Ein Gespräch zwischen der Dramaturgin Leila Etheridge, dem Übersetzer Claudius Lünstedt und dem Regisseur Tim Egloff Das beängstigende Ausmaß von Grenzüberschreitungen

Claudius Lünstedt: Wie war Ihre erste Leseerfahrung von «Auf dem Rasen«?

Leila Etheridge: Der Text hat mich sofort angesprochen, weil die Sprache nicht mit eine/r anderen Autor:in zu vergleichen ist. Durch die Abstraktion und die Überhöhung des Textes dauert es beim ersten Lesen einen Moment, bis man sich orientieren kann. Bis man versteht, wer spricht und in welcher Situation man sich gerade befindet. Mich beeindruckten die Sprachakrobatik und der politische Gehalt, der dem Text zugrunde liegt und sich erst nach und nach offenbart.

Tim Egloff: Ich war fasziniert und irritiert, begeistert und abgestoßen. Die sprachliche Dynamik, der Rhythmus, die Fiebrigkeit, Nervosität in der Sprache haben mich sofort vereinnahmt, diese Form hat mich gleich gekriegt. Die beschriebenen Ereignisse haben mich natürlich sehr aufgewühlt.

 

Weshalb hielten Sie den Text für den Spielplan des Theater Osnabrück besonders relevant, bzw. warum haben Sie sich entschieden, die Deutschsprachige Erstaufführung zu inszenieren?

Etheridge: Mit dem Wechsel der Intendanz und der damit verbundenen Neugestaltung des Theater Osnabrück streben wir es an, «transkulturell» zu arbeiten. Das zeigt sich zum einen in der Entscheidung jedes Jahr mit einem Partnerland zu arbeiten. Zum anderen bedeutet es, dass wir unseren Blick erweitern wollen und gezielt nach Stimmen suchen, die bisher noch zu wenig im Theater zu hören waren. Mit «Auf dem Rasen» hat Hakim Bah ein Stück geschrieben, das in seiner Form und Sprache überzeugt und zudem eine Perspektive auf gesellschaftliche Machtverhältnisse einnimmt, die uns als äußerst relevant erscheint.

Egloff: Die Themen, die das Stück behandelt, sind aktueller denn je und durch den Krieg in der Ukraine Ende Februar noch stärker ins europäische Bewusstsein gerückt: Ein despotischer Herrscher, der in seiner Machtbesessenheit jedes Maß verliert, sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Waffe in kriegerischen Konflikten – ich hätte nicht erwartet, dass das Stück in so kurzer Zeit so erheblich an Aktualität gewinnt. Es ist sehr wertvoll, sich künstlerisch mit Themen beschäftigen, die sich wirklich im aktuellen Diskurs wiederfinden und dadurch einen Beitrag zur Debatte leisten zu können. Außerdem mag ich Texte, die den Mut zur Form haben, an denen man sich abarbeiten muss, die nach konzeptionellen Entscheidungen verlangen und bewältigt werden wollen.

 

Der Text ist lokal nicht eindeutig verortet, verweist aber im Vokabular auf seinen westafrikanischen Kontext, und sein Autor stammt aus dem frankophonen afrikanischen Raum. Wie kamen Sie zu der Entscheidung, die Inszenierung ausschließlich mit weißen Spieler:innen zu besetzen?

Etheridge: Die Form des Texts ist abstrakt gehalten, die Figuren sind stilisiert und überhöht gezeichnet. So haben wir es auch in der Inszenierung übernommen, die keineswegs realistisch ist. Zudem behandelt das Stück eine Thematik, die nicht nur in Guinea zu verorten ist, sondern – leider – eine weltweite Katastrophe ist: sexualisierte Gewalt in Kriegssituationen. Sie wird an Frauen wie auch an Männern bis heute als Kriegswaffe eingesetzt.

Egloff: Die Spieler:innen können und sollen mit diesem Stück nicht «ihre» Geschichte erzählen, das soll auch nicht behauptet werden. Dies wäre nur für eine von den beschriebenen Ereignissen real betroffene Person möglich und das wiederum wäre ein ganz anderer Ansatz, als die Stückkonstruktion vorgibt. Und die Geschichte ist nicht an eine bestimmte Region, einen Ort oder gar an einen westafrikanischen Kontext gekoppelt. Nur deshalb war es auch mir als weißem Mann möglich, diese Arbeit anzunehmen. Das habe ich lange für mich und im Team überprüft. Das Besondere an diesem Text ist, dass er ausgehend von einem regionalen historischen Ereignis auf eine viel größere, jahrhundertealte weltweite Problematik verweist, die eben nicht nur in vermeintlich sicherer Entfernung in Westafrika vorkommt, sondern permanent überall – wie wir leider derzeit auch wieder erleben müssen, nämlich in der Ukraine. Abgesehen davon geht es bei Besetzungsentscheidungen neben den üblichen dispositorischen Machbarkeiten auch um die Frage, welche Spieler:innentypen sowohl spielästhetisch als auch inhaltlich zu diesem Text passen können. Zumal eine persönliche, künstlerische Auseinandersetzung über Wochen mit diesen extremen Inhalten die die Spieler:innen auf allen Ebenen stark beansprucht. Ich hatte auch lange mit dem Gedanken gespielt, das gesamte Ensemble nur mit Frauen zu besetzen, um den Frauen die Hoheit über die Darstellung des männlichen Täters zu überlassen. Wir haben uns dann doch dagegen entschieden, u. a. um das Konfliktpotenzial auf der Bühne nicht zu entschärfen. Auf jeden Fall waren das lange, komplizierte Findungsprozesse. Und ich bin froh, dass wir so großartige, hochengagierte und vor allem sensible Spieler:innen im Team haben, die sich diesem Stück wirklich ausgeliefert haben – auch wenn ihnen das nicht immer leicht fiel.

Ensemble und Chor (c) Uwe Lewandowski

Wie wirkte die sprachliche Setzung des Stücks im ersten Leseerlebnis auf die Spieler:innen?

Etheridge: Für die Spieler:innen war der Text eine Herausforderung, dem man sich erst mal annähern musste. Durch seine ständigen Wiederholungen und Schlaufen ist es weder ein leicht zu lernender noch leicht zu spielender Text, mit dem man auch sehr genau umgehen musste. Denn der Autor spielt mit kleinsten Verschiebungen und Variationen der Worte, die jedoch klar und bedachtet gesetzt sind.

Egloff: Beim ersten gemeinsamen Lesen waren meiner Erinnerung nach einige Fragezeichen im Raum, zum einen bezüglich des Umgangs mit den zahlreichen Wiederholungen, zum anderen, wie wir uns den beschriebenen Gewalttaten nähern können. Ich würde sagen, der Text hat für faszinierte Überforderung gesorgt.

 

Hatten Sie während der Arbeit am Text Kontakt zu Hakim Bah?

Etheridge: Ich habe mich mit Hakim Bah schriftlich per E-Mail ausgetauscht und so auch ein Interview mit ihm für das Programmheft gemacht. Darin erklärt er seine Beweggründe, die in veranlasst haben, das Stück zu schreiben und auch, dass er wie wir der Meinung ist, dass wir es mit einem weltweiten strukturellen Problem zu tun haben, das aus Jahrhunderten der männlichen Dominanz stammt und das nicht auf Guinea zu beschränken ist.

 

In der Kritik von Jens Fischer wurden die Figuren als «Menschenpuppen mit popanzigen Anwandlungen» umschrieben – trifft das den Kern Ihres gesetzten inhaltlichen Schwerpunkts?

Etheridge: Es beschreibt die äußere Form des Stückes und der Inszenierung. Hakim Bah hat sich entschieden, eine absurde Horrorgeschichte im Stil des französischen Grand Guignol zu verfassen. Grand Guignol bedeutet im französischen «großes Kasperle» und ist eine Gattungsbezeichnung für grotesk-triviale Grusel- und Horrorstücke, die im 18. Jahrhundert entstanden. «Guignol» ist dabei das Gegenstück zu unserer Kasperlefigur. Diese Form hat er gewählt, um den Schrecken abzuwehren und ihn uns so näherzubringen. Aber auch wenn er seine Figuren karikiert, bricht er immer wieder damit und das Ausmaß der Gewalt wird deutlich.

Egloff: Nein. Es geht um (spiel-)ästhetische Überhöhung, damit die universelle Wucht, das beängstigende Ausmaß der Grenzüberschreitungen spürbar werden können. Und zwar in ihrer Grundsätzlichkeit. Es war mir sehr schnell klar, dass ich auf den Text und die inhaltlichen Gewichte, die verhandelt werden, mit Überdrehung und Abstraktion antworten möchte. Nur so ist der schräge Humor, der sich im Stück ja auch noch wiederfindet, und der bedrohlich nah neben den menschlichen Abgründen steht, überhaupt auszuhalten.

 

Wie diskutierten Sie die Problematik des Stücks, dass ein männlicher Autor sexualisierte Gewalt an Frauen explizit beschreibt, und diese Texte dann auch von einem nichtweiblichen Übersetzer ins Deutsche übertragen und schließlich von einem nichtweiblichen Regisseur auf die Bühne gebracht wurden?

Etheridge: Aus dieser Perspektive wird dem Autor, dem Übersetzer und dem Regisseur die alleinige Entscheidungsgewalt zugeschrieben. Damit wird die Präsenz des restlichen Teams innerhalb der künstlerischen Arbeit, die der Ausstatterin, der Regieassistentin, der Spielerinnen und mir der Dramaturgin nicht wahrgenommen. Tatsächlich aber waren am Produktionsprozess neun Frauen und zwei Männer beteiligt.

Egloff: Ich denke, es lohnt ein genauerer Blick auf das Stück. Es erzählt vor allem über toxische Männlichkeit, über Macht-Exzesse, die sich in sexualisierter Gewalt gegen Frauen entladen, also über Mechanismen, die jahrhundertelang eingeübt wurden und die es strukturell zu überwinden gilt. An dieser Aufgabe sollten sich alle beteiligen! Wir haben diese Frage gleich zu Beginn des Probenprozesses offensiv zum Thema gemacht. Ich habe mich das ganz zu Beginn der Arbeit schon gefragt: Kann ich dazu etwas sagen? Darf ich dazu etwas sagen? Wenn Menschen es kategorisch ablehnen, dass sich Männer mit diesen Themenkomplexen künstlerisch beschäftigen, ist die Frage bereits beantwortet. Dann muss man das akzeptieren, aber dann wird die Diskussion auch schmaler geführt – wie gesagt, ich denke, es sollten sich alle beteiligen können, die Verhältnisse zu verbessern, Missstände aufzuzeigen, neue Entwürfe zu suchen. Dies muss so oder so mit großer Sensibilität passieren. Wir waren in unserem Team neun Frauen und zwei Männer und haben uns viel Raum für Gespräche und unsere Positionen gegeben. So konnte Vertrauen untereinander und in unser Vorhaben entstehen, das Allerwichtigste.

Stilisierte und überhöht gezeichnete Figuren: Laila Richter als Gefreite und Mario Lopatta als Kommandant Fick-Schiss(c) Uwe Lewandowski

Inwieweit sind «Guinea 2009» und «Deutschland 1945» vergleichbar? Beide Schriftzüge tauchen im Abblendlicht der Inszenierung auf.

Etheridge: Diese beiden Schriftzüge sind nicht die einzigen, die auftauchen. In meiner Recherche für die Produktion habe ich mich mit der Dokumentation sexualisierter Gewalt in Kriegssituationen auseinandergesetzt. Sie finden sich bereits in antiken Erzählungen wie bei Herodot und Homers Ilias, im Alten Testament, im Ersten Weltkrieg in Belgien durch deutsche Soldaten, bei den deutschen Frauen wiederum im Zweiten Weltkrieg durch die Rote Armee, in dem Bosnienkrieg bis heute in die Gegenwart in Syrien, Nigeria oder Myanmar. Trotzdem wurde Vergewaltigung erst 1998 erstmals als Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgt. 2008 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig eine Resolution über den Einsatz von sexueller Gewalt in Kriegen, aber auch 22 Jahre später hat dieser noch keinen einzigen Schuldspruch erlassen. Und auch die Frauen aus Guinea warten immer noch auf eine Verurteilung der Täter.

Egloff: Wir projizieren ausgewählte Orte mit Jahreszahlen, an denen sexualisierte Gewalt gegen Frauen historisch belegbar und systematisch eingesetzt wurde. «Guinea 2009» macht als Grundlage für den Text den Anfang. Dazu kommen mehr und mehr Orte, u. a. «Bosnien 1992-1995», «Lybien 2012», «Polen 1939», «5. Jahrhundert v. Chr. Persienkrieg» und irgendwann auch «Deutschland 1945». So unvergleichbar die Orte und vor allem die Zeiten erscheinen, an all diesen Orten haben geplante Massenvergewaltigungen stattgefunden, eingesetzt als Waffe. Mir war es sehr wichtig, am Ende der Inszenierung nochmal dieses Zeichen zu setzen – diese Geschichte ist wahr, sie hat einen echten Ursprung, und sie wiederholt sich immer und immer wieder – überall auf der Welt.

«Auf dem Rasen» von Hakim Bah
Deutschsprachige Erstaufführung
Theater Osnabrück

Inszenierung: Tim Egloff
Übersetzung: Claudius Lünstedt
Dramaturgie: Leila Etheridge
Bühne und Kostüme: Sina Barbra Gentsch
Besetzung: Mario Lopatta, Laila Richter, Hannah Hupfauer und Frauenchor (Zoe Rentmeister, Johanna Wittbrodt, Rebekka Möller, Doerthe Loske)

Premiere: 29. Januar 2022

Weitere Termine: 24. + 25. Mai 2022

Autor und Übersetzer Claudius Lünstedt (c) FL

Claudius Lünstedt wurde in München geboren. Abschluss als Diplom-Dramaturg an der Hochschule für Musik und Theater «Felix Mendelssohn Bartholdy» Leipzig. Studium im Fach D.E.T.S. (Regie, Dramaturgie, Bühnenbild) an der Université Paris III Sorbonne Nouvelle, sowie Absolvent der Dramenwerkstatt der Bayerischen Theaterakademie München unter der Leitung von Tankred Dorst. Seit 2003 zahlreiche uraufgeführte Theaterstücke, die vom Verlag der Autoren (Frankfurt/Main) vertreten werden. Uraufführungen u.a. in Wien, Berlin, Nürnberg und Dresden. Mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Else-Lasker-Schüler-Stückepreis, dem Lenz-Preis der Stadt Jena, dem Niederländisch-Deutschen Jugenddramatikerpreis und dem Golden Mask Award.

Claudius Lünstedt ist Autor, übersetzt Theaterstücke aus dem Französischen und unterrichtet am Studiengang Szenisches Schreiben der Universität der Künste Berlin. Gastprofessuren am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Universität der Künste Berlin.

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