Laurent Muhleisen über den fruchtbaren Einfluss der Theorie auf die übersetzerische Praxis Übergänge suchen – oder Wie ich Übersetzer wurde (und geblieben bin)

Als ich Mitte der 1960er-Jahre in Straßburg als Sohn eines elsässischen Vaters und einer lothringischen Mutter zur Welt kam, bestanden meine Eltern – entgegen aller Empfehlungen der damaligen « offiziellen » Erziehungsratgeber – darauf, dass meine Mutterspache das Elsässische sein sollte. « Wehe euch, eure Kinder (ich habe einen Bruder, der ein Jahr älter ist als ich), werden später weder vernünftig Französisch noch vernünftig Deutsch können! »,  prophezeihte man ihnen. Zum Glück haben sich die Zeiten inzwischen geändert … « Das werden wir ja sehen », antwortete meine Mutter stets auf solche Unkenrufe. « Das Wichtigste ist, dass sich meine Kinder mit ihren Groß- und Urgroßeltern verständigen können. »

Von meinen vier Großeltern und den vier Urgroßeltern, die ich in meiner Kindheit kennenlernen durfte, sprachen nur zwei Französisch. Mein erstes Sprachbad war also ein Wechsel zwischen Elsässisch und Französisch. Ich kann meinen Eltern gar nicht dankbar genug für das Geschenk sein, das diese Hin- und Herbewegung darstellte. Die Musik und der Rhythmus des Deutschen – auch wenn es sich um einen Dialekt handelte – klangen mir im Kopf, so lange ich denken kann, und vermutlich schon lange davor. Von Anfang an besaß ich mehr als eine Sprache.

Und sobald meine Schullaufbahn begann und das Französische – die Unterrichtssprache – eine zunehmende Vormachtstellung einnahm, wurde für mich vor dem Hintergrund jener besonderen, überaus intimen Ebene des familiären Austauschs alles zu einer Übersetzungsfrage. Es ging darum, zu vermitteln, zu verstehen und mich selbst verständlich zu machen. Wie sollte ich meinen nicht dialektsprechenden Schulkamerad:innen begreiflich machen, was alles in dem Satz « Dü besch m’r a klaner wackes » steckte, den meine Großmutter väterlicherseits aussprach, wenn sie erfuhr, dass ich mal wieder eine Dummheit gemacht hatte? Allgemeiner gesagt, und um die Philosophin und Übersetzerin Barbara Cassin zu paraphrasieren: Wie ließ sich das Elsässische – und später das Deutsche – mit dem Französischen in Beziehung setzen? Wie ließ sich die Kluft vermindern, um sicherzugehen, dass jede:r wirklich verstand, was es zu verstehen gab?

Als ich mich zu Beginn der 1990er-Jahre dafür entschied, deutsche Dramatiker:innen zu übersetzen – die meisten von ihnen aus meiner Generation, da ich das Gefühl hatte, wir nähmen die Welt, in der wir lebten, ungefähr auf dieselbe Art und Weise wahr  – ging es mir darum, genau diesen weißen Raum zu erkunden, dessen Umrisse die Philologie ständig zu definieren versucht, und der davon Zeugnis ablegt, wie eine Sprache eine Kultur bestimmt (oder womöglich umgekehrt), jenen Bereich, den es zu durchqueren gilt, um von einem Sprachraum zu einem anderen zu gelangen. Warum Theater? Vielleicht weil meine Übersetzungserfahrung von Anfang an eine mündliche Dimension hatte. Schon immer war mir es darum gegangen, « gesprochene Sprache » zu übersetzen.

Ich werde hier nicht noch einmal auf die Besonderheiten des Theaterübersetzens eingehen, darauf, was es bedeutet, für die Bühne zu übersetzen. Die Notwendigkeit, den Rhythmus zu berücksichtigen, den Atem eines Satzes, die Art und Weise, wie die Worte « klingen », ihre akkustische und pneumatische Wirkung, da Zuschauer:innen keine Leser:innen sind, und der Hörsinn andere Eindrücke produziert als der Sehsinn. Ich werde nicht erklären, was der Begriff « Poetik der Theaterübersetzung » umfasst und inwieweit Theaterübersetzung als Erfahrung der Lyrik oft nähersteht als dem Roman. Es soll auch nicht darum gehen, warum bei dieser Tätigkeit auch noch zwei andere « Vermittler » (zwischen Autor:in und Publikum) berücksichtigt werden müssen, die das Verlagswesen nicht kennt: der Regisseur (und seine Fantasie) und der Schauspieler (und sein Körper, womit ich keineswegs sagen möchte, dass Schauspieler:innen keine Fantasie haben!). Zahlreiche Kolleg:innen haben sich auf PLATEFORME bereits mit diesen Themen auseinandergesetzt, und ich verweise gerne auf ihre hervorragenden Beiträge.

Viel lieber beschäftige ich mich mit dem bereits erwähnten Begriff der Kluft, der Beziehung, der « Aufnahme des Fremden », der die eigentliche Triebfeder der Übersetzungserfahrung darstellt. Zunächst möchte ich festhalten, dass meiner Meinung nach niemand treffender darüber geschrieben hat als der Philosoph, Literaturkritiker, Linguist und Übersetzer aus dem Deutschen und Spanischen¹ Antoine Berman (1942 – 1991). Wie ich hörte, sind seine Schriften nicht ins Deutsche übersetzt. Auch allgemein sind anscheinend nur wenige zeitgenössische Texte zur Übersetzungstheorie auf Deutsch zugänglich, und noch weniger in Bezug auf die Theaterübersetzung. Das ist bedauerlich. Natürlich könnte man schematisch und kategorisch behaupten, dass es sich mit dem Übersetzen wie mit dem Schreiben verhält  und sich diese Tätigkeit eben nicht erlernen lässt. Andererseits stellt das Übersetzen eine unerschöpfliche Quelle für die Reflexion über die Philosophie der Sprache dar, die Beziehungen zwischen Sprache und Kultur – die sowohl Macht- und Unterdrückungsbeziehungen als auch Beziehungen des Teilens und des gegenseitigen Respekts sein können.

Und genau dies kann eine Übersetzungstheorie vermitteln: Wenn jede einzelne Sprache ein System ist, das die Art und Weise widerspiegelt, wie ihre Sprecher :innen die Welt, in der sie leben, begreifen und benennen, dann ist die Kommunikation sowohl innerhalb ein und derselben Sprache als auch von Sprache zu Spracheimmer eine Angelegenheit von Übersetzung, Transfer und Austausch. Der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne bringt dies auf den Punkt, indem er schreibt, dass zwar einerseits « Übersetzen Verstehen bedeutet », aber eben auch umgekehrt « Verstehen Übersetzen bedeutet ». Im selben Geist zitiert er den kenianischen Autor Ngugi wa Thiong’o: « Übersetzung ist die Sprache der Sprachen, eine Sprache, mittels derer alle Sprachen miteinander sprechen können »². Und, um noch einmal Barbara Cassin zu zitieren : « Nichts ist unübersetzbar, es gibt nur  Wörter und Konzepte, die man ständig (nicht) übersetzt ».³

Ich glaube nicht, dass man ein guter Übersetzer werden kann, wenn man « die » Sprache an sich nicht liebt, das heißt Sprache in all ihrer Vielfalt, wenn man nicht überzeugt ist, dass es « mehr als eine Sprache » erfordert, um die Welt zu verstehen, wenn man nicht bereit ist, sich nach draußen zu begeben, aus seiner eigenen Sprache heraus, um danach zu suchen, wie man jedes Mal, wenn man einen übersetzerischen Akt « begeht », seine eigene Sprache befruchten kann.  Paradoxerweise ist es genau diese Kluft, die uns beim Übersetzen einander näherbringt, und die es uns im schlimmsten Fall ermöglicht, zu begreifen, dass es Dinge gibt, die wir nie begreifen können. Zu verstehen, dass man einander nicht immer verstehen kann, ist meiner Meinung nach ein weitaus größerer Beweis für Zivilisiertheit als das Bedürfnis, anderen um jeden Preis seine Sicht- oder Sprechweise aufzuzwingen.

Im Laufe meiner Karriere als Übersetzer und Künstlerischer Leiter der Maison Antoine Vitez bin ich häufig mit Kolleg:innen aneinandergeraten – meist aus dem angelsächsischen Raum, aber nicht immer –  die überzeugt waren, dass das Übersetzen eines Textes für das Theater bedeutet, ihn auf nach den Standards des Zielpublikums unmittelbar verständliche Konzepte zu reduzieren, und somit die Differenzen auszuradieren, die dem fraglichem Publikum « nichts sagten ». Als sei das Publikum nur in der Lage, zu verstehen, was es ohnehin schon weiß. Als könnte man nicht seiner Fähigkeit vertrauen, eine Differenz einzuschätzen oder sich sogar von ihr angesprochen zu fühlen. Wenn das Theater eine kollektive Erfahrung ist, was gibt es dann Interessanteres, als seine eigene Sicht auf die Dinge mit der eines Anderen zu messen, die (gesprochene) Sprache als ein Mittel zu empfangen, seine Gewissheiten und Gewohnheiten zu verschieben, sie « auf die Reise zu schicken », seine Fragestellungen neu zu definieren und « das Feld zu erweitern » ?

Man sagt, dass das Publikum im Theater immer stärker das Bedürfnis hat, sich wiederzuerkennen (seiner selbst zu versichert zu werden?): Der Akt der Übersetzung wird dann (und manchmal gegen den Willen des Übersetzers, durch eine mehr oder weniger verheerende Umschreibung durch einen Dritten) zu einem Akt der Aneignung, der umso armseliger ist, je mehr er sich verpflichtet, den Gesetzen von Angebot und Nachfrage gerecht zu werden.  Unser prekärer Status als Übersetzer, der «das Fremde willkommen heißt» und «die Sprache befruchtet» (und damit den Logos), findet sich in einem solchen Fall in einem äußerst ungleichen Kampf wieder. Denn wie wir wissen, leben wir in einer Zeit, in der «nur gut ist, was erscheint», in der die Ökonomie des Spektakels selbst – sein spektakuläres Ziel – ihm das letzte Wort verleiht. Es ist die «Produktion», die entscheidet, was gut ist.

Das ist natürlich ein bisschen schwarz gemalt. Nicht alle Regisseure, die als einzige wirklich die Kontrolle über die Umsetzung eines Textes auf der Bühne haben, sind einzig und allein darauf bedacht, «ihrem» Publikum zu gefallen. So wie der Übersetzer ist auch der Regisseur ein Vermittler, und wenn er versteht, übersetzt er auch. Durch Bilder, Bewegungen im Raum, Schauspielführung, Bühnenbild. Er erfindet ein Universum, das seine Lesart, seine Sicht des Textes ist. Genauso wie auch der Übersetzer « seine Lesart des Textes » hat, die auf dem Verständnis dessen beruht, was ein Autor seiner eigenen Sprache « antut ».

In Frankreich kämpft die Maison Antoine Vitez seit dreißig Jahren dafür, den Dialog zwischen diesen beiden Verständnisarten zu fördern. Bei uns ist die Funktion des Dramaturgen/der Dramaturgin nicht institutionell verankert, also gibt es meist keine vermittelnde Instanz zwischen Regie und Übersetzung. Ein guter Übersetzer sollte daher auch immer zunächst ein:e Dramaturg:in für seinen übersetzten Text sein. Denn dies ist die Voraussetzung für einen Dialog. Eine eingehende Untersuchung der Worte, der Konzepte und kulturellen Kontexte, und der bereits erwähnten « Kluft » zwischen den Sprachen und dem, was sie bedeutet, ist genau das, was es ermöglicht, « angemessene » Bilder und Sequenzen zu erarbeiten. In diesem Austausch und dieser Vermittlung liegt für mich die Essenz des kollektiven Abenteuers Theater.

Aus dem Französischen von Frank Weigand.

¹ Antoine Berman, L’épreuve de l’étranger – culture et traduction dans l’Allemagne romantique, Gallimard, Essais, 1984 La traduction et la lettre ou l’auberge du lointain, Seuil, 1999. L’âge de la traduction. « La tâche du traducteur » de Walter Benjamin, un commentaire. Presses universitaires de Vincennes, 2008.
² Souleymane Bachir Diagne, De langue à langue, l’hospitalité de la traduction, Paris, Albin Michel, 2022.
³ Barbara Cassin (dir) : Vocabulaire européen des philosophies – Dictionnaire des intraduisibles, Paris Seuil, 2004

Laurent Muhleisen (Foto: privat)

Laurent Muhleisen wurde in Straßburg geboren. Seit 1992 übersetzt er Theatertexte aus dem Deutschen und hat sich dabei auf zeitgenössische Dramatik spezialisiert. Mittlerweile hat er mehr als sechzig Stücke übersetzt. Er ist künstlerischer Leiter der Maison Antoine Vitez, des internationalen Zentrums für Theaterübersetzung in Paris, sowie literarischer Berater der Comédie-Française und leitet regelmäßig Übersetzungs- und Dramaturgie-Workshops. Er ist Mitglied des Deutsch-Französischen Kulturrats.

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