Ein Interview mit Franziska Muche «Ich schätze die Frische eines Textes, der sich mir nach und nach erschließt.»

Die Übersetzerin Franziska Muche (Foto: Lolo Vasco)

Normalerweise liegt unser Schwerpunkt bei PLATEFORME auf dem deutsch- und französischsprachigen Kontext. Aus aktuellem Anlass machen wir zwei Ausnahmen. Vom 17. bis 19. November präsentiert das Mannheimer Theaterhaus G7 im Rahmen des Festivals «Stück für Stück» in Kooperation mit dem Theaterübersetzungsnetzwerk EURODRAM auch zwei Übersetzungen der Spanisch-Übersetzerinnen Franziska Muche und Stefanie Gerhold. Beim DramatikerInnenfestival im Juni in Graz gaben die beiden im Gespräch mit ihrer Kollegin Lorena Pircher interessante Einblicke in ihre spezifische Praxis. In Absprache mit den Kolleg*innen von EURODRAM präsentieren wir heute das Interview mit Franziska Muche über «Ich will die Menschen ausroden von der Erde» von María Velasco, über ihren beruflichen Werdegang, Zeitdruck bei der Arbeit, den Austausch mit Autor*innen und das allmähliche Entdecken von Theaterstücken beim Übersetzen.

 

 

Lorena Pircher: Danke für deine Zeit, liebe Franziska und danke für das Interview. Einleitend würde ich gerne fragen, wie du zum Übersetzen generell gefunden hast oder vielmehr wie du – im Besonderen – zum Theater-Übersetzen gekommen bist. Übersetzt du auch Prosa oder primär dramatische Texte?

 

Franziska Muche: Ich liebäugle zwar gerade mit einem Kurzgeschichtenband, aber eigentlich übersetze ich ausschließlich Theaterstücke und Texte aus dem Umfeld des Theaters, zum Beispiel Artikel für Theaterzeitschriften. Meist übersetze ich Theaterstücke literarisch oder sorge für Übertitelung. Es ist ja oft so, dass die kulturelle Arbeit ein Spagat ist – man hat selten nur ein Standbein. Rein von der literarischen Übersetzung von Theaterstücken könnte ich nicht leben. Bei mir ist die Übertitelung das zweite Standbein, dazu kommt noch die Lesereihe Ambigú im Theater unterm Dach und zunehmend auch das Unterrichten an Hochschulen.

Zur Übersetzung gekommen bin ich durch Zufälle, wie so oft im Leben. Ich habe zuerst in Passau Sprachen-, Wirtschafts- und Kulturraumstudien mit Schwerpunkt Spanien und Lateinamerika studiert und war innerhalb meines Studiums im Rahmen eines Dreifachdiplomprogramms ein Jahr in London und ein Jahr in Granada. Nach dem Studium bin ich über Umwege in Brüssel gelandet, im Bildungsbereich, und habe mehrere Jahre im Umfeld der EU-Kommission für einen Dachverband europäischer Hochschul- und Bildungsorganisationen gearbeitet. Dann wollte ich eine Pause einlegen und etwas Neues ausprobieren, ich wollte Theater spielen. Und so kam ich an eine Schauspielschule in Berlin, zunächst einmal für ein einjähriges Aufbaustudium.

Während dieser Zeit hat mich ein ehemaliger Kommilitone aus Passau gefragt, ob ich eine Probe-Übersetzung für den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens machen könnte, und ich habe ja gesagt. Das Stück des spanischen Autors José Manuel Mora Meine Seele anderswo wurde dann tatsächlich ausgewählt und 2008 in der Seitenbühne des Hauses der Berliner Festspiele in der Einrichtung von Sebastian Nübling szenisch gelesen. Der Autor kam mit zehn Freunden aus Madrid, wir sind gemeinsam durch die Stadt gezogen und waren zusammen bei der Lesung. Das war für mich ein Schlüsselerlebnis: diesen Text zu hören, wie er im Raum lebendig wird. Es hat mich sehr berührt und dazu bewogen, weiter zu übersetzen.

Auch die Schauspielschule habe ich weitergemacht, mit dem individuellen Schwerpunkt Dramaturgie und Stückentwicklung. Als ich drin steckte, hat es sich zwar nicht so angefühlt, aber jetzt, aus der Vogelperspektive gesehen, bin ich als Übersetzerin für Theater super ausgebildet: Ich habe ein abgeschlossenes Studium mit Sprachschwerpunkt, über das Dreifachdiplomprogramm einen spanischen Hochschulabschluss als Übersetzerin und Dolmetscherin und eine abgeschlossene Schauspielausbildung. Das bedeutet, dass ich als Theater-Übersetzerin über sehr viel Handwerk verfüge, das mir zugutekommt. Schön ist auch, dass ich José Manuel Mora immer noch übersetze. Er ist der Autor des titelgebenden Stücks der Anthologie spanischer Theatertexte, die wir 2022 herausgegeben haben.

 

Das ist ein wunderschöner Kreis, der sich schließt. Wie gehst du meistens bei Übersetzungen vor? Hast du eine eher intuitive Annäherung an das Stück? Arbeitest du mit Mindmaps und Notizen zu Sprachbildern? Liest du das Stück vorher mehrmals oder gehst du ganz anders vor? 

 

Wenn ich kann, lese ich die Stücke vorher nicht. Ich möchte mich unvoreingenommen auf den Text einlassen. Ich glaube, Autor:innen schreiben auch auf unterschiedliche Art und Weise. Es gibt manche, die, wie du sagst, vorher die Struktur anlegen und sich dann vorarbeiten. Andere schreiben intuitiv und strukturieren hinterher. Ich übersetze ja in dem Rahmen, den der*die Autor*in gesteckt hat. Natürlich erfahre ich im Laufe des Stücks Dinge, die ich am Anfang nicht wissen kann, und muss im zweiten und dritten Arbeitsschritt Anpassungen vornehmen. Aber ich schätze die Frische eines Textes, der sich mir nach und nach erschließt. Ich mag dieses Entdecken. Ich kriege auch furchtbar schlechte Laune, wenn ich an so einer Erstfassung sitze, nicht genug Zeit habe und immer wieder abbrechen muss. Ich mag es sehr, in diesen Fluss hineinzugeraten, ich werde dann immer schneller und die Sprache stärker und natürlicher.

 

Das ist sehr interessant, und du kannst beispielsweise auch Dinge, die du dann erst später erfahren hast, die aber vielleicht am Anfang für eine gewisse Stimmung oder einen Subtext wichtig sind oder so, dann in einem zweiten Durchgang einsetzen oder überarbeiten.

 

Ich arbeite immer so, dass ich Ende und Anfang der Textstelle, die ich an einem Tag übersetzt habe, markiere. Bevor ich am nächsten Tag weiterübersetze, gehe ich das noch einmal durch. Meine erste Rohfassung ist also schon einmal lektoriert. Anschließend lasse ich den Text liegen, falls das möglich ist. Oft hat man im Theaterbereich nicht viel Zeit, aber Zeit ist ein ganz wichtiger Faktor, weil man Texte erst nach einer Weile mit Abstand betrachten kann und selbst freier wird. Hier erkenne ich dann, dass dieser und jener Satz noch nicht deutsch klingt, und erlaube mir, mit dem zu spielen, was ich habe, es umzuformen und erst danach noch einmal mit dem Original abzugleichen.

Auf der Herfahrt hatte ich eine ganz besondere Erfahrung. Ich habe schnell gepackt und meinen Computer vergessen. Ich wollte aber unbedingt einen Text des spanischen Duos El Conde de Torrefiel übersetzen, auf den ich mich sehr gefreut hatte. Erst hatte ich einen netten Sitznachbarn, der mir sein iPad geliehen hat, und dann, in Nürnberg, habe ich mir einen großen Studentenringblock gekauft und den kompletten Text auf der Fahrt nach Wien und abends im Heurigen per Hand übersetzt. Das hat großen Spaß gemacht. Es war ein sehr poetischer Text, ein Monolog. Ich hatte eine Begrenzung: Weil der Text im Rahmen einer Installation projiziert werden sollte, durfte er nicht mehr als 55 Zeichen pro Zeile umfassen. Das beeinflusst natürlich die Übersetzungsentscheidung und schließt manche Möglichkeiten von vornherein aus. Immer, wenn ich noch nicht zufrieden war, habe ich mehrere Varianten untereinander geschrieben und erstmal stehen lassen. Jetzt bin ich ganz glücklich, dass ich das auf dem Papier habe. Das Übersetzen per Hand fand ich sehr besonders, es hatte etwas Sinnliches, Taktiles. Und hat in diesem Fall so gut gepasst, weil der komplette Text aus der Perspektive der Erde geschrieben ist, die zu den Menschen spricht – unter anderem über Zeit, Geschwindigkeit, Technik.

Insgesamt arbeite ich, bedingt durch mein Schauspielstudium, auch stark über den Klang, das heißt, ich höre den Text. Wenn ich am Ende das Gefühl habe, die Stimme der Autor*in im Deutschen durchzuhören, weiß ich: Jetzt stimmt es.

 

Ja, das kann ich vollkommen verstehen. Das mache ich auch so, ich lese übersetzte Stellen immer noch mal laut und je öfter man Formulierungen laut ausspricht und verschiedene Variationen ausprobiert, desto mehr Gefühl bekommt man für eine passende Möglichkeit der Übersetzung, die sich rhythmisch und semantisch gut anfühlt. Ich kann diesen, sagen wir einmal, gefühlvollen und intuitiven Zugang sehr gut nachvollziehen.

 

Ich rede auch viel mit den Autor*innen. Auch in diesem Zusammenhang – wie eng man mit den Autor*innen zusammenarbeitet – scheiden sich die Geister. Ich weiß nicht, ob du den Satz schon einmal gehört hast: «Der Text weiß mehr als der Autor»?

 

Den Unterschied zwischen einem sehr textzentrieren und einem eher freierem Zugang finde ich sehr interessant.

 

Ich glaube, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, und jede*r muss das finden, was für ihn/sie persönlich am besten passt. Ich finde die Erfahrung einer spanischen Autorin, die sowohl Theater als auch Prosa schreibt, interessant: Es gibt in Spanien im Theaterbereich regelmäßige Treffen zwischen Autor:innen und Übersetzer:innen, die wie eine Art Speed-Dating organisiert sind. In diesem Kontext hat sie einmal zu mir gesagt: «Meine Prosa-Übersetzer und -Übersetzerinnen, die kenne ich nicht, bis auf den südkoreanischen Übersetzer, der schreibt mir jeden Tag. Aber mit allen Übersetzer:innen meiner Theaterstücke bin ich befreundet.»

Das ist bei mir auch so. Ich bin mit sehr vielen Autoren und Autorinnen, die ich übersetze, befreundet. Für María Velasco, um die es hier mit ihrem großartigen Stück geht, gilt das ganz besonders. Ich kenne sie schon lange, und es hat mich sehr berührt, dass ihre Arbeit mit diesen Preisen ausgezeichnet worden ist, erst in Heidelberg und nun bei Eurodram.

Für die finale Übersetzungsfassung dieses Textes haben wir insgesamt sieben Stunden lang über Zoom gesprochen. Oft sind es dann kleine Nuancen, aber meist geht es um eine Richtungsentscheidung.

Es ist mir wichtig, alles wirklich zu verstehen, Wortspiele, Subtilitäten. Worte haben in den verschiedenen Sprachen unterschiedliche Doppelbedeutungen. Was mache ich, wenn ich nicht alles in die Zielsprache hinüberretten kann? Was ist an dieser Stelle wichtig? Geht es vorrangig um den Sinn, den Rhythmus, das Bild, die Wortschöpfung? Für mich ist es hilfreich, mit den Menschen hinter dem Stück zu reden. Dabei geht es mir nicht darum, mir das Stück erklären zu lassen, es ersetzt auch nicht meine Recherche und die Übersetzungsentscheidung muss letztlich ich treffen. Aber für mich ist es wertvoll, die Stimme der Autorin oder des Autors zu hören, die mich dann in der Arbeit begleitet.

 

Danke dir liebe Franziska, das war ein sehr aufschlussreicher Einblick in deine fantastische Arbeit als Übersetzerin! Gibt es noch etwas, das du hinzufügen möchtest?

 

Eigentlich nur, dass ich die Initiative von EURODRAM großartig finde und mich im Namen von María und in meinem Namen nochmals ganz herzlich für den Preis bedanken möchte, den wir gewonnen haben!

 

 

Das Interview führte Lorena Pircher, Deutschsprachiges Komitee Eurodram, in Graz am 24. Juni 2023 anlässlich der Vorstellung der Stücke der Auswahl 2023 im Rahmen des DramatikerInnenfestivals.

 

Die szenische Lesung von María Velascos «Ich will die Menschen ausroden von der Erde» in Franziska Muches Übersetzung findet am 18.11. um 17 Uhr im Theaterhaus G7 in Mannheim statt.

Informationen über das gesamte Festival «Stück für Stück» hier.

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Die Übersetzerin Franziska Muche (Foto: Lolo Vasco)

Franziska Muche ist freie Übersetzerin für Theater. Sie ist Diplomkulturwirtin mit Schwerpunkt Spanien/Lateinamerika (Univ. Passau), Licenciada in Übersetzung und Dolmetschen (Univ. Granada) und ausgebildete Schauspielerin (Michael Tschechow Studio/ZAV). Sie übersetzt zeitgenössische Theatertexte aus dem Spanischen und, zusammen mit Pilar Sánchez Molina, auch ins Spanische, und übertitelt Gastspiele. 2020 wurde sie mit einem Exzellenzstipendium des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet. 2021 und 2022 war gab sie mit Carola Heinrich zwei Anthologiebände zur spanischsprachigen Dramatik im Neofelis-Verlag heraus. Seit 2021 hält sie Vorträge und Seminare zur Theaterübersetzung an Hochschulen. 2023 wurde das von ihr übersetzte Stück Talaré a los hombres de sobre la faz de la tierra / Ich will die Menschen ausroden von der Erde von María Velasco von Eurodram ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.

Die Übersetzerin Lorena Pircher (Foto: privat)

Lorena Pircher
* 1994 in Südtirol, Italien. Studierte Vergleichende Literaturwissenschaften, Englisch und Französisch in Wien und Frankreich, Ausbildung zur Buchhändlerin. Veröffentlichung eines Gedichtbandes, mehrerer Erzählungen und einiger Gedichte in Literaturzeitschriften und Anthologien. Sie übersetzt aus dem Italienischen und Französischen und schreibt Lyrik und Kurzprosa.

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