Eine Selbstauskunft von Gerda Poschmann-Reichenau Autodidaktische Teilzeitübersetzerin

Was habe ich eigentlich gelernt?

Ich habe Theaterwissenschaft studiert. Eigentlich wollte ich Journalistin werden. Als das mit der Aufnahmeprüfung an der Deutschen Journalistenschule in München nicht auf Anhieb klappte, folgte ich dem Rat, den der Redakteur der Lokalzeitung mir gegeben hatte, für die ich schon als Gymnasiastin schrieb: «Studieren Sie irgendwas, das Sie interessiert, und kommen Sie dann für ein Volontariat wieder.»
Für den Magister brauchte man damals zwei Nebenfächer. Ich wählte nicht strategisch, sondern rein nach Interesse und Vorliebe: Kunstgeschichte und Französisch. Eine Sprache, die ich seit meiner Kindheit kenne, lerne und liebe. Ich weiß noch, dass ich beim Einstufungstest beinahe an der deutsch-französischen Übersetzung gescheitert wäre. «Ich hob den Hörer ab» – so etwas hatten wir am Gymnasium nicht gelernt. Und was heißt «Nieren»?
Nach zwei Semestern Theaterwissenschaft kam die erste Hospitanz in Salzburg, die gleich zur Regieassistenz wurde: Albert Camusʼ «Caligula». Das Berufsziel Journalismus war vergessen. Das Theater hatte mich gepackt. Ein Jahr später ging ich nach der Zwischenprüfung für ein Auslandsjahr nach Paris, Études théâtrales an der Sorbonne Nouvelle. Aus dem einen Jahr wurden zwei, nach einer Hospitanz in Avignon bei der Heiner-Müller-Trilogie von Jean Jourdheuil und meinem Lehrer Jean-Francois Peyret schrieb ich meine Maîtrise bei Letzterem über die französische Heiner Müller-Rezeption. Auf Französisch.
Die Maîtrise gewährte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Zugang zum Promotionsstudiengang, wenn man die Nebenfächer nachholte. Zurück in Deutschland, promovierte ich mit einer Arbeit über zeitgenössische deutschsprachige Theatertexte und Möglichkeiten ihrer Analyse. Unmittelbar danach trat ich meine erste Dramaturginnen-Stelle am Schauspielhaus Salzburg an. Meine erste Produktion: Elfriede Jelineks «Clara Schumann». Ich arbeitete gerne, viel, intensiv am Text, oft auch unter Rückgriff auf die englischen und französischen Originale – etwa, um vergleichend die beste Shakespeare-Übersetzung auszusuchen oder um bei zeitgenössischen Stücken Fragen zu klären, welche die deutsche Fassung aufwarf. Ich organisierte auch Publikumsgespräche mit Übersetzern.

Szene aus «Zeit des Lebens» (2021) von Evelyne de la Chenelière an den Landungsbrücken Frankfurt a. M. in der Übersetzung von Gerda Poschmann-Reichenau (Foto: Christian Schuller)

Wie komme ich eigentlich dazu, Theaterstücke zu übersetzen?

Mit der Familiengründung war mein Theaterleben beendet. Ich zog aufs Land. Vorher besorgte ich mir aus der Unibibliothek noch Henri Murgers Roman «Scènes de la vie de Bohème» und das Theaterstück «La vie de Bohème», das er gemeinsam mit Théodore Barrière daraus gemacht hatte, im Original. Mein Projekt für die Karenzzeit, wie der Mutterschaftsurlaub in Österreich heißt: eine deutsche Bühnenfassung dieser Tragikomödie, die ich über den Kaurismäki-Film kennengelernt hatte.
Bis ich dieses Stück dann tatsächlich beendete, vergingen noch viele Jahre. Aber dass ich mich mit dem Projekt bei einem Theaterverlag vorstellte, führte dazu, dass aus der Schauspieldramaturgin eine Verlagsdramaturgin wurde. Freiberuflich übernahm ich immer mehr Aufgaben für den Theaterverlag: Korrekturlesen, Redaktion, Lektorat, irgendwann auch die erste Übersetzung aus dem Französischen. Weil ich als Dramaturgin wusste, was ein Theatertext können muss. Weil ich die französische Sprache beherrsche und liebe (und die deutsche auch). Weil der Verleger es mir zutraute.
Das war 2002. Das Stück war die romantische Komödie «Des fraises en janvier» der québecer Autorin Evelyne de la Chenelière, eines ihrer ersten Stücke. Inzwischen habe ich über fünfzig Theaterstücke übersetzt, davon dreizehn von Evelyne de la Chenelière. Das, was mich an ihrem ersten Text interessierte und fesselte, ist immer noch da: ihre Fähigkeit zur Empathie, ihre Poesie, ihre Liebe zu den Menschen, ihr Humor, ihr Mut zum Experiment. Aber ihr Schreiben, ihre Themen, ihr Anspruch haben sich entwickelt seit damals. Ich habe sie auf diesem Weg begleitet, seit mittlerweile zwanzig Jahren.
Wir haben uns persönlich kennengelernt, haben uns wiedergesehen, ich habe für sie und mit ihr eine Autorinnenreise durch Deutschland und Österreich organisiert, wir haben gemeinsam deutsche Inszenierungen ihrer Stücke besucht, und als sie ihren ersten und bislang einzigen Roman schrieb, habe ich zum ersten und bislang einzigen Mal einen Roman übersetzt. Wir sind viel mehr als die Autorin und ihre Übersetzerin. Wir sind Freundinnen, Vertraute. Derzeit arbeiten wir gemeinsam mit dem Regisseur Kornelius Eich, der vor einem Jahr ihr Stück «Zeit des Lebens» in Frankfurt inszeniert hat, an einem gemeinsamen Theaterprojekt. Als Thema vorgegeben haben wir uns das Unsagbare, im Zentrum der ersten Recherchen und Gespräche steht das Übersetzen: vom Denken ins Sagen und Schreiben. Vom Französischen ins Deutsche. Vom Theatertext auf die Bühne. Übersetzen ist die Tätigkeit, die uns drei vereint.

Gerda Poschmann-Reichenau und Evelyne de la Chenelière (Foto: privat)

Kann ich vom Übersetzen leben?

Nein. Leider. Ich wollte, ich könnte es. Dann würde ich nichts Anderes mehr machen. Nach meiner ersten Übersetzung dachte ich, es wäre möglich. «Erdbeeren im Januar», auch im Original ein großer Erfolg, wurde in Deutschland sofort vom SR als Hörspiel produziert und ein Jahr später von einem Tourneetheater auf die Bühne gebracht – mit Hardy Krüger junior in der Hauptrolle. Es gab mehrere Wiederholungstourneen. Es gab richtig Kohle. Der Idealfall. Der Ausnahmefall. Davon habe ich in den zwanzig Jahren meiner Tätigkeit als Theaterübersetzerin drei erlebt. Von den Stücken, die ich ins Deutsche übertragen habe, wurden nur etwa die Hälfte bisher überhaupt inszeniert oder als Hörspiel produziert. Dazu ein paar szenische Lesungen. Die andere Hälfte meiner Übersetzungen ist bis heute ungespielt. Viele davon werden es bleiben. Für die Schublade gearbeitet.
Einmal erstaufgeführt, sind Nachspielproduktionen ganz selten. Die große Ausnahme ist meine bislang einzige Übersetzung aus dem Italienischen: «Lehman Brothers» von Stefano Massini hat eine beachtliche Karriere auf deutschsprachigen Bühnen hingelegt. Elf Inszenierungen an deutschen, österreichischen und Schweizer Häusern von der Deutschsprachigen Erstaufführung 2015 in Dresden bis heute. Dazu eine Tourneeproduktion, deren zweite Aufführungsserie von Corona jäh unterbrochen wurde und die im Januar 2023 in die vierte Runde startet. Die nächste Nachspielproduktion der «Lehman Brothers» kommt im Februar in Salzburg auf die Bühne. In den Kammerspielen des Landestheaters. Darüber und darauf freue ich mich sehr. Wie immer, wenn es passiert: wenn die Worte, die jemand anders erfunden hat, um sie von Schauspieler*innen in seiner Sprache sagen zu lassen, in meiner Sprache zur Sprache kommen, weil ich Worte dafür gefunden habe. Sie dann auf der Bühne zu hören: jedes Mal wieder Gänsehaut.
Die Kammerspiele des Landestheaters Salzburg haben 120 Plätze. Davon wird man nicht satt als Übersetzerin. Mit populären Blockbustern im großen Saal, der einige hundert Plätze hat, oder eben mit Tourneeproduktionen kann man richtig Geld verdienen. Mit Kinderstücken (ermäßigte Kartenpreise) oder anspruchsvollen, literarischen, experimentellen Stücken, die es maximal in die Nebenspielstätte oder an ein kleines freies Theater schaffen, nicht wirklich.

«Eine Frage der Einstellung» (2012) von Evelyne de la Chenelière und Daniel Brière in der Übersetzung von Gerda Poschmann-Reichenau am Theater Drachengasse Wien (Foto: Andreas Friess)

Wie überlebe ich dann?

Mit der Zeit, mit etwas Geschick und mit Beziehungen findet man heraus, wo es Übersetzungsförderungen gibt, Stipendien, Preise. Das hilft und bringt neben der finanziellen Unterstützung auch das gute Gefühl, dass die eigene Arbeit wichtig ist und von Interesse. Förderungswürdig. Ich lebe aber auf dem Land. Ab vom Schuss. Nicht im Getümmel der Bundes-, nicht einmal in der Landeshauptstadt. Das macht das mit den Beziehungen schwierig. Das Dranbleiben. Das Im-Gespräch-Bleiben. Das Netzwerken.
Stücke zu übersetzen ist nicht mein Hauptberuf. In meiner E-Mail-Signatur steht «Dramaturgie – Lektorat – Übersetzung – Presse». Das mache ich alles. Als Tanzdramaturgin arbeite ich seit über zwanzig Jahren für die editta braun company. Als Schauspieldramaturgin habe ich Stückefestivals für das Münchener Teamtheater organisiert: Lesungen neuer Stücke aus Québec, Brasilien, China, Indien in deutscher Übersetzung. Sie hatten immer auch die Übersetzer*innen im Blick und führten nicht selten zu Begegnungen zwischen den Autor*innen und ihren Übersetzer*innen. Jahrelang hatte ich mit großer Freude einen Lehrauftrag an der LMU, Studiengang literarisches Übersetzen: «Übersetzen von Dialogen – französisch». Ich lektoriere Stücke und korrigiere Programmhefte. Ich habe Untertitel für französische Dokumentarfilme übersetzt. Freie Pressearbeit mache ich seit der Schulzeit schon immer, nebenbei, immer wieder.
Freiberufliche Arbeit ist großartig, man arbeitet selbstbestimmt und selbstständig, also selbst und ständig. Haha. Es ist reizvoll, aber auch sehr mühsam, so viele Kugeln gleichermaßen am Laufen zu halten, mit so vielen Tellern gleichzeitig zu jonglieren. Manchmal fällt einer herunter und geht zu Bruch. Ausgerechnet, als Corona kam, bot man mir eine feste Stelle an. Pressearbeit, halbtags. Ich habe sie angenommen. Das Übersetzen habe ich nicht aufgegeben, aber den Lehrauftrag.
Jetzt habe ich ein festes Einkommen, aber wenn ich zu einer Premiere fahren will oder an einer Übersetzungswerkstatt teilnehmen, muss ich Urlaub nehmen. Ich kann mich in eine neue Übersetzung verbeißen, aber ich kann nicht dranbleiben: Morgens gehe ich ins Büro, jeden Tag, ganz gleich, ob am Vorabend eine Frage offen geblieben ist. Die muss warten.
Ich bin ein bisschen verbittert, das gebe ich zu. Ich übersetze sehr gerne und ich weiß, dass ich gut übersetze. Aber das Übersetzen von Theaterstücken wird für mich ein Luxus bleiben. Von den Tantiemen allein kann ich nicht leben, und die Entwicklung verläuft nicht zu meinen Gunsten: Hat das Theater überhaupt eine Zukunft?  Wie viele Theater spielen noch zeitgenössische Stücke? Wie viele Theaterverlage werden sich noch halten? Wie lange?
Evelynes Stücke und die von Rébecca Déraspe, die ebenfalls aus Québec kommt und die für den deutschsprachigen Raum entdeckt zu haben ich mich rühmen darf, werde ich weiterhin übersetzen. Weil sie es verdienen, gelesen, gehört, gesehen zu werden. Weil ich immer wieder das Gefühl habe, die Anliegen der Autorinnen sind auch meine eigenen. Ich bin glücklich über jede deutschsprachige Produktion ihrer Texte. Im November erlebt «Keimzellen» von Rébecca Déraspe seine Deutschsprachige Erstaufführung in Bielefeld. Ich freue mich drauf. Und habe Urlaub genommen.

PS: Die nächsten Kapitel würden heißen: Warum tue ich es immer wieder? Worauf kommt es an? Und: (Wie) Kann man literarisches Übersetzen lehren? Vielleicht schreibe ich sie noch…

Die deutschsprachige Erstaufführung von Rébecca Déraspes «Keimzellen» findet am 10. Novemver 2022 um 20 Uhr am Theater Bielefeld statt.

Die Übersetzerin, Dramaturgin und Lektorin Gerda Poschmann-Reichenau (Foto: privat)

Gerda Poschmann-Reichenau, 1969 in München geboren, studierte Theaterwissenschaft, Französisch und Kunstgeschichte, promovierte mit einer Arbeit über zeitgenössische deutschsprachige Dramatik und kam über die Schauspieldramaturgie zum literarischen Übersetzen. Seit zwanzig Jahren überträgt sie Theatertexte ins Deutsche, vor allem aus dem Französischen (mit Schwerpunkt Québec). Neben der Tätigkeit als Übersetzerin ist sie auch weiterhin als Dramaturgin, Lektorin und in der Pressearbeit tätig.

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