Künstlerische Forschung zwischen Übersetzung und spekulativer Fabulation Tree Translator

von Nora Haakh

Erstmal zuhören. Nora Haakh in «Tree Translator» (Foto © Ilker Abay)

«Ich höre schon was. Ich weiß nur nicht genau, was es bedeutet.» So fasste ein etwa fünfjähriger Teilnehmer an meiner partizipativen Performance kürzlich seine Erfahrung zusammen. Wir trafen uns an und mit einer alten Rotbuche, meiner Co-Performerin.

Wie übersetzt man eine Sprache, von der noch nicht klar ist, wie sie funktioniert? Die Literaturwissenschaftlerin Ferial Ghazoul versteht Übersetzung als «naql», Übertragung, einen Prozess von «becoming», in dem sich sowohl das Übertragene als auch die Übertragenden verändern. Was verändert sich beim Tasten nach Übersetzungsmöglichkeiten zwischen Baum und (westlichem) Mensch? Was muss (s)ich verändern, damit das vorstellbar wird?

Meine künstlerische Forschung, die ich seit 2018 in verschiedenen Formaten entwickele, hat das Ziel, Baumsprache zu übersetzen. Also erstmal: Baumsprache zu verstehen. Also erstmal: Nach einer Sprache zu horchen, von der nicht klar ist, wie sie klingt. Nicht einmal, ob sie klingt. Nicht einmal, auf welcher Sinnesebene sie sich zeigt. Wenn überhaupt. Deshalb ist mein erster Schritt in Richtung Baumsprache-Übersetzung: Zuhören. Zuhören mit aller Aufmerksamkeit und mit allen Sinnen. Mit allen Poren in die Möglichkeit von Übertragung hineingehen, Übertragung zwischen Spezies, zwischen  Wahrnehmungsformen, zwischen Zeitempfinden und Ungleichzeitigkeit, zwischen «the world we once lived in» (Wangari Maathai) und einer, in der wir nicht nur leben können sondern auch wollen.

Nora Haakh und ein Teilnehmer an der Performance beim Fest der Puppen in Lingen, 2022. (Foto © Heike Worthmann)

In anderen Zeiten und Kontexten gab und gibt es Schaman*innen oder Heiler*innen, die Wissen und Rituale für Verbindungen zwischen Menschen und Pflanzen oder Tieren weitertragen. Viel von diesem Wissen wurde und wird gewaltsam unterdrückt – im Amazonasgebiet zum Beispiel sind Schaman*innen wie Umweltaktivist*innen Zielscheibe von Mordanschlägen –  oder «lost in translation»-mäßig  angeeignet. Als weiße Deutsche in einem materialistischen Weltbild aufgewachsen, suche ich mit Respekt und Neugier nach Trittsteinen, deren Startpunkt eine beliebige bundesdeutsche Fußgängerzone sein kann.

Hier hat in den letzten Jahren zumindest Anerkennung gefunden, dass es so etwas wie Kommunikation unter Bäumen gibt, etwa  durch die Bestseller von Peter Wohlleben, der das Lebenswerk der kanadischen Forstwissenschaftlerin Suzanne Simard im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht hat. Über die Wurzelnetzwerke, unterstützt von Pilz-Mycelium, werden Nährstoffe und Informationen durch den Waldboden bewegt. Aber auch auf anderen Sinnesebenen scheinen Pflanzen über weitaus mehr Agency und Ausdruck zu verfügen, als mich das in den 90ern mein Biologieschulbuch wissen ließ. Biologinnen wie Monica Gagliano, die von Indigenen Schaman*innen gelernt hat und nun erklärt, ihre wissenschaftlichen Versuchsanordnungen seien Ko-Kreationen, die sie mit den Pflanzen selbst entwickle, arbeiten daran, dies auch wissenschaftlich nachvollziehbar zu machen. Trends wie das aus dem Japanischen mit seinem Shinto-Zugang zu einer divers beseelten Welt übernommene «Waldbaden» erinnern selbst Stadtmenschen daran, dass unsere nicht-menschliche Umwelt uns keineswegs kalt lässt.

«Sensing» nennt die Künstlerin Kelvy Bird den Aspekt ihrer Praxis des Generative Scribing, sich in das noch nicht greifbare Werden eines kollektiven Aufmerksamkeitsfelds hineinzubegeben, um daraus Visualisierungen entstehen zu lassen. Generative Scribing wird insbesondere bei kollektiven Arbeitsprozessen angewandt, um Inhalte in Bilder zu übersetzen, und wurde im Rahmen der Methodik von Theory U erprobt, die Innovationen von Möglichkeitsräumen der Zukunft inspirieren lassen will. Das beinhaltet das Verlernen gewohnter Denkmuster. Und das Sich-Einlassen auf Möglichkeitsräume. Für das Tasten nach einem breiteren Spektrum von Weltzugängen arbeitet Donna Haraway mit der Abkürzung SF, die sowohl für Science Fiction als auch für Spekulatives Fabulieren steht. Was wäre, wenn…?

Kollektives Zuhören bei „Tree Translator“ beim Fest der Puppen in Lingen, 2022. (Foto © Heike Worthmann)

«Everything is translatable.» (Emily Apter)

Seit 2018 höre ich in Form von künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum Bäumen zu. Ich bringe meinen Werkzeugkasten mit Spielzeugen aus bildender und darstellender Kunst und Kulturwissenschaft mit, zeichne Porträts von meinen Co-Performer:innen und Generative Scribings während der Intervalle aufmerksamen Zuhörens. Ich nenne sie Übersetzungen. Und ich lade andere Menschen ein, ins Spiel zu kommen mit verschiedenen Formen zugespitzter Wahrnehmung und dem spekulativen Fabulieren über kreative Möglichkeiten speziesübergreifender Kommunikation.

Mindestens mehrere Tage verbringe ich im öffentlichen Raum mit dem Baum, der zu meinem Co-Performer wird. Bei jeder Interaktion positioniere ich mich als Übersetzerin im Dreieckswinkel, mit dem ich den Baum aktiv mit einbeziehe. Nach und nach verändert sich der Raum. Der Baum wird aktive Präsenz, Gesprächspartner, Gastgeberin, Raumhalterin, Impulsgeber.  Dabei kommt zu Tage, dass wirklich vielen Menschen so ein Leuchten in die Augen kommt, wenn von Baumbeziehungen die Rede ist. Ich höre von verstohlenen Baumumarmungen, wenn es dunkel wird. Da tauchen so manche Baumfreundinnen auf, mit denen Menschen in Beziehung und im Gespräch sind. Lieder und Gespräche, geheime Spiele von Klettern, Kuscheln, Clownerei, die nach der Kindheit in Sprachlosigkeit verpufften, werden teilbar. Wenn ich meine Performance beendet habe, sehe ich immer wieder Grüppchen von Menschen, die den Baum im Vorbeigehen grüßen oder einen kurzen Besuch abstatten.

Von Momo, seiner Superheldin des Zuhörens, erzählte der Schriftsteller Michael Ende, dass ihr ein verstummter Singvogel gebracht wird. Nach einigen Tagen beginnt er wieder zu zwitschern, und Momo erklärt: Man muss ihm auch dann zuhören, wenn er nicht singt. Während meiner Performance rinnen 10-Minuten-Intervalle Fokusverschiebung durch meine Sanduhr. «Tree Translator» lädt dazu ein, Bäumen zuzuhören, Lebewesen, die allzu oft als reines Inventar eines Menschen-zentrierten Wirkungsraums abgetan werden. Für den Singvogel bei Momo ist es ein Gamechanger, Aufmerksamkeit zu bekommen. Dennoch bleibt er im Käfig. Und ich in meiner spezifischen Wahrnehmungs- und Akteur*innenperspektive.

Nora Haakh bei ihrer Performance „Tree Translator“ beim Fest der Puppen in Lingen, 2022. (Foto © Heike Worthmann)

«Nothing is translatable.» (Emily Apter)

Sind, was ich dreist «Übersetzungen» nenne, Ko-Kreationen mit dem Baum? Scheint eher der Imaginationsraum der partizipierenden Menschengruppe auf? Oder handelt es sich doch um reine Projektion, Reflektion meines egozentrischen Erlebens anhand eines subalternen Wesens, dessen Weltzugriff, Zeiterfahrung, Ausdrucksformen viel zu weit von meinem anthroprozentrischen Sinnesspektrum entfernt sind?

Mit dem Verhältnis von Kunst und Übersetzung, mit der enormen Gestaltungsvirtuosität und auch dem Mut zur Anmaßung, die in jeder Übersetzung stecken; mit den zahllosen Übersetzungsvorgängen, die jedes künstlerische Werk mit der Welt, in der es gestaltet wurde, verbinden, habe ich mich schon in meiner Doktorarbeit befasst.[1] Seitdem sehe ich Übersetzung als grundlegende Dynamik von Ko-Kreation mit der Welt. Während dieser Zeit wuchs auch die Lust auf anarchischere Formen der Erkundung sowie der Drang, vom Schreibtisch aufzuspringen, an die frische Luft zu gehen und, wie Rilke schrieb, die Dinge singen zu hören – oder besser gesagt: an den Grenzziehungen zu rütteln, welchen Wesen unserer belebten menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt genug Mitteilungspotenzial zugetraut wird, um ihnen soviel Aufmerksamkeit zu schenken, dass überhaupt entstehen kann, was der Soziologe Hartmut Rosa treffend als Resonanzerfahrung konzeptionalisiert hat.

Beim Navigieren in diesem ambivalenten Möglichkeitsraum hilft mir mein performatives Zuhör-Requisit: Besondere Ohren, die schon gespitzt sind. Elfenohren. Aus Plastik. Als Erinnerung für mich und das Publikum, dass es um nicht-alltägliche Formen des Zuhörens geht. Ein Leckerli für den Kinderblick. Und um sich bloß nicht zu ernst zu nehmen.

Nach vier Jahren spekulativem Übersetzen kann für mich zumindest die ganz eigene lebendige Präsenz jedes Baumes so spürbar sein wie die meiner Mitmenschen, oder auch nicht, je nachdem, ob ich mir Zeit nehme.  Und ebenso wie beimeinen menschlichen Mitlebewesen vermittelt sich mir der Eindruck, dass jeder Baum wirklich viel mitzuteilen hat.
Ich weiß nur nicht genau, was es bedeutet.

«Translation is the language of planets and monsters.» (Emily Apter)

 

[1] Nora Haakh (2019): «Layla und Majnun in der Contact Zone. Übertragungen aus dem Arabischen ins Deutsche im Bereich des zeitgenössischen Theaters», Dissertation, Freie Universität Berlin. Buchpublikation in Vorbereitung für 2023.

Nora Haakh (Foto © Kimi Palme)

Dr. phil. Nora Haakh lebt als Kulturwissenschaftlerin, Theatermacherin, Graphic Recorderin und (Visual) Performerin in Berlin. Sie studierte Islamwissenschaft, Politik und Geschichte in Berlin mit Aufenthalten in Paris, Istanbul und Kairo. Während des Studiums assistierte sie bei Produktionen wie «Dritte Generation» und «Verrücktes Blut», arbeitete als Produktionsleiterin im Nordirak und fuhr Übertitel.  Zwischen 2012 und 2015 betreute sie als Dramaturgin am Ballhaus Naunynstraße zahlreiche Uraufführungen, Stückentwicklungen und internationale Festivals, seitdem frei im Bereich Sprech- und Tanztheater, Film, Performance, u.a. in langjähriger Zusammenarbeit mit Autorin/Regisseurin Nora Abdel-Maksoud, der Tanzkompanie Grupo Oito und dem interdisziplinären Künstler Ilker Abay. Eigene Regiearbeiten beinhalten Texte von Mohammad Al-Attar (Szenische Lesung, 2012) und Wasim Ghrioui (2015). Ihr erstes Buch «Muslimierte Körper auf der Bühne» erschien 2021, ihre Dissertation «Layla und Majnun in der Contact Zone. Übertragungen aus dem Arabischen ins Deutsche im zeitgenössischen Theater» wurde 2021 mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien ausgezeichnet, die Publikation ist in Vorbereitung. Derzeit arbeitet sie mit mehreren Kollektiven sowie an ihren künstlerischen Forschungen «Tree Translator» und «Mindscaping Kompliz_innen».

Mehr Info unter www.nora-haakh.de oder auf Instagramm @Tree.Translator.

 

Versionen von «Tree Translator» wurden unterstützt und präsentiert von Nomadways, 48h Neukölln, AUCH Nachbarschaft ist Kunst Festival Berlin-Gesundbrunnen, Prinzessinnengärten Berlin, Schloss Britz Berlin, Fest der Puppen Lingen. 2021 erhielt die Performancereihe «Gespräche unter Bäumen» Förderung vom Fonds Darstellende Künste im Programm Neustart Kultur #Take Action.

 

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