also gibt es ein riesiges Feld, das man zu entwirren versuchen muss, und ich hoffe, dass mir das mehr oder weniger gelingt. Andersrum ist es ein bisschen ähnlich. Die Franzosen kennen das kleine litauische Volk nicht. Wir sind 2,8 Millionen. Viele sind nach England, Deutschland und in die USA ausgewandert. Aber wir sind ein kleines Volk mit einer schönen Geschichte, einer langen Geschichte, das den Franzosen einiges zu erklären hat.
Schon wenn du die Comédie-Française betrittst, siehst du Statuen, spürst den Atem der Geschichte. Das ganze System der Comédie-Française mit ihrer riesigen Schule. Dazu kommen noch die Werkstätten, die es seit Jahrhunderten gibt. Das war interessant zu entdecken, und gleichzeitig auch ein bisschen stressig. Man musste auf viele Dinge, auf so viele Traditionen achten.
Am Anfang habe ich die ganze Zeit übersetzt, was die Schauspieler:innen sagten. Nach einiger Zeit kannten sie den Text schon ziemlich gut, und Oskaras sagte manchmal zu mir: «Hör auf, ich sehe schon an der Spannung der Adern an seinem Hals, ob er den Text richtig spricht. Ruh dich aus, ich sehe schon, ob das in die richtige Richtung geht oder nicht.» Gleichzeitig vermisse ich diese Art, zu artikulieren und den Text zu respektieren, bei uns sehr.
Am Anfang hatte ich das Gefühl, dass man sich sehr viel gegenseitig erklären muss. Aber es gibt die menschliche Seite, die künstlerische Seite, die nach einer gewissen Zeit einfach alles überwindet. Leute können sich verstehen, ohne ihre Unterschiede zu vergessen. Ein paar Dinge, die aus unserer Kultur stammten, mussten wir besonders erklären. Sachen, die mit der Sowjetzeit zu tun hatten, der Zensur. Letztendlich war es eine tolle Erfahrung.

 

Aber genau darin liegt ja auch die große Gefahr des Theaters. Weil alles so spannend ist und man ständig tolle Kollektiverfahrungen macht, vergisst man schnell die prekäre Situation, in der man lebt. Man arbeitet ja immer noch für wenig Geld. Wie schaffst du es, zu überleben?

Es gab verschiedene Phasen, aber ich schlage mich immer irgendwie durch. Es ist ein bisschen wie in dem Film «La Haine» von Mathieu Kassovitz. Da gibt es diese Figur, die von einem Hochhaus fällt, und bei jedem Stockwerk sagt: «Bis jetzt ist alles gut gegangen». Also ja, es gab Tiefpunkte.  Im Jahr 2018 gab es eine große Finanzkrise und ich hatte ein ziemlich anstrengendes Jahr. Aber ich brauche nicht viel. Ich habe einen ziemlich bescheidenen Lebensstil. Ich habe keine Familie, nur ein Patenkind, um das ich mich ein bisschen kümmere. Ich habe meine Mutter, meine Tante und meinen Onkel. Und so teilen wir, was wir haben. Es gab Zeiten, in denen ich in dieser Hinsicht ruhiger war und ein gesicherteres Einkommen hatte. Als ich Stücke auf Tournee übertitelte, war ich mir sicher, dass ich pro Monat eine Woche auf Tournee sein würde, was eine gewisse Summe garantierte. Ich war gut zehn Jahre lang freiberuflich tätig und konnte mich mit Übertitelungen und Literaturübersetzungen über Wasser halten. Und ab und zu gab es Glücksfälle, wie das Dolmetschen an der Comédie-Française, das mir wirklich genug Luft verschafft hat, um eine Zeitlang Stücke zu übersetzen, ohne auf das Geld zu schauen. Und ansonsten passe ich mich an. Jetzt bin ich gerade wieder freiberuflich. Nach der Management- und PR-Arbeit am Theater übersetze ich gerade ein Psychologiebuch. Irgendwann übersetze ich bestimmt auch wieder Theaterstücke. Für ein Kulturmagazin im Internet habe ich Interviews geführt, und ich mache noch ein paar für ein Buch über Jūratė Paulėkaitė, eine große litauische Künstlerin und Freundin, die vor zehn Jahren gestorben ist und die die Bühnenbilder für Oskaras› Inszenierungen gemacht hat. Außerdem mache ich Übertitel und manchmal Untertitel für Filme. Ich bin es gewohnt, meine Bedürfnisse anzupassen. Freiheit hat eben ihren Preis. Für die Tatsache, dass ich meinen Tagesablauf ändern kann, dass ich früh morgens und spät abends übersetzen kann, zahle ich eben. Ich verliere ein wenig materiellen Komfort, aber dafür habe ich psychologischen oder spirituellen Komfort in meinem Leben, und das ist vielleicht wichtiger. Also akzeptiere ich das und hoffe, dass es immer ein bisschen Arbeit gibt und dass der Krieg nicht alles beendet.

 

Du lebst in Vilnius, es herrscht Krieg in der Ukraine und Russland bedroht inzwischen auch Litauen, das es bis 1990 besetzt hielt. Du lebst quasi direkt neben diesem Krieg. Kannst du noch arbeiten oder wird in einem solchen Kontext alles absurd?

Am Anfang, als der Krieg ausbrach, fand ich alles absurd. Ich dachte mir, ich muss einen Roman übersetzen, aber wer wird ihn lesen? Alle sitzen vor den Nachrichten, das ist keine Zeit für Literatur. Einen Monat lang konnte ich gar nichts anderes machen als die Nachrichten aus der Ukraine zu hören und zu analysieren. Das Leben übertrifft die Fiktion so sehr, dass es keinen Platz mehr für Fiktion gibt. Und dann, als der Krieg leider weiterging und wir immer noch nebenan waren, aber müde wurden, dachte ich, ich muss meine Gedanken und meine Aufmerksamkeit kontrollieren. Ich habe als freiwillige Helferin gearbeitet. Nach wie vor spende ich jeden Monat, weil es Menschen gibt, die elementare Dinge brauchen. Ungefähr 60.000 Ukrainer:innen sind hierhergekommen und haben sich niedergelassen.
Jetzt schwankt die Zahl, weil einige gehen, andere kommen. Es gibt viele Aktivitäten zu ihrer Unterstützung, also beteilige ich mich, weil das auch die beste Art ist, sich psychologisch zu beruhigen. Wenn du etwas Konkretes tust. Jetzt gelingt es mir, ruhiger zu bleiben. Und ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was ich gut kann. Denn ich werde mich weder in eine Psychologin noch in eine Krankenschwester oder sonst etwas verwandeln. Ich mache also mit meinem Alltag weiter und tue das, was ich kann. Ab und zu, wenn ich Infos sehe, die meine französischsprachigen Freunde interessieren könnten, übersetze ich sie und poste sie auf Facebook. Für meine Freunde hier habe ich auch schon Artikel aus dem Französischen ins Litauische übersetzt.
Ansonsten mache ich weiter, obwohl es wegen der Papierpreise auch eine Krise im Verlagswesen gibt, aber die Leute lesen immer noch Bücher. Wir alle brauchen irgendwann mal etwas, um auf andere Gedanken kommen. Vielleicht ein Buch, eine Theatervorstellung und die Hoffnung, dass der Krieg aufhört. Am Anfang haben wir genaue Instruktionen bekommen, wie wir uns vorbereiten müssen. Also habe ich eine Tasche mit Dokumenten, Ladegeräten und ein paar Kleidungsstücken hier stehen. Für alle Fälle gibt es im Keller Wasser und Kerzen und Streichhölzer. Hast du das einmal gemacht, kannst du nur hoffen, dass es nicht passiert. Ich hoffe, dass ich mit dem Wasser die Bäume vor dem Haus gießen werde und es nicht benutzen muss. Es stimmt, wir werden müde. Wir gewöhnen uns an den Krieg, weil wir sonst verrückt werden würden. Wenn man sich die Bilder ansieht von dem, was dort passiert, denkt man, bei uns sind das nur die Nebenwirkungen des Krieges. Die da drüben sind mitten im Feuer. Wir können nur hoffen, dass es irgendwann Frieden gibt, damit wir wieder fröhlich ins Theater gehen und uns irgendwo treffen können, wenn es vorbei ist.

 

Ja, lass uns das hoffen. Vielen Dank für das Gespräch, Akvilé.

Die Übersetzerin Akvilé Melkunaité (c) Toma Saldukaité

Akvilé Melkunaité wurde am 11. November 1972 in Vilnius geboren. Sie ist Übersetzerin, Dramatikerin, Dolmetscherin und Dozentin. 1996 machte sie ihren Universitätsabschluss in Romanistik. Sie spricht Litauisch, Russisch, Englisch, Französisch und ein wenig Italienisch. Als freiberufliche Übersetzerin hat sie über zwanzig Romane ins Litauische übertragen, darunter Bestseller wie Michel Houellebecqs «Elementarteilchen» und außerdem zahlreiche Theatertexte aus dem Französischen ins Litauische und umgekehrt. Seit 1998 arbeitet sie im Theater als Übertitlerin. Sie leitet regelmäßig Übersetzungsworkshops bei der Litauischen Vereinigung der Literaturübersetzer und ist immer wieder im organisatorischen Bereich tätig: Von 2017 bis 2020 war sie für die Öffentlichkeitsarbeit des Dramatischen Theater Klaipėda verantwortlich und von 2020 bis 2021 für die des Jugendtheaters Vilnius.

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