Franziska Baur: Hala, du bist im Libanon geboren, hast lange in Paris gelebt und bist dann nach Beirut zurückgekehrt. Wann und wie bist du zum Schreiben gekommen?
Hala Moughanie: Meine Eltern sind 1990 vor dem Krieg geflohen, ich war damals zehn Jahre alt. Bis 2003 habe ich in Frankreich gelebt, bin zur Schule gegangen, habe dort studiert. Kurz nachdem ich eine Promotion begonnen habe, bin ich nach Beirut gegangen, habe alles hingeschmissen und bin schließlich dort geblieben. Es ist klischeehaft, das zu sagen, aber ich glaube, dass das Schreiben ein Teil von uns ist, schon immer. Mein erstes Unverständnis ist der Libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, den ich als Kind erlebt habe. Ich habe den Eindruck, dass dieser Krieg ein unumgängliches Ereignis für alle libanesischen Autorinnen und Autoren darstellt, weil wir weder auf sozialer und politischer, noch auf persönlicher Ebene mit uns selbst Frieden geschlossen haben. Da sind viele Grauzonen, wenn es um Erinnerung und Gedächtnis geht. Da sind Gedanken und Fragen, was aus diesem Ereignis gemacht wird, das ein so enormes Trauma und einen Widerstand darstellt. Der erste Wunsch, zu schreiben, fußt auf dem Bedürfnis, etwas über diesen Krieg zu sagen.
Dein erstes Theaterstück «Tais-toi et creuse» (Dt: «Schweig und grab weiter») hast Du 2006/2007 geschrieben, 2015 hast du dafür den Prix Théâtre RFI erhalten. Das Stück spielt an und in einem Loch, das durch einen Bombeneinschlag verursacht worden ist. Die Figuren graben darin und stoßen auf Objekte, von denen sie nicht mehr wissen, welche Funktion, welchen Sinn sie haben. Im Laufe des Stückes offenbart sich das Loch als Gedächtnislücke, in dem die Figuren von ihrer Geschichte eingeholt werden.
«Tais-toi et creuse» entstand, um etwas über diesen Krieg zu sagen, den ich als Kind erlebt habe. Als ich im März 2006 angefangen habe, diesen Text zu schreiben, brach einen Monat später wieder ein Krieg (zwischen Israel und der Hisbollah) aus. Ich war eine junge Frau, die über den Krieg schrieb, den sie als Kind erlebt hatte, und die zeitgleich, als Erwachsene, einen anderen Krieg miterlebte. Das war eine Kollision der Wahrnehmungen, die sich in mir anhäuften. Ich erinnere ich mich zum Beispiel nicht daran, als Kind jemals Angst gehabt zu haben, als Erwachsene schon. Wie behandelt man das im Text? Oder: Als Kind nahm ich die Absurdität der Dinge wahr, aber ich glaube, ich hatte keine Worte dafür. Als Erwachsene ist man sich bewusst, wie verrückt ein Krieg ist. «Tais-toi et creuse» ist für mich ein sehr vielschichtiger Text, in dem sich die persönliche Ebene auf die Geschichte übertragen hat, vor allem auf die Figur des Sohnes, die dem Kind, das ich war, vielleicht am nächsten kommt. Der Sohn im Stück hat diese Naivität, diese Größe, diese Klarheit. Die anderen Figuren stehen vielleicht mehr für das Umfeld, in dem ich mich bewegt habe, in dem wir alle uns bewegen. Ich habe das Stück 2007 fertig geschrieben. Es gab sehr viele Versionen dieses Textes, weil ich wie besessen an der Syntax, der Zeichensetzung, etc. gearbeitet habe.
Im Libanon, wo ich im Gegensatz zu Frankreich schon immer eine große Nähe zum Theater und zum intellektuellen Milieu hatte, wurde dieses Stück nicht gut aufgenommen, um es sachte zu formulieren. Es wurden mir wirklich schlimme Dinge über diesen Text gesagt. In Frankreich herrschte bei vielen ein großes Unverständnis für den Text, weil er sehr ironisch, poetisch, absurd ist und auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt, wie sich uns die Dinge entziehen. Außerdem hatte ich keine normierte, vorhersehbare Schreibweise. Und ich glaube auch, dass ich zu jung war, um den Text zu verteidigen. Er war größer als ich und dann habe ich ihn beiseite gelegt. Ich dachte mir damals, dass meine Stimme vielleicht nicht dafür gemacht ist, gehört zu werden oder dass ich einfach nicht fürs Schreiben gemacht war — wozu dann auch schreiben. Wenn man ein so großes Verlangen nach Schreiben hat, nahezu besessen davon ist und man dann nicht gehört wird, dann ist das extrem schmerzhaft. Dann schreibt man lieber nur für sich. Ungefähr zehn Jahre später, wie durch ein Wunder, weil es Wunder anscheinend gibt, hat dieser Text dann den Prix RFI erhalten. Das hat sich wie ein Tritt in den Hintern angefühlt und plötzlich wurde mir bewusst, dass es möglich ist, gehört zu werden, dass das, was ich zu sagen habe, für manche Leute vielleicht sogar Sinn macht.
In dem Stück «Tais-toi et creuse», verfolgst du eine Arbeit an der Sprache, als grabe sie selbst in ihrer eigenen Geschichte. Die Figuren verwenden technische, nicht mehr gebräuchliche, manchmal fast archaische Begriffe. Beim Graben verändern sich die Worte, die den Figuren zur Verfügung stehen und damit auch die Syntax, also die Ordnung der Worte, und damit der Dinge. In dieser brutalen Unordnung, die durch den Krieg verursacht worden ist, gibt es Unterschiede in der Art und Weise, wie die Figuren sprechen. Der Vater beispielsweise bringt die Wörter oft durcheinander, täuscht sich in ihrer Bedeutung. Kannst du diese Arbeit an der Sprache und den unterschiedlichen Formen des Sprechens ausführen?
Ich glaube, es wäre illusorisch zu glauben, dass ich eine Antwort auf alle Fragen hätte. Ich treffe beim Schreiben oft Entscheidungen, die ich selbst nicht verstehe, obwohl sie mir im Nachhinein meistens einleuchten. Was die Unterschiede in der Art des Sprechens betrifft, kann ich sagen, dass ich in meinen Texten nach einer Sprache suche, die ein fast getreues Abbild einer konkreten Situation ist, in der eine Reibung, ein Konflikt, ein Missverständnis vorherrscht. Ich sage fast, weil getreu hier ebenfalls illusorisch wäre. In «Tais-toi et creuse», ist die Frau eine Art Beute für die Männer, mit Ausnahme ihres Sohns, der sich ihr aber vollkommen entzieht. Deshalb hat sie eine ausweichende Sprache, die eine Sprache des Verführens und des Überlebens ist. Die Sprache der Frau ist präzise, aber zeugt von einer großen Kargheit. Sie ist konform, denn würde sie abweichen, dann würde man sie gefangen nehmen und fressen. In diesem Stück, zumindest so wie ich die Dinge fünfzehn Jahre später sehe, ist die Frau das schwächste Glied in der Kette. Sie hat keine Zeit, mit den Worten zu spielen, sie kann es sich nicht leisten, die Dinge zu dekonstruieren. Sie ist im Netz gefangen und es gibt für sie zwischen Ehemann, Sohn und Polizisten keinen Raum für eine Unabhängigkeit. Am Ende wird sie verkauft. Im Gegensatz dazu betreiben die Männer eine Art manspreading, aber auf sprachlicher Ebene. Der Vater schwimmt in einem Überfluss an Worten, egal ob richtig oder falsch, egal ob perfekt oder unvollkommen — als Familienoberhaupt hat er den Raum für Unmengen an Worten. Und dann gibt es den Polizisten, der die politische Macht repräsentiert und ebenfalls die Zeit hat, diesen Raum einzunehmen. Es gibt eine Form von Abzockerei in der Art, wie die Männer sprechen. Dort, wo sie sich in einem Raum glauben, indem sie ihre Macht ausüben können, dort wo sie glauben, vollkommen dominant zu sein, zeigt ihre Sprache eine Schwäche auf, weil sie sie nicht vollends beherrschen. Sie täuschen sich in der Bedeutung der Worte. Die Sprache entgleitet, sie entzieht sich ihnen.
«Diese ganze Literatur ist Ansturm gegen die Grenze», schreibt Kafka am 16. Januar 1922 in sein Tagebuch. Du stellst dieses Zitat deinem Stück «La mer est ma nation» voran, das Du 2017 schreibst. In diesem Stück fragt die Tochter an einer Stelle: «Und was, wenn die Grenze ein Wille wäre?» Die Auflösung der Grenzen scheint mir ein Leitmotiv in deinen Texten zu sein und oft sind es die Kinder, die diese in ihrer eigenen Art und Weise — manchmal poetisch, manchmal dekonstruiert-repetitiv, manchmal fast lautmalerisch, — hinterfragen. Welche Rolle spielen die Kinder in deinen Texten?
Ich weiß nicht mehr genau, wer gesagt hat, dass es in jedem Theaterstück eine Stimme gibt, die der der Autorin am nächsten kommt. Die Kinder, oder vielmehr die jungen Männer und Frauen der zweiten Generation nach dem Krieg, sind ein bisschen meine Stimmen. Sie träumen von einer intakten, geheilten Welt, während ihre Eltern ihnen eine mörderische, schmerzhafte Welt hinterlassen haben. Sie sind in diesem unendlichen Leid gefangen und haben den Wunsch, sich selbst zu sein, während das Sich-Selbst-Sein in «Tais-toi et creuse» und «La mer est ma nation» im Gegensatz zu meinem Stück «Memento» eine Unmöglichkeit darstellt. In meinen Texten haben die jungen Menschen etwas Lyrisches in ihrer Sprache, man könnte auch sagen, das Lyrische steht allem Sprachlichen voran. Dieses Lyrische ist etwas, das vor dem Nachdenken über etwas kommt, zunächst einmal spürt man, bevor man sich in politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen verfängt. Dieses Lyrische ist die Stimme des jungen Kindes. Rousseau sagt, das Gefühl kommt vor dem Denken und genau darum geht es: das Kind entdeckt, es träumt, darf träumen, obwohl es sich der Unmöglichkeit zu handeln bewusst ist. In den beiden ersten Stücken, sind sich die Kinder ihrer Situation sehr bewusst, sie tragen und bewahren eine gewaltvolle, hasserfüllte, verbrecherisch blutige Geschichte, die von der vorherigen Generation geschrieben wurde. Welche Haltung nimmt man gegenüber einem solchen Erbe an, gegenüber diesen Minen? Na, man versucht zu träumen! Ich persönlich glaube, dass das Träumen möglich ist, obwohl das nicht immer der Fall ist.
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