Ela zum Winkel Das Theater von nebenan: von deutsch-französischen Theaterbeziehungen

Trotz der geografischen Nähe zwischen Deutschland und Frankreich scheint sich das Wissen über die Vielfalt der jeweils anderen Theaterlandschaft in Grenzen zu halten. Woran liegt das? Die Germanisten Michael Werner und Michel Espagne haben in Bezug auf den Kulturtransfer eine Theorie des Defizits aufgestellt. Man pickt sich aus der anderen Kultur heraus, woran es in der eigenen scheinbar fehlt. Persönlich wie beruflich mit beiden Kulturen verbunden, begegne ich selbst nicht selten nationalen Stereotypen, die in die Beurteilung des «eigenen» und «fremden» Theaters miteinfließen. Ein Streifzug durch Gelesenes, Erzähltes, Erlebtes.

Was zuvor geschah …

«Das Stück ist französisch. Und so hätte es auch gespielt werden müssen», schreibt der Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft 1947 über eine Inszenierung von Jean Anouilhs «Antigone» durch Bruno Hübner an der Komödie am Kurfürstendamm. Ferner bemerkt Luft, dass «manches, was zu Hause vortrefflich sein und rühren mag, in unseren Ruinen anders klingt.» Schließlich befinden wir uns im Deutschland der Nachkriegszeit.

Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs musste sich das Theater in beiden Ländern neu erfinden. Während das kulturelle Leben in Paris nicht zuletzt durch das Schaffen emigrierter Künstler und Künstlerinnen rasch wieder auflebte, mangelte es in Deutschland an zeitgenössischen (und nicht vorbelasteten) Theaterschaffenden, weshalb man – auch auf Druck der Alliierten – auf den klassischen Kanon zurückgriff. Texte von Lessing, Schiller oder Goethe sollten dem Publikum humanistische Werte vermitteln. In Frankreich wurden Komödien gespielt, aber auch Stücke von Sartre, Camus und von Vertretern des Nouveau Théâtre wie Beckett, Ionesco, Adamov und Genet. Von Deutschland aus wurde das Bühnengeschehen in Frankreich aufmerksam verfolgt, ein Interesse, das bis in die 1950er Jahre unerwidert blieb. Zu einem Umbruch kam es dann 1954, als das Berliner Ensemble mit Brechts «Mutter Courage und ihre Kinder» beim ersten internationalen Theaterfestival in Paris gastierte. Brecht war schon bald einer der meistgespielten Dramatiker auf französischen Bühnen und galt als Vorbild eines «théâtre populaire», welches als Gegenentwurf zum bürgerlichen Theater verstanden wurde. Seither ist die Faszination für «deutsches» Theater in Frankreich nie ganz abgeflaut, was umgekehrt vielleicht schon eher der Fall ist.

Ein Blick auf die Spielpläne

Im deutschsprachigen Raum erregten zuletzt Texte von Virginie Despentes, Annie Ernaux, Édouard Louis und Didier Eribon großes Interesse. Ihre ursprünglich als Romane verfassten Texte wurden für das Theater adaptiert und hatten alle (!) ihre Uraufführung in Deutschland, Österreich und der deutschen Schweiz. Viel mehr als im eigenen Land scheinen diese Texte, die sich vordergründig mit sozialen Missständen, Klasse und Geschlecht beschäftigen, in deutschsprachigen Ländern Anklang zu finden. Oft werden sie als eine mögliche Erklärung der gesellschaftlichen Gegenwart und ihres Rechtsrucks gedeutet. Ganz anders ob ihres Genres und der behandelten Themen stehen Stücke von Éric-Emmanuel Schmitt und Yasmina Reza schon seit Jahren auf den deutschen Spielplänen. In Frankreich dagegen werden sie an großen Häusern kaum gespielt.

Umgekehrt zeigen die großen Spielstätten in Frankreich immer mal wieder Texte von Bertolt Brecht, Frank Wedekind, Ödön von Horváth, Heiner Müller, Thomas Bernhard oder auch Molière. Zeitgenössische Autoren wie Falk Richter, Roland Schimmelpfennig oder Marius von Mayenburg sowie die Regisseure Frank Castorf, Thomas Ostermeier und René Pollesch sind im Nachbarland sehr beliebt und werden oft als mustergültige Beispiele des als politisch verstandenen «deutschen» Theaters wahrgenommen.

Natürlich ist diese rudimentäre Aufzählung nicht ganz repräsentativ für den deutsch-französischen Theateraustausch, vielmehr ein knapper Abriss dessen, was von der anderen Seite in großen Wellen herüberschwappt. Im Grunde ist es immer bereichernd, in einer anderen Kultur etwas zu entdecken, was im eigenen Land vielleicht übersehen wurde und umgekehrt. Weshalb manche Texte reisen und andere nicht, bleibt dennoch oft ein Rätsel. Gelingt ein Transfer vor allem bei Texten, die in irgendeiner Art und Weise kulturelle Mythen fortsetzen? Und uns in der Wahrnehmung des anderen bestätigen?

… und auf die Bühnen

Selbst- und Fremdwahrnehmung spielten auch während meiner Schauspielausbildung in Frankreich eine Rolle. In beiden Kulturen aufgewachsen fühlte ich mich selbst weder als Deutsche noch als Französin, wurde aber, auch vor der Studienzeit, gerne mal in die eine oder die andere Schublade gesteckt. In diesem Fall schien mein Fremdanteil sehr willkommen: Das deutsche Theater galt gemeinhin als systemkritischer und mutiger. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, so hörte ich oft, seien performativer, ihr Spiel physischer, fast schon akrobatisch, handwerklicher und aber um so freier. Umgekehrt hieß es oft, in Frankreich sei das Theater intellektueller, gleichzeitig unbefangener und pointierter, aber auch zu textlastig (?!), nicht engagiert genug. Selbstverständlich lässt sich das alles nicht pauschalisieren. Es besagt aber, dass gerade das vermeintlich «typisch» Fremde mal Bewunderung, mal Ablehnung hervorruft.

Viel Theater ums nationale Theater?

Gibt es überhaupt so etwas wie einen nationalen Geschmack und damit eine eher französische und eine eher deutsche Art, Theater zu machen? Natürlich sind die Theaterlandschaften überall auf der Welt unterschiedlich. Und es liegt auf der Hand, dass sich auch die Schauspieler und Schauspielerinnen unterscheiden, da sie ja gar nicht anders können, als ihr eigenes soziales und kulturelles Umfeld zu interpretieren. Die kulturelle Wirklichkeit, die auf der Bühne gezeigt wird, bildet bis zu einem gewissen Grad auch die kulturelle Wirklichkeit des jeweiligen Kultursystems ab.

Darin liegt aber auch etwas Gemeinsames und Übergreifendes. Das Schauspielern ist ja in seinem Kern Imitation. Diese kann gar nicht gelingen, ohne sich in die erzählten Geschichten und dargestellten Figuren hineinzuversetzen, mit ihnen zu denken, zu fühlen, zu agieren. Es ist vielleicht ein naiver, ein romantischer Gedanke: Das Theater als ein Ort des Miteinanders und der Empathie. Empathie als Schlüsselelement, das alle an einer Theaterproduktion Beteiligten verbindet, denn von der Regie über die Übersetzung bis hin zur Darstellung versuchen doch alle à faire le lien zwischen uns nahen und fremden Geschichten. Und nicht zuletzt gehört dazu auch die Empathie des Publikums, das sich auf diese fremden Geschichten einlässt.

Und schließlich ist Theater für mich vor allem Sprache und Sprache kann in Form einer Übersetzung in die andere Sprache Eingang finden. Im Theater aber findet ein nahezu wundersamer Transfer statt. Ein Stück, also eine mit Text und bewegten Bildern erzählte Geschichte, aus einer bestimmten Sprache und Kultur heraus erdacht, findet seinen Weg in eine andere Sprache durch die Übersetzung, aber auch durch andere Stimmen, einen anderen Rhythmus, andere Bilder. Die Themen, die der Text aufgreift, werden vermutlich an eine neue Wirklichkeit anknüpfen, einen vielleicht anderen Zeitgeist. Der Transfer betrifft alle theatralen Konventionen und ist deshalb umso erstrebenswerter und spannender. Vorausgesetzt, er erweitert die Perspektiven statt sie einzuengen.

Ela zum Winkel (Foto: Julie Reggiani)

Ela zum Winkel ist Theater- und Filmschauspielerin, Regisseurin und Übersetzerin. Sie ist Absolventin der Schauspielschule Cours Florent und studierte Übersetzen und Dolmetschen an der Universität Wien. Aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit ist sie in Frankreich, Deutschland und Österreich tätig. 2019 nahm sie an der deutsch-französischen Übersetzungswerkstatt Theater Transfer / Transfert Théâtral teil, 2021 war sie Stipendiatin des Georges-Arthur-Goldschmidt Programms. Sie ist eine der Mitentwicklerinnen von PLATEFORME.

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