Lehmann lesen. Eine Reflexion über Postdramatisches Theater und Theaterübersetzen Für eine Kunst des Nichtverstehens

Von Miriam Denger

Hans-Thies Lehmann ist tot. Er war einer der bedeutendsten Theaterwissenschaftler seiner Zeit, ein Theoretiker, dem es gelungen war, mit einem theaterwissenschaftlichen Buch, seinem Essay Postdramatisches Theater¹, einen internationalen Bestseller zu landen, der seit seinem Erscheinen im Jahr 1999 bereits in 25 Sprachen übersetzt worden ist. Mit dem Begriff des Postdramatischen Theaters schenkte er Theaterschaffenden² einen Namen für ihre Suche nach Theater jenseits von Drama und Mimesis – und eine Theorie, die ihre Theaterpraxis untermauerte.
Nachdem mich die traurige Nachricht seines Todes im Juli 2022 erreichte, war mein erster Reflex, sämtliche seiner Bücher (soweit ich sie besitze) aus dem Regal zu ziehen, vor mir auszubreiten und querzulesen, (natürlich mit dem Vorsatz einer erneuten, vertiefenden Lektüre in den kommenden Monaten und Jahren). Neben dem bereits erwähnten Postdramatischen Theater ist dabei vor allem das 2015 erschienene Werk Tragödie und dramatisches Theater³ hervorzuheben, mit dem Lehmann wiederum an sein Theater und Mythos aus den 1990er-Jahren anknüpft, das, vom französischen Poststrukturalismus geprägt, einen ziemlich radikalen Blick auf die antike Tragödie eröffnet.
Doch was hat Lehmann, was hat das «Postdramatische Theater» mit der Tätigkeit des Theaterübersetzens zu tun, um die es ja in diesem Beitrag gehen soll?

«Das» Theater gibt es nicht

Wie der Begriff des «Postdramatischen» vermuten lässt, ist für diese Debatte um Theaterformen die Art des Verhältnisses von Text zu den anderen Theatermitteln zentral. Veränderungen der theatralen Konstellationen, zumal grundlegende, bedeuten auch eine veränderte Rolle der Autor:innen, wirken sich mithin auch auf die Rolle der Übersetzung aus. Werde ich danach gefragt, was das Übersetzen von Theater etwa vom Übersetzen eines Romans unterscheidet, ist es mir zunächst immer ein Bedürfnis, zu klären, dass es «das» Theater gar nicht gibt, Drama und Theater keine deckungsgleichen Begriffe sind, kurz, über den immer noch weitverbreiteten, hartnäckigen Irrtum (auch und gerade unter Theaterleuten und Übersetzer:innen) aufzuklären, alles Theater sei im Grunde dramatisch. Das mag Prinzipienreiterei sein, und natürlich ist auch Roman nicht gleich Roman, aber gerade aus diesem Punkt lässt sich m.E. viel Konstruktives für das Übersetzen von Theater ableiten.
Postdramatisches Theater nennt Lehmann Theater, das nicht mehr dem Paradigma des Dramas unterworfen ist, Theaterformen, in denen Texte gleichberechtigt neben den anderen Mitteln des Theaters stehen, in denen der Text in erster Linie Material ist. Ein Theater, das sich und seine Arbeitsweise hinterfragt und seine Mittel reflektiert, ein «Theater im Bewusstsein davon, eine Kunst sui generis zu sein». Ein Theater, das mit Sehgewohnheiten bricht und natürlich auch eine andere Rezeptionshaltung erfordert. «Drama» hingegen ist für Lehmann nur eine Form, eine Spielart des Theaters unter vielen, eine bestimmte Art, Texte für das Theater zu schreiben, aufzuführen und anzuschauen. Ihm geht es darum, ins Bewusstsein zu rufen, dass es andere Theaterkulturen gibt, und die Idee eines literarisch-dramatischen Theaters, oft noch enger gefasst und gleichgesetzt mit dem bürgerlichen Theaterverständnis des 18. und 19. Jahrhundert, das sowohl aus historischer wie auch aus interkultureller Perspektive von eher relativer, innerhalb Europas auf nur wenige Jahrhunderte beschränkter Geltung und Bedeutung (gewesen) ist.
Postdramatisches Theater ist aber kein Theater ohne oder gegen Text, im postdramatischen Theater hat der Text lediglich seinen Status als Norm, seine übergeordnete Rolle als Ordnungsinstanz eingebüßt. «Alles hängt für das Theater von der Art seiner Theatralität ab, nichts oder doch sehr wenig von den Strukturen des benutzten Textes», wie Lehmann es ausdrückt. Auch dramatische Texte wie etwa von Euripides oder Shakespeare lassen sich postdramatisch inszenieren, und postdramatische Texte, beispielsweise von Heiner Müller oder Sarah Kane, können die Grundlage einer dramatischen Inszenierung sein.

Dramatische oder post-dramatische Texte?

Begreift man Text nicht mehr als Primat, sondern als gleichberechtigt mit der Theatersituation, kann er nicht länger als etwas in sich Abgeschlossenes betrachtet werden. Was bedeutet das für die Übersetzung? Dass der Text durchlässiger, poröser bleiben muss, weil er so viele andere Elemente aufnimmt?
Dramatische Theatertexte werden gerne mit musikalischen Partituren verglichen, bei deren praktischer Umsetzung zwar interpretatorischer Spielraum etwa in der Instrumentalisierung, der Geschwindigkeit oder der Akzentuierung besteht, die Aufführung aber trotz allem in hohem Maß vorhersehbar und wiederholbar ist, wo Regieanweisungen Sprechpausen vorgeben und bestimmte szenische Handlungsabläufe dem Text inhärent angelegt sind. Mit der Inszenierung und den Aufführungen haben Theaterübersetzer:innen dann meist wenig zu tun, ihr Arbeitsprozess geht voraus.
Daraus ergibt sich der Anspruch an Text und Übersetzung, «nachspielbar» zu sein, also neutral genug, um offen für verschiedene Regiekonzepte und -handschriften zu sein. Dabei wird aber meist wie selbstverständlich von einem dramatischen Rahmen ausgegangen, innerhalb dessen sich diese verschiedenen inszenatorischen Ansätze bewegen werden.
Oft wird davon ausgegangen, die übliche Textform des Theaters sei der Dialog. Wenn es aber nun keine psychologisch angelegten Figuren – oder gar keine Figuren – mehr gibt, was bedeutet das? Möglicherweise wurde sogar völlig theaterfernes Textmaterial für ein szenisches Projekt ausgewählt, der die die Theatermachenden gerade aufgrund seiner Sperrigkeit und Widerspenstigkeit interessiert und Kriterien wie Mündlichkeit, Sprechbarkeit, Rhythmus oder Klang, denen Theaterübersetzende oft hohe Priorität in ihrer Arbeit einräumen, vollkommen obsolet macht. Wer viel ins Theater geht, entwickelt eine recht gute Vorstellung davon, wie Schauspieler:innen sprechen, was ihnen sprachlich zuzutrauen ist. Was aber, wenn plötzlich «Experten des Alltags» auf der Bühne zu sehen und hören sind, die keinerlei Sprechausbildung haben, oder, wenn es Teil des Konzepts ist, eine bestimmte Sprechweise her- oder auszustellen? Wenn die Inszenierung Stimmen und Sprechende trennt oder nur mit Einspielungen gearbeitet wird? Was, wenn man es als Übersetzer:in plötzlich nicht mit einem Autor oder einer Autor zu tun hat, sondern mit einem Kollektiv, das eine Stückentwicklung plant? Wenn Dramatiker:innen plötzlich gar keine Rolle mehr spielen, weil nur nicht-literarische Fremdtexte verwendet werden? Woran orientieren, als Übersetzende? Beim Übersetzen postdramatischer Texte (oder von Texten für postdramatisches Theater) kann ein:e Übersetzer:in meist auf sehr viel weniger Informationen zugreifen als bei einem nach allen Regeln der dramatischen Kunst verfassten well-made play und muss mit viel mehr Unbekannten in der Gleichung operieren.
Es lassen sich also kaum allgemeingültige Regeln aufstellen, sondern diese müssen für jeden Text, jede Inszenierung immer wieder neu ausgelotet werden – «Es gibt keine Methode des Übersetzens und keine Theorie – jeder Text verlangt nach einer eigenen Theorie und Methode seiner Übersetzbarkeit», wie der Übersetzer Klaus Reichert es in seinem Buch Die unendliche Aufgabe ⁴ formuliert.

Produktives Nichtverstehen

Theater ist vor allem eins, ein ständiges Durcheinander von Kommunikations- und Vermittlungsprozessen, mithin Übersetzungsprozessen. Im Theateralltag müssen sich sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, Fähigkeiten, An- und Absichten, künstlerischen Überzeugungen und Zielen darauf einigen, wie ihre gemeinsame künstlerische Arbeit am Ende aussehen soll. Theater ist das ständige Schärfen des Bewusstsein für die Konstruiertheit und Fremdheit des jeweils Eigenen. Das gegenseitige Nichtverstehen ist die Regel, Verstehen die Ausnahme.
Die Welt als Missverständnis – damit kennen Übersetzer:innen sich aus, ebenso mit der Notwendigkeit, permanent künstlerische Entscheidungen treffen zu müssen – «Übersetzen oder Inszenieren ist die gleiche Arbeit, ist die Kunst, innerhalb der Zeichenhierarchie zu wählen», wie Antoine Vitez⁵ es ausdrückt. Demnach ist jede Inszenierung eine Interpretation, ein Nicht-Interpretieren (und damit auch die vielbeschworene dramatische Texttreue) unmöglich. In diesem Sinne schreibt auch Hans-Thies Lehmann über das Übersetzen: «Heute dürften wir jenseits der Tradition stehen, die Tragödie noch als Drama zu übersetzen hoffen konnte. In dieser Gestalt wurde sie literarisches Museumsstück. Die antike Tragödie übersetzt sich nicht mehr, sofern nicht ihre Substanz sich mit einer zeitgenössischen Theaterform verbindet, die gegenwärtigen Erfahrungsweisen entspricht.» Auch für die ganz praktische Arbeit von Theaterübersetzenden finden sich, insbesondere in Tragödie und Dramatisches Theater viele wertvolle Denkanstöße, etwa wenn Lehmann zur Funktion der Öffentlichkeit über die historischen Dimensionen von lautem und leisem Lesen reflektiert. Doch auch dem Dialog im dramatischen Theater und der chorischen Sprache widmet er mehrere Abschnitte, in Theater und Mythos⁶ setzt sich ein ganzes Kapitel mit Rhetorik, Theater und Mythos auseinander.
Das ist vielleicht am ehesten das, was ich Menschen empfehlen möchte, die ins Theaterübersetzen einsteigen oder es vertiefen wollen: Geht ins Theater, so oft es geht, lest theaterwissenschaftliche Bücher, fangt mit den Büchern Lehmanns an!
Das Lieblingsfundstück des Lehmann-Querlese-Marathons in meinem Wohnzimmer anlässlich seines Todes ist zugleich das älteste meiner «Sammlung»: eine Kolumne mit dem Titel «Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens»⁷ in der Lehmann auf das gefährliche Missverständnis von Kulturpolitik hinweist, Kunstförderung an sogenannte «Akzeptanz» (vermutlich in der Bevölkerung) zu binden. Die Bedeutung des Nichtverstehens und der Ambiguität dekliniert Lehmann dagegen in seiner Kolumne durch, und kommt zu dem Schluss, dass die Relativität des Verstehens und die Priorität der Erfahrung vor dem Verstehen, offenkundig seien, wenn man das Theater als Paradigma ästhetischer Erfahrung begreife. Zuschaukunst ist nicht die Kunst des bestmöglichen Verstehens.
Gerade dieser kurze Text Lehmanns bietet eine gute Grundlage, um über die Prozesse und die Aufgabe des Theaterübersetzens nachzudenken: Wir machen Texte für andere verständlich, aber was heißt das? Können wir abschätzen, wieviel im Original davon für muttersprachliches Publikum verständlich ist, und warum dieser Wert eigentlich ein Richtwert dafür sein soll, wie verständlich unsere Übersetzung sein soll? Wie können wir Ambiguitäten in unsere Übersetzung «hinüberretten», mithin neu herstellen? Wieviel Zweideutigkeit hält der Text, halten wir, hält die Sprache, hält unser Publikum aus? Wann sind wir versucht, zu viel erklären zu wollen, wollen den Text vereindeutigen, ziehen uns zu schnell den Schuh an, dass das schließlich unsere Aufgabe sei? Wie gehen wir damit um, wenn Verlage und Dramaturg:innen uns freundlich mitteilen, der von uns vorgeschlagene Text sei leider zu «unverständlich» für das deutschsprachige Theaterpublikum? Über «Verständlichkeit» als Anspruch an die Kunst nachzudenken, erscheint mir dringend geboten, insbesondere in einem Zeitalter zunehmender Vereindeutigungszwänge und Ambiguitätsintoleranzen. Es lohnt sich darüber nachzudenken, welchen Wert eine «Kunst des Nichtverstehens» für uns alle hat.
Gerald Siegmund, derzeit Professor am (von Hans-Thies Lehmann mitbegründeten) Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen über postdramatische Arbeitsprozesse: «Es bedeutet aber vor allem auch, nicht abschließend zu wissen, was Theater eigentlich ist, wie es richtig gemacht wird und was es eigentlich soll. Sich aus den offenen Fragen und aus dem eigenen theoretisch informierten Nichtwissen dem Gegenstand Theater anzunähern, bedeutet daher, Formen für die eigenen Fragen an das Theater und sein Verhältnis zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir leben, allererst zu finden.»⁸

Die Lehmann-Lektüre geht weiter. Ihn würde es sicher freuen.

¹ Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 1999
² Bekannte Künstler:innenkollektive und Akteur:innen der postdramatisch geprägten Theaterpraxis sind René Pollesch, Helena Waldmann, Rimini Protokoll, The Wooster Group, Gob Squad, She She Pop, Showcase Beat Le Mot, Andcompany & Co u.v.m.
³ Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und Dramatisches Theater. Alexanderverlag, Berlin 2015
⁴ Reichert, Klaus: Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen. Carl Hanser Verlag
⁵ Vitez, Antoine, zitiert nach P. Pavis, Semiotik der Theaterrezeption, Tübingen 1987, S. 118.
⁶ Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der griechischen Tragödie. J.B. Metzler, Stuttgart 1991.
⁷ Lehmann, Hans-Thies. Ästhetik. Eine Kolumne. Über die Wünschbarkeit einer Kunst des Nichtverstehens. Merkur Mai 1994, 48. Jahrgang, Heft 542, S. 426-431.
⁸ Siegmund, Gerald: Ereignisse im Kopf der Zuschauer, in: Matzke, Annemarie (Hg.): Das Buch von der Angewandten Theaterwissenschaft, Alexanderverlag Berlin/Köln, 2012, S.73f.

Die Theaterübersetzerin Miriam Denger (Foto: Ilja Mess)

Miriam Denger ist freie Übersetzerin (aus dem Spanischen) und Dramaturgin. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft und Romanistik in Gießen und Pamplona. Nach einer theaterpädagogischen Zusatzausbildung in Berlin arbeitete sie einige Jahre als Dramaturgin und Theaterpädagogin fest an verschiedenen Häusern, u. a. in Meiningen und Konstanz. Auch als Übersetzerin begleitet sie Proben und Stückentwicklungen vor Ort und übertitelt Gastspiele für internationale Festivals. Das kubanische Theater und das Werk des Dramatikers Rogelio Orizondo ist dabei einer der Schwerpunkte ihrer übersetzerischen Arbeit. Sie lebt bei Landau in der Pfalz.

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