Eine Übung in Bewunderung: Das internationale Regisseurinnen-Festival „Jassad“ in Rabat Über feministische Komplizinnenschaft als ästhetische Praxis

Plakat des Festivals «Jassad» (Foto: d.r.)

 

Im Oktober 2022 war die tunesische Autorin und Regisseurin Meriam Bousselmi zu einem von den Regisseurinnen Asmaa Houri und Naima Zitan geleiteten Theaterfestival im marokkanischen Rabat eingeladen, das sich ausschließlich dem künstlerischen Schaffen von Frauen widmet. Über die ungewöhnliche Atmosphäre und die politische Sprengkraft eines solchen Ereignisses in der arabischen Welt verfasste sie eine Reihe von Essays. Der erste ist hier zu lesen, die beiden anderen veröffentlichen wir im Februar und März 2024.

 

von Meriam Bousselmi

 

Es gibt mehrere Möglichkeiten, etwas zu tun: Je nach Umständen und aus ethischen oder ästhetischen Gründen können wir etwas auf gut Glück tun oder sein lassen. Wir können unsere Pflicht tun oder so tun als ob, unser Bestes tun oder tatenlos umkehren. Wir können uns schwertun, es mit jemandem zu tun kriegen, jemandem etwas zuliebe oder zuleide tun. Auf jeden Fall würde es seine Wirkung tun. Und manchmal, wenn auch selten, passiert es, dass wir einen Schritt in die richtige Richtung tun, Luftsprünge oder Wunder tun.[1] So war es beim Internationalen Regisseurinnen-Festival «Jassad«[2] in Rabat vom 25. – 30. Oktober 2022, bei dem ich mit großer Freude meine Solo-Performance «HEIMAT WORT/ HABITER LES MOTS – Eine performative Auseinandersetzung mit der Poesie und mehr»[3] zeigen durfte, gespielt von Miriam Lemdjadi.

Ich forsche an der Universität im Bereich Gerechtigkeit und Theater und bin Autorin und Regisseurin, ich bin vierzig Jahre alt und meine Theaterpraxis besteht seit über 20 Jahren. Trotzdem war es das erste Mal, dass ich zu einem Theaterfestival in ein arabisches Land eingeladen wurde, gegründet und geleitet von zwei marokkanischen Regisseurinnen, Asmaa Houri und Naima Zitan. Vor dem Festival «Jassad» war ich nur einmal, 2009, zu einem staatlichen Mini-Festival namens » الركح المؤنث»(«Die Bühne im Femininum»)[4] eingeladen worden, das weiblichen Regisseurinnen aus Tunesien gewidmet war und von dem Regisseur Hamadi Mezzi, damals Leiter des Kulturzentrums Ibn Rachiq in Tunis, gegründet und kuratiert wurde.
Ich zeigte dort mein Stück «Zapping sous contrôle«[5], das sind schöne Erinnerungen. Ansonsten war ich während meiner zwanzigjährigen Laufbahn nie bei einem Theaterfestival zu Gast oder als Teilnehmerin, das von einer Frau oder mehreren Frauen zu dem Zweck initiiert und kuratiert worden wäre, Theatermacherinnen aus arabischsprachigen Ländern zu fördern. Das soll keine bloße Klage sein, sondern zuerst eine Feststellung, Problematisierung und damit verbundene Forderung: Frauen in Leitungspositionen von Theatern oder nationalen und internationalen Festivals sind in arabischen Ländern noch eine Ausnahme.

Deshalb ist das Festival «Jassad» keine gewöhnliche Kulturveranstaltung, sondern ein Akt des Widerstands: Widerstand gegen die Diktatur des Profits, vom Patriarchat hofiert und verteidigt, und gegen die männliche Vormachtstellung, durch die Frauen in ihrem künstlerischen Schaffen kaum unterstützt, sondern im Gegenteil instrumentalisiert werden. Es handelt sich auch um die feministische Eroberung von Bereichen, wo Frauen als dominierte Subjekte verdrängt, blockiert oder ausgeschlossen und ihrer Existenz- und Ausdrucksmittel beraubt wurden. Wir können sagen, das Festival «Jassad» ist in Struktur, Funktionsweise und Programm eine ästhetische Innovation.

Ausschnitt aus der Performance «Habiter les mots» von Meriam Bousselmi mit der Schauspielerin Miriam Lemdjadi (Foto: Caroline Reucker)

Körperformationen

«Jassad» bedeutet auf Arabisch «Körper». Der Frauenkörper ist die erste Bühne des Kampfes um Gleichberechtigung und Freiheit. Das patriarchale Denken rechtfertigte die Unterdrückung der Frau mit dem Verweis auf ihre biologische Kondition und reduzierte sie auf die Fortpflanzung als Primärfunktion. Diese physische Bestimmung zur Mutterschaft schloss Frauen davon aus, im politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben eine aktive Rolle zu spielen. Noch schlimmer: Wegen ihrer körperlichen Beschaffenheit machten der männliche Blick und das männliche Begehren Frauen zu Objekten. Eine Frau musste gefallen, sonst existierte sie nicht. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Darstellung/en von Frauen und die Rollen, die ihnen in Theaterproduktionen zugewiesen werden. Über lange Zeit waren Frauen eingesperrt im Rollenbild der Muse, der Regieassistentin oder im besten Fall der schauspielernden Gattin oder Geliebten des Regisseurs. Technische Positionen, die Leitungsebene und das Schreiben waren lange und sind – wie in Europa[6] – größtenteils immer noch Männerdomänen.

Was die Forschung und wissenschaftliche Publikationen in der Theaterwissenschaft und der Dramenästhetik angeht, so ist die Situation nicht besser, weder auf Arabisch noch in den Sprachen des Kolonialerbes Französisch und Englisch. Eine Referenz stellen auf dem Gebiet nur Männer dar. Ich müsste wohl passen, wenn ich Ihnen mehrere Namen arabischer Wissenschaftlerinnen nennen soll, die in der Theaterwissenschaft eine Autorität darstellen oder deren Werke als unbestrittene Referenzen gelten, ähnlich wie Erika Fischer-Lichte in der deutschsprachigen Theaterlandschaft oder die frankophone Spezialistin für griechisches Theater Jacqueline de Romilly, die seit Erscheinen ihres Buches «La Tragédie grecque«[7] unangefochten ist. Das systematische Ausblenden von Theaterfrauen in arabischen Ländern wäre auch eine Erklärung für das Fehlen jeglicher ernsthaften akademischen Forschung zu einer feministischen ästhetischen Praxis im arabischen Theater (zumindest nach meinem Kenntnisstand). Wie gehen wir mit dieser Realität um und wie versuchen wir, sie zu verändern?

Durch den Titel, den das Festival «Jassad» sich gegeben hat, fordert es diesen «Körper» ein. Er erinnert an das bekannte arabischsprachige feministische Magazin, 2009 von der libanesischen Schriftstellerin Joumana Haddad gegründet, das ebenfalls den Namen «JASAD»[8] trägt. Anscheinend braucht es eine Formation von Körpern – ein «Sich zusammentun»– um den oder die eigenen Körper zurückzuerobern. Eine Körperformation bilden bedeutet, solidarisch sein, sich verbinden, verbünden, eine Einheit konstituieren. Die Entscheidung des Festivals «Jassad» ist sowohl strukturell als auch ästhetisch. Mit der Aufteilung der Leitung auf zwei Theatercompagnien, der Compagnie ANFASS von Asmaa Houri[9] und der Compagnie AQUARIUM von Naima Zitan[10], setzt das Festival «Jassad» dieses Konzept einer «Körperformation» organisch in die Praxis um.

Die Arbeit als Duo ist ein politischer und ästhetischer Ansatz, der mit dem klassischen Modell von Macht und ihren hierarchischen Reflexen bricht und eine solidarische, auf Dialog beruhende Arbeitsweise valorisiert. Es handelt sich hier um einen in der europäischen Kulturpolitik hoch im Kurs stehenden Trend, welcher die Ernennung künstlerischer Leitungsduos für Institutionen und Theaterfestivals favorisiert, zu Gunsten der Dezentralisierung von Macht und zu Gunsten der Gleichstellung[11]. Im arabischsprachigen Raum ist diese Praxis jedoch selten bis inexistent. Das kollaborative Modell des Festivals «Jassad», bei dem zwei Theatercompagnien sich die Geschäftsführung teilen, stellt an sich schon eine Innovation in der arabischen Theaterlandschaft dar.

Ausschnitt aus der Performance «Habiter les mots» von Meriam Bousselmi mit der Schauspielerin Miriam Lemdjadi (Foto: Thalia Engel)

Die organische und strukturelle «Körperformation» zweier Regisseurinnen mit ihren Compagnien an der Spitze eines Festivals hat natürlich Einfluss auf dessen Methoden der Konzeption und Programmfindung. Der Auftrag der künstlerischen Festivalleitung wird nicht mehr so verstanden, wie es in jeglicher Art partriarchaler Profitlogik oft der Fall ist, dass innerhalb eines Netzwerks einfach nur gegenseitig Einladungen unter Freunden verteilt werden, sondern als eine intellektuelle und künstlerische Begleitung der zum Festival eingeladenen Künstlerinnen. Natürlich setzt das einen Entscheidungsprozess voraus, der subjektiv und anfechtbar bleibt.

Was ich beim Festival «Jassad» am meisten zu schätzen wusste, ist, dass das Programm auf Einladung und im Austausch mit den Künstlerinnen zusammengestellt wurde. Dies bricht mit dem klassischen bürokratischen Bewerbungsverfahren, durch das Künstler*innen und Projekte auf eine Ebene mit Konsumprodukten gestellt und den Regeln von Hierarchien und Konkurrenz unterworfen werden. Nach dem Beispiel angesehener alternativer Festivals, die die Künstler*innen ins Zentrum ihrer Vorgehensweise rücken, erfolgt die Programmgestaltung beim Festival «Jassad» durch Einladung, was ein Bekenntnis zum Werk einer Künstlerin zum Ausdruck bringt.

Eine «Körperformation» entsteht auch zwischen dem Festival-«Korpus» und dem «Korpus» der Arbeit der Künstlerin. Es geht nicht nur darum, irgendeine Auswahl zu treffen, sondern jemanden anhand von ästhetischen Affinitäten auszuwählen. Das ist wieder eine ästhetische Innovation. Denn auch wenn in Europa das Verständnis von der Aufgabe eines Festivals als Raum des Begleitens und nicht des Ausstellens relativ weit verbreitet ist, ist es in den arabischen Ländern leider selten. Dort funktionieren die meisten Theaterfestivals nach einem auf Bewerbung beruhenden Auswahlmechanismus. Einzige Ausnahme bilden die Ehrengäste und das sind in der Regel privilegierte (weiße) Männer, zum Beispiel bei der 24. Ausgabe der Theatertage von Karthago («Journées théâtrales de Carthage«), die vom 2.-10. Dezember 2023 in Tunis stattfanden, und deren Programm mit Romeo Castellucci, Robert Wilson und dem verstorbenen Peter Brook ohne irgendeine kritische oder dekoloniale Hinterfragung[10] weithin als Meisterleistung der tunesischen Kunstszene gepriesen und beklatscht wurde. Diese Festivals schreiben Ungleichheiten und Herrschaftsverhältnisse fort und sind nicht in der Lage, Fragen der Emanzipation und der Dekolonisierung zu reflektieren.

In seiner ersten Ausgabe ist das Festival «Jassad» das einzige arabische Festival, zu dem ich eingeladen wurde und das auf so bewundernswerte Weise den Konformismus der arabischen Festival-Netzwerke zu durchbrechen wusste, bei denen oft dieselben (Pseudo)künstler*innen, (Pseudo)expert*innen und (Pseudo)kritiker*innen zu sehen sind, dieselben Trends, dieselben Einflüsse. Hinter der Chuzpe, mit den etablierten Mechanismen der zu brechen, verbirgt sich der Wille, in feministischer Komplizinnenschaft einen alternativen Raum für Austausch und künstlerisches Miteinander zu schaffen.

Ausschnitt aus der Performance «Habiter les mots» von Meriam Bousselmi mit der Schauspielerin Miriam Lemdjadi (Foto: Caroline Reucker)

Schluss mit dem Zwang zu gefallen

Ich verdanke meine Teilnahme am Festival «Jassad» der Regisseurin Asmaa Houri, die sich für meine künstlerische Arbeit einsetzte und mich einlud, eine meiner Inszenierungen zu zeigen. Wir kamen überein, «HEIMATWORT/ HABITER LES MOTS» zu spielen, eine Solo-Performance, die ich auf Französisch geschrieben, aber in Heidelberg auf Deutsch inszeniert habe, in einer Übersetzung von Lilian Pithan und mit Miriam Lemdjadi als Performerin. Wir beschlossen, dass das Gastspiel beim Festival auf Französisch übertitelt werden sollte, also in der Original-Sprache des Textes. Das Festival «Jassad» hatte sieben andere Stücke im Programm, von Regisseurinnen aus Marokko, Spanien, Frankreich und dem Libanon. Mir fiel die große Diversität der künstlerischen Ansätze im Programm auf, die vom Tanztheater bis zur Performance, vom Sprech- bis zum Erzähltheater reichten. Zudem brachte das eine bewundernswerte mehrsprachige Polyphonie mit sich, die eine Reflexion über die Übersetzbarkeit der Theatersprache anstieß, deren Universalität Gegenstand einer Kontroverse wurde, ein Thema, das an sich schon einen Essay verdient hätte.

Neben der Diversität der Theaterformen und der Pluralität der Sprachen auf der Bühne war außerdem bemerkenswert, wie sehr sich die Entstehungsprozesse der Inszenierungen des Programms unterschieden. Manche hatten gerade erst Premiere gehabt oder waren eigens für das Festival konzipiert worden, wie das Stück «Nawal» von Lina Abyad aus dem Libanon: eine biographische Hommage an die ägyptische Psychiaterin und feministische Schriftstellerin Nawal el Saadawi (1931-2021) frei nach deren Memoiren[13]. Andere Stücke waren schon länger gespielt worden. Es ist eine weitere Neuerung des Festivals «Jassad», den Kunstproduktionen einen zeitlosen Wert zuzusprechen, ganz entgegen des von Markt- und Profitlogik diktierten Trends, der Kunstwerke auf «Wegwerfprodukte» reduziert und ihnen ein Verfallsdatum aufdrückt.

Die Vielfalt des Programms spiegelt nicht nur das Vertrauen der Organisatorinnen den eingeladenen Regisseurinnen gegenüber wider, sondern auch ihr Vertrauen in das Festivalpublikum in Rabat. Beim Festival «Jassad» war kein Platz für ästhetische oder geschmäcklerische Diktaturen! Kein Platz für die Diktatur des «Was-das-Publikum-will» oder die «Künstlerdiktatur»! Das Festival «Jassad» ist konzipiert als ein Raum zur Ausübung von Freiheit, Gleichheit, Austausch und Dialog. Es gab keinerlei Hierarchisierung der Kunstformen oder künstlerischen Karrieren. Egal, wie alt die Regisseurinnen waren oder wieviel Erfahrung sie mitbrachten – für manche war es die erste, für andere die xte Inszenierung, manche machten sich eben erst auf lokaler Ebene einen Namen, andere hatten bereits eine internationale Karriere. Ausnahmslos alle wurden auf dieselbe Weise behandelt, mit viel Takt und Anerkennung, in schönster intergenerationeller Komplizinnenschaft. Wir fühlten uns plötzlich frei von der Konkurrenz, der wir bei von Männern konzipierten und geleiteten Theaterfestivals ausgeliefert sind, vor allem bei Festivals mit Wettbewerb. Vom Zwang befreit, einem Programmdirektor, dem Publikum oder einem sich «männlich» gebarenden Kollegen gefallen zu müssen, veränderte sich unsere Präsenz uns selbst und einander gegenüber komplett. Wir versuchten nicht mehr, uns zu rechtfertigen oder unsere künstlerischen und den Umständen geschuldete Verletzbarkeit zu kaschieren, sondern hatten Mut, die anderen zu Zeuginnen und Komplizinnen des Unwägbaren und des Schwierigen in unseren künstlerischen Prozessen und Arbeitsweisen zu machen.

Mir persönlich hat «Jassad» erlaubt, die Funktion eines Festivals zu überdenken, nicht als einen Ort der Präsentation eines abgeschlossenen und zur Perfektion gebrachten künstlerischen Produkts, sondern als einen Ort des Ausprobierens und Infragestellens der eigenen künstlerischen Praxis zu sehen. Mir wurde auch bewusst, dass Künstlerinnen heutzutage erst lernen müssen, sich von den verschlossenen, autodefensiven Haltungen zu befreien, die sie in einem feindlichen patriarchalen Kontext verinnerlicht haben, um für ihr künstlerisches Schaffen andere Herangehensweisen zu erfinden. Auch Frauen haben das Recht, ihre Maske abzulegen und zu sprechen, ohne Angst vor Kritik, ohne um den heißen Brei herumzureden, ohne die Rolle der folgsamen Schülerin oder der Verführerin spielen zu müssen, ohne einander mit Samthandschuhen anzufassen. Es steckt ein unbesiegbarer Charme in der (ästhetischen und ethischen) Komplizinnenschaft, die das Festival «Jassad» zu mobilisieren verstand.

Ausschnitt aus der Performance «Habiter les mots» von Meriam Bousselmi mit der Schauspielerin Miriam Lemdjadi (Foto: Caroline Reucker)

Der unbesiegbare Charme der Komplizinnenschaft

Dank der fürsorglichen Praxis der künstlerischen Leiterinnen Asmaa Houri und Naima Zitan, dank des Orgateams aus feministischen, hochgebildeten, engagierten, für das Theater und die solidarische Arbeit brennenden Männern und Frauen, dank des professionellen Technikteams unter Führung des wachen und aufgeschlossenen Künstlers Rida Elabdallaoui und dank des neugierigen Publikums hat das Festival «Jassad» für alle eingeladenen Theatermacherinnen einen «Safe Space» geschaffen. Ob bei den Vorstellungen, den Publikumsgesprächen nach den Stücken oder den informellen Gesprächen auf dem Weg dorthin, im Hotel oder beim Essen, immer erhielten wir bemerkenswert taktvollen Support. Die außergewöhnliche feministische Komplizinnenschaft prägte die Festivalatmosphäre und wurde zu einer eigenständigen ästhetischen Praxis. Diese ästhetische Praxis der feministischen Komplizinnenschaft bestand aus einer Form des Dialogs auf der Grundlage von Freiheit und Vertrauen.

Wir wurden ermutigt, unsere Praxis und unsere Visionen fortwährend neu zu befragen und uns den Herausforderungen unserer Berufe verantwortungsvoll und professionell zu stellen. Kritik zu äußern an der Arbeit einer Kollegin oder an einem Aspekt der Organisation sowie Kritik zur eigenen Arbeit anzunehmen, wurde als Ausdruck von Komplizinnenschaft und nicht von Gegnerinnenschaft gesehen. Der offene Austausch mit manchen Teammitgliedern und Teilnehmer*innen über ihre und meine Arbeit war berührend. Es gab nicht die geringste Feindseligkeit über Uneinigkeiten. Eine gegensätzliche Meinung wurde nicht als Konflikt oder Untreue verstanden, sondern als Anrecht und Inspiration.

Auch wusste ich den bei den Teammitgliedern des Festivals «Jassad» herrschenden Geist der Komplizinnenschaft, Freiwilligkeit und Gemeinschaftlichkeit sehr zu schätzen. Fast alle, die die Künstler*innen und Teilnehmer*innen vor Ort in Rabat in Empfang nahmen, begleiteten und unterstützten, waren Ehrenamtliche von Naima Zitans CompagnieTHÉÂTRE AQUARIUM. Ihre engagierte Arbeitsweise war das absolute Gegenteil von der Haltung von «Gelegenheitsjobbern». Es ist faszinierend, dass Naima Zitan bei ihrer ästhetischen Praxis eine ganze Schar von Kompliz*innen zur Seite hat. Ihre Schwestern und einige Freund*innen hatten sogar Urlaub genommen und waren aus anderen Städten angereist, um das Festival zu unterstützen. Die Atmosphäre unterschied sich völlig von allen Festivals, an denen ich bis dahin teilgenommen hatte. Es wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt, Beziehungen zwischen dem Orgateam, den Theatermacherinnen und dem Festivalpublikum herzustellen. Das Festival war eine regelrechte Übung in der Kunst der Kommunikation und des Miteinanders.

Und schließlich wusste ich die Gespräche zu schätzen, die ich mit einigen Mitgliedern des Orgateams führte. Bei meiner spätabendlichen Ankunft am Flughafen von Rabat wurde ich von zwei fabelhaften Architekt*innen, die zur Compagnie AQUARIUM gehörten, in Empfang genommen, Ghizlane Karimallah und Kossaï Aggairi (letzterer war zur Unterstützung der Festivalorganisation extra angereist). Wir begannen sofort ein anregendes Gespräch über Architektur, Kultur und Gerechtigkeit, das sich über das ganze Festival hinweg fortsetzte. Als wir in unserer Unterkunft ankamen, dem Staatlichen Institut für Menschenrechtsbildung («l’Institut national d’éducation aux droits de l’homme») in Rabat, einem Partner des Festivals «Jassad«, begannen wir eine Diskussion über Engagement, Kultur und Menschrechte mit dem Menschenrechtsaktivisten Hakim Besaid, ebenfalls Vereinsmitglied des THÉÂTRE AQUARIUM. Auch den inspirierenden Austausch mit meinem Assistenten während des Festivals möchte ich erwähnen, dem jungen marokkanischen Schauspieler und Regisseur Omar Killou[14], einem Schüler von Naima Zitan, der soeben den ersten Preis in der Kategorie Mobile Film beim International Student Film Festival Casablanca (12.-15. Dezember 2023) gewonnen hat. Und nicht zu vergessen die zahlreichen Begegnungen mit den anderen Teammitgliedern, Teilnehmer*innen, Freund*innen und Festivalbesucher*innen.

Ein Theaterfestival ist nicht nur ein kulturelles und künstlerisches Ereignis, es ist ein Kondensat des Lebens, das einen Blick hinter die Vorhänge der Gesellschaft/en ermöglicht. Meine Reflexion ist nicht abgeschlossen. Es gibt noch Vieles zu sagen über die unterschiedliche/n Darstellung/en von Frauen auf der Bühne, über die ästhetischen Entscheidungen meiner Kolleginnen und über die Rezeption der Stücke beim Publikum. Aber dafür bräuchte es einen längeren Essay als diesen, womit ich sagen will, was für eine große Inspiration mir das Festival «Jassad» gewesen ist.

 

(Aus dem Französischen von Corinna Popp)

 

 

[1] Anmerkung der Übersetzerin: Die Autorin benutzt hier im ersten Absatz im französischen Original verschiedene Redewendungen und Ausdrücke, die das Verb «faire» enthalten. Die Übersetzerin entschied sich gegen eine wörtliche Übertragung und für einen Transfer des Wortspiels rund um das Verb «tun» im Deutschen.

[2] Weitere Informationen auf der offiziellen Festivalseite, https://www.festivaljassad.com/index.html (Zugriff: 07.12.2023)

[3] HEIMATWORT, Eine performative Auseinandersetzung mit der Poesie und mehr, Gefördert durch den Landesverband Freie Tanz- und Theaterschaffende Baden-Württemberg e.V. aus Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg mit der Unterstützung des Vereins Freunde Arabischer Kunst und Kultur e.V. (2020).

Videodokumentation des Stücks beim Festival «Jassad»: https://www.youtube.com/watch?v=6l8xHTiVuLU, (Zugriff: 07.12.2023)

Aufzeichnung der Eröffnungsvorstellung der Heidelberger Theatertage 2020 EINZELSTÜCKE, https://www.youtube.com/watch?v=WbFrPIyQ3R8, (Zugriff: 07.12.2023)

[4] Für weitere Informationen siehe den auf Arabisch veröffentlichten Artikel auf der Plattform Elaph Publishing Limited – UK am 3.März 2009 von Amel Helali unter dem Titel : » (الركح المؤنث) تظاهرة مسرحية تحتفي بالنساء المبدعات»  (Übersetzung: Die Bühne im Femininum: Ein Theaterevent zur Würdigung des künstlerischen Schaffens von Frauen), https://elaph.com/Web/Culture/2009/3/415500.htm(Zugriff: 07.12.2023)]

[5] «Zapping sous_contrôle«, Text und Inszenierung von Meriam Bousselmi, eine Produktion von Web Arts Tunis, ausgezeichnet mit dem «Prix de la Production de La Ressource Culturelle» («Al Mawred Al Thaqafy») 2007.

Für weitere Informationen siehe: MEKKI, Thameur, «Tunisie Big Brother ne zappe jamais !«, In: Tekiano.com, (19.11.2009), https://www.tekiano.com/2009/11/14/tunisie-big-brother-ne-zappe-jamais/  (Zugriff : 07.12.2023)

Trailer des Stückes: https://www.youtube.com/watch?v=CAjx53RpYQ0 (Zugriff : 07.12.2023)

[6] Weitere Informationen in der Studie «Gender Equality & Diversity in European Theatres», in: EUROPEAN THEATRE CONVENTION (08.03.2021), https://www.europeantheatre.eu/news/six-men-for-every-four-women-gender-inequalities-in-theatre-programming-revealed-in-new-crosseurope-study  (Zugriff: 07.12.2023)

[7] ROMILLY, Jacqueline de, «La tragédie grecque«, Presses Universitaires de France, Paris, 1970

[8] Weitere Informationen auf der Website des Magazins «JASAD», https://jasadmedia.org/en/about/ (Zugriff: 07.12.2023)

[9] Weitere Informationen auf der Facebookseite der Theatercompagnie «»ANFASS»»,https://www.facebook.com/Theatre»»ANFASS»»/?locale=fr_FR  (Zugriff: 07.12.2023)

[10] Weitere Informationen auf der Website der Theatercompagnie AQUARIUM, https://theatreaquarium.com/aquarium.html (Zugriff: 07.12.2023)

[11] Für weitere Informationen siehe: Couture, Phillipe, «DIRIGER UN FESTIVAL : À DEUX, C’EST MIEUX, DU CÔTÉ DU KUNSTFESTIVAL DES ARTS ET DU FTA«, in: La POINTE (31.01. 2022) https://lapointe.be/2022/01/31/diriger-un-festival-a-deux-cest-mieux/ (Zugriff: 07.12.2023), Weiss, Stefan, «Warum Kollektive im Kulturbetrieb zunehmend den Ton angeben«, in: DER STANDARD (16.03.2019), https://www.derstandard.de/story/2000099634604/warum-kollektive-im-kulturbetrieb-zunehmend-den-ton-angeben (Zugriff: 07.12.2023)

[12] Weitere Informationen auf der offiziellen Festivalseite, https://jtcarthage.tn/ (Zugriff: 07.12.2023)

[13] Vicente, Léa,  « Lina Abyad, PLONGÉE DANS SA CONSTELLATION DE FEMMES PUISSANTES» in:  Agenda Culturel Liban(27.10. 2022), https://www.agendaculturel.com/article/lina-abyad-plongee-dans-sa-constellation-de-femmes-puissantes (Zugriff: 07.12.2023)

Videodokumentation des Stückes beim Festival «Jassad», https://www.youtube.com/watch?v=BZxDwPwzMXY, (Zugriff: 07.12.2023)

[14] Für weitere Informationen über die Arbeit des jungen Regisseurs Omar Killou siehe den Trailer zu seinem kurzen Dokumentarfilm ( الحنطه ) ( Porträt eines Bootsmanns aus Rabat), https://www.youtube.com/watch?v=sXUHf47Akhw(Zugriff:07.12.2023)

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Dieser Essay ist der erste Teil einer dreiteiligen Studie, die Meriam Bousselmi dem Thema «Ästhetische Praktiken beim Theaterfestival «Jassad»: Feminismus und Übersetzung» gewidmet hat. Zwei weitere Essays werden 2024 unter folgenden Titeln veröffentlicht:
– Gendert das weibliche Genie die ästhetische Praxis?
– Übersetzung als ästhetische Praxis der Komple(x)(z)ität.
Dieser Text entstand während ihrer Forschungsarbeit im Rahmen des Graduiertenkollegs 2477 «Ästhetische Praxis», gefördert von der «Deutschen Forschungsgemeinschaft» – Projektnummer: 394082147.

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Die Regisseurin und Autorin Meriam Bousselmi (Foto: Angela Ankner)

Meriam Bousselmi, geboren 1983 in Tunis, studierte Rechts- und Politikwissenschaft an der Universität Tunis Karthago. Sie ist eine mehrsprachige Autorin, Regisseurin, Rechtsanwältin, Dozentin, Forscherin und Brückenbauerin. Sie forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit im DFG-Graduiertenkolleg 2477 – Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim zur Inszenierung von Gerechtigkeit und setzt dieses Thema auch künstlerisch um.
In ihrer künstlerischen Praxis verbindet Meriam Bousselmi die unterschiedlichsten Formen des Erzählens: literarische Texte, Theaterinszenierungen und performative Installationen. Sie reflektiert anhand verschiedener ästhetischer Formen die gegenwärtigen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Indem sie Genregrenzen überschreitet und sich mit Tabuthemen auseinandersetzt, gibt sie ein kritisches Bild unserer Zeit wieder. Ihre Arbeiten werden zu einem künstlerischen Statement gegen politische Manipulationen und die vorherrschenden negativen Narrative unserer Welt.
2018 ist Meriam Bousselmi nach Berlin gezogen und hat seitdem einen mehrsprachigen Schreibstil und einen transkulturellen künstlerischen Ansatz entwickelt. Ihre neuen Projekte übersetzen Begriffe wie Dialog, Transfer und Vermischung von Erzählweisen in die Praxis.

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