Magz Barrawasser, Sonja Finck, Olivier Sylvestre und Justus Rothländer über «Sexualkunde für das neue Jahrtausend» Begehren ohne Machtspiele

Moritz Winklmayr (Oli) und Josephine Schumann (So) in «Sexualkunde für das nächste Jahrtausend» (Ausstattung: Rabea Stadthaus) (c) Tom Schulze

In Olivier Sylvestres Jugendstück «Sexualkunde für das neue Jahrtausend» entdecken die drei Teenager So, Ben und Oli das eigene Begehren und lernen, damit und miteinander verantwortungsvoll umzugehen. Magz Barrawasser inszeniert die deutschsprachige Uraufführung des Textes am Leipziger Theater der Jungen Welt. Im Interview mit Frank Weigand sprechen die Regisseurin, der Québecer Autor, die Übersetzerin Sonja Finck und der Dramaturg Justus Rothländer über lokales Adaptieren, Humor, Sexualität jenseits von Pornografie und über einvernehmliche Strukturen der Zusammenarbeit.

 

Frank Weigand: Olivier, «Sexualkunde für das neue Jahrtausend» ist ein Stück, das ganz unterschiedliche Ebenen hat. Einerseits ist es ein Zeitdokument, eine Art Kapsel des Jahres 1999, mit allem, was an schrecklichen Dingen oder schönen Dingen und Ängsten in dieser Zeit passiert ist. Also die Angst vor dem großen Millennium Bug, der Kosovo-Krieg, der Wahlkampf von George Bush und Popkultur und die Backstreet Boys … Gleichzeitig habe ich gesehen, du bist 1982 geboren, Olivier. Du warst also 1999 im gleichen Alter wie deine beiden männlichen Figuren. Also gibt es auch eine autografische Ebene. Und drittens ist es ja auch Theater, ein Theaterstück für Jugendliche. Und in diesem Stück geht es um Sexualität, um Begehren, um persönliche Ungewissheit auch vielleicht auch um die Frage, wie man im Theater über all das sprechen kann. Woher kam diese Idee, ein Stück zu schreiben, das all diese Ebenen miteinander verbindet?

 

Olivier Sylvestre: Die ursprüngliche Idee war vielleicht eine Reaktion auf die Zensur, die ich mit meinem Stück «Das Gesetz der Schwerkraft» erlebt habe. Als dieses Stück in Montreal produziert wurde, gab es immer ein Fragezeichen, nach dem Motto «Was können wir zeigen, und was nicht?», also welche Themen erlaubt sind und welche nicht. In einer ersten Version küssen sich zwei Figuren auf der Bühne – und irgendwann hat der Produzent mich gebeten, den Kuss nicht mehr darzustellen, da er Angst vor heftigen Reaktionen hatte. Er fand es auch problematisch, dass die beiden einen Joint zusammen rauchen. Und da habe ich mich gefragt: OK, was ist denn wirklich das Problem? Welche Themen können wir mit Jugendlichen ansprechen und thematisieren und zeigen – und welche nicht?  Also bin ich auf die Idee gekommen, ein Stück zu schreiben, wo Sexualität bereits im Titel auftaucht und damit unmöglich zu zensieren ist.  Und ja, es wird eine Masturbationsszene geben und und und … Sodass es unmöglich ist, diese Themen zu vermeiden. Es ging mir vor allem darum, über Sexualität zu schreiben, auch über schwule Sexualität und Bisexualität. Die Frage ist hauptsächlich: Wie identifizieren wir unser Gefühl, das, was wir gerade spüren, als 17jährige: Ist das Freundschaft, ist das Liebe oder ist das Begehren? Ich wollte eine Geschichte schreiben, in der wir diese drei Gefühle untersuchen. Für die Jugendlichen von heute, die das Jahr 1999 natürlich nicht erlebt haben, ist der Text auch eine Art Zeitreise. Ich bin heute keine 15 oder 16 oder 17 mehr. Also weiß ich nicht, wie das wirklich ist, heutzutage jung zu sein. Aber ich glaube, Begehren ist immer dasselbe und es funktioniert ein bisschen ähnlich, obwohl sich die Technologie, die wir zur Verfügung haben und die anderen Umstände verändern. Es ist also auch ein historisches Stück. Aber es geht vor allem um drei Menschen, die etwas erleben, die Erfahrungen sammeln. Und die große Geschichte – 1999 – und die intime Geschichte über Gefühle und über die Frage «Was ist meine Identität?», die hängen zusammen.

 

Josephine Schumann (So), Moritz Winkelmayr (Oli) und Philipp Zemmrich (Ben) in «Sexualkunde für das neue Jahrtausend» (Ausstattung: Rabea Stadthaus) (c) Tom Schulze

Frank Weigand: Nach den drei Ebenen, die ich angesprochen habe, gibt es ja auch noch einen vierten Kontext, nämlich Québec, wo du lebst und wo das Stück seine Premiere hatte. Und wenn man das exportieren will, stellt sich sofort die Frage, wie universell ist das Ganze oder wieviel muss da adaptiert werden?

 

Sonja Finck: Schon als ich mit der Übersetzung anfing, war ich im Gespräch mit Olivier. Das war von Anfang an ein kollektiver Prozess. Es ist wichtig, das zu sagen, weil oft keine Kommunikation stattfindet, sondern ein Text auf meinem Schreibtisch landet, ich ihn übersetze und irgendwann abliefere, und das war’s dann. Aber Olivier hat mir von Anfang an gesagt, wie wichtig es ihm ist, dass der Inhalt des Stücks nicht fremd wirkt, um den jugendlichen Zuschauer*innen die Identifikation zu erleichtern. Und das steht auch jetzt tatsächlich in der deutschen Fassung drin, ganz am Anfang, da, wo die Personen und die empfohlene Altersgruppe und die Förderer usw. genannt werden: «Deshalb dürfen etwaige spezifische Anpassungen nach eigenem Ermessen bei der Inszenierung vorgenommen werden.» Das hatte Olivier mir sozusagen mitgegeben, und damit war klar: Beim Übersetzen behalte ich den Québecer Kontext bei und versuche ihn zugänglich zu machen, an den Stellen, die vielleicht sonst für ein deutschsprachiges Publikum nicht verständlich sind. Zum Beispiel darf man ja in Deutschland schon ab 16 Alkohol trinken und in Québec erst ab 18 und man muss an der Tür den Ausweis zeigen. Deshalb gibt es in Québec alkoholfreie Bars für Jugendliche zwischen 16 und 18. Interessant war auch die Geschichte mit den Pagern, die die Figuren zur Kommunikation benutzen, die waren 1999 in Québec unter Jugendlichen weit verbreitet. In Deutschland hatten Jugendliche nie Pager, sondern nur Ärzte und oder ähnliche Berufsgruppen. Wir haben quasi den Sprung vom Festnetztelefon zum Handy ohne den Pager gemacht. Und die Technik aus dem Jahr 1999 spielt ja in dem Stück eine wichtige Rolle. Bei diesen Dingen war es mir wichtig, dass das auf Deutsch verständlich ist, aber ich habe sie trotzdem erstmal im Text stehen gelassen und sie dann in einer Fußnote erklärt. Damit wollte ich eine Hilfestellung für die Adaptation bei einer deutschen Inszenierung geben.

 

Magz Barrawasser: Darf ich kurz einhaken? Justus und ich haben gerade beide zeitgleich gelacht, nämlich exakt über dieses «Wer darf wann Alkohol kaufen und trinken?» haben wir heute auf der Probe diskutiert.

 

Justus Rothländer: Ja, es ist wichtig, das auf dem Schirm zu haben. Wann darf man Bier kaufen, wann harten Alkohol?  Den Führerschein macht man dann und dann – das waren so Punkte, wo wir ganz technisch gemerkt haben, der Text kommt aus einem anderen Umfeld.

 

Sonja Finck: Was habt ihr denn letztendlich mit dem Pager gemacht?

 

Justus Rothländer: Die Entscheidung ist noch gar nicht so alt. Wir haben das letztendlich durch das Handy ersetzt. Da gibt es verschiedene Gründe, also erstmal Plausibilität: In der Recherche haben wir festgestellt, Nokia hat genau in der Zeit in Deutschland das erste kleine günstige Telefon auf den Markt gebracht, das hatten auch schon viele Jugendliche. Ich habe im Theater bei Kolleg*innen Recherche betrieben: Wie war das damals in Leipzig? Was gab es denn da? Und da habe ich dieses Telefon in die Hand gedrückt bekommen, das Original von 1999.
Generell haben wir gemerkt, bei bestimmten Stellen fliegt man inhaltlich schnell aus der Kurve, und es war wichtig, da scharf zu stellen und zu zeigen, an dieser Stelle geht es vor allem um eine bestimmte Situation zwischen zwei Figuren – und nicht eigentlich um den Pager oder irgendeine Technologie. Aber um sonst eine Plausibilität herzustellen, mussten wir lokalspezifische Entsprechungen finden. Das mit dem Club, das ist zum Beispiel lokalspezifisch. Hier in Deutschland kann man ab 16 in Bars gehen und Bier trinken, da gibt es kaum strenge Einlasskontrollen. Und gleichzeitig gab es zum Beispiel hier in Leipzig sogenannte Jugendclubs. Das war so ein bisschen die uncoole Variante von einer Bar oder einem Club. Da konnte man feiern, es gab Alkohol, aber keinen harten. Wir haben also das genommen, als einen Ort, der nahe rankommt an diese Bar für Jugendliche in Québec. Vieles davon gibt es auch nur in Leipzig. In Hamburg wäre das wahrscheinlich eine ganz andere Kiste geworden.

Philipp Zemmrich als Ben in «Sexualkunde für das neue Jahrtausend» (Ausstattung: Rabea Stadthaus) (c) Tom Schulze

Sonja Finck. Ich übersetze ja hauptsächlich Prosa und habe erst um die 10 oder 12 Theaterstücke übersetzt. Aber ihr seid die Ersten, die bei der Entwicklung ihrer Inszenierung auf mich zugekommen sind. Und ich fand das wirklich ganz, ganz großartig. Ich weiß nicht, wie ihr auf die Idee gekommen seid, aber wirklich: Chapeau! Ich fand das sehr befriedigend, dass meine Arbeit in dem Sinne gewertschätzt wird, dass sie nicht einfach nur als Rohmaterial genommen wird, und dann wird halt irgendwas damit gemacht. Sondern dass der Text und die Übersetzung ernst genommen werden, dass ihr mit mir und mit Olivier Rücksprache gehalten habt. Gesprochen haben wir ja tatsächlich hauptsächlich über dieses «Wir holen es nach Leipzig»-Thema – aber eben auch über die Szenen mit intimerem Inhalt. An zwei Stellen haben wir gesagt: OK, das würde man heute nach all den Diskussion um Einvernehmlichkeit nicht mehr so schreiben, und so wie ich es übersetzt habe, hat es auch etwas Schräges. Zum einen war das die Szene, wo Ben eine Sex-Fantasie hinter der Kneipe hat, wo er sich ein Mädchen vorstellt, die vor ihm auf die Knie geht. Wir haben lange darüber diskutiert, wie wir das ausdrücken können ohne diese Unterwürfigkeitsgeste. Wir haben zunächst mit Oliver Rücksprache gehalten, ob es für ihn OK wäre, da zu ändern. Und dann haben wir ein bisschen Ideen-Ping Pong gespielt, bis wir am Ende alle happy waren mit der Stelle.

 

Magz Barrawasser: Die Entscheidung, die wir alle zusammen getroffen haben, war dann, dass sie anstatt vor ihm auf die Knie zu gehen, ihm die Hose aufknöpft, was sozusagen ein aktiver Part ist. Aber auch ein klareres Signal für das Einverständnis einer Person zeigt. Das war so eine kleine Veränderung, die uns wichtig war. Was uns durchgehend begleitet hat, ist auch total die Qualität dieses Textes, dass er es schafft, mit sehr viel Humor ein reales Bild von Sexualität zu entwerfen. Das war es, was uns zum Beispiel beim ersten Lesen total beeindruckt hat. Es gibt sehr explizite Stellen, sie schlafen miteinander und es ist ein Stück, wo sich die Figuren auf Augenhöhe begegnen. Es geht um eine Sexualität, die auch über den Konsens funktioniert, und das wollten wir unbedingt auch so zeigen. Um zu sagen: OK, das ist, was Sexualität fernab von Pornografie noch sein kann, wie wir darüber sprechen können, dass wir sagen können, ich fand das und das jetzt nicht so cool.

Moritz Winklmayr (Oli) und Josephine Schumann (So) in «Sexualkunde für das nächste Jahrtausend» (Ausstattung: Rabea Stadthaus) (c) Tom Schulze

Frank Weigand: In Deutschland haben wir ja eine ganz andere Theatertradition als im französischsprachigen oder englischsprachigen Raum. Viele Autor*innen sind schockiert darüber, was mit ihren Texten in Deutschland alles gemacht werden darf. Rechtlich dürfen wirklich bis zu 20% eines Textes verändert werden und es dürfen Fremdtexte eingebaut werden und so weiter, ohne dass der*die Autor*in Einspruch erheben darf und sagen kann das ist nicht mehr mein Text. Als Produktionsteam seid ihr also gar nicht verpflichtet, so «werktreu» zu arbeiten. Großartig, dass ihr es dennoch tut.

 

Magz Barrawasser: Wenn wir ein Stück machen, wo es um um Grenzen und Aushandlung geht, dann finde ich es richtig, hinter den Kulissen nicht einfach irgendein Machtspiel durchzuziehen. Es ist wichtig, auch die Verantwortung, die wir für eine DSE haben, ernst zu nehmen. Ich finde das total großartig, nicht alleine mit Entscheidungen dazustehen, wie nach der alten Idee vom Regie-Theater, wo die Person, die Regie führt, dann so voll ihr Ding durchzieht. So verstehe ich Theater eh nicht. Ich finde es total schön, auch zu wissen, es ist ok, wenn ich mal keine Ahnung von etwas habe. Ich hab vom Schreiben keine Ahnung. Und wenn ich einen Text inszeniere, dann ist es doch total toll, wenn ich die Personen, die das können, fragen kann. Das ist für mich super wertvoll, um dann in meinem Handwerk gut arbeiten zu können oder eben auch dem Ensemble Sachen besser oder anders erklären zu können. Für mich ist die Arbeit an Texten immer eine Art Spurensuche. Und es ist für mich ein totaler Luxus, diese Spurensuche so offen und offensiv machen zu können. Für mich war zum Beispiel das Gespräch, das Oliver, Justus und ich im Frühjahr hatten, super hilfreich, um die Figuren zu verstehen. Ich weiß noch genau, dass Ben für mich zuerst eine Figur mit toxischen Tendenzen war, aber Olivier hat gesagt, ne, Ben ist männlich, aber nicht toxisch. Das hat uns bei der Entwicklung der Figur sehr geholfen.

 

Olivier Sylvestre: Ben spielt eine ganz bestimmte Männlichkeit. Als Jugendliche im Jahr 1999 war das die Realität, die wir erlebt haben, wir waren umgeben von toxischer Männlichkeit. Diese toxische Maskulinität war überall, auch in der Art, zu sprechen. Aber gleichzeitig gab es auch Nuancen und wir gingen auch humorvoll mit Sexualität um. Darüber haben wir gesprochen. Es gab diese toxische Seite und auch noch ganz andere. Und als ich die Figuren entworfen habe, habe ich versucht, diese Zwischentöne zu bewahren, dass nicht alles immer als schwarz oder weiß ist. Damit man nicht gleich sagt: Schon gut, wir wissen Bescheid.

 

Magz Barrawasser: Ja, voll. Und für mich ist es eben total schön, auf den Proben nicht so ein «Lonesome Wolf» zu sein, sondern zu wissen, ich hab auch ein Team, mit denen kann ich Rücksprache halten. Wenn ich dann mal dastehe und etwas überhaupt nicht verstehe, dann gibt es Leute, mit denen ich dann gegenchecken kann. Meistens läuft es dann über Justus, der Sonja fragt oder Justus, der Olivier fragt oder ich, die einfach Justus fragt. Und das für mich tatsächlich total wertvoll.

 

Sonja Finck: Ja, und auch umgekehrt ist das für mich als Übersetzerin sehr wertvoll und hilft mir dabei, den Text vielleicht manchmal neu zu justieren. Zum Beispiel haben wir auch gemeinsam einen Satz in der Sexszene zwischen Oli und So verändert. In der ursprünglichen deutschen Übersetzung fragt Oli immer nach: «Darf ich dies, darf ich das? Gefällt dir das?» – und dann sagt So irgendwann: «Ja, mach weiter, aber hör auf mich dauernd um Erlaubnis zu fragen.» Und das klang irgendwie schräg auf Deutsch, so als wollte sie gar keine Einvernehmlichkeit. Da haben wir drüber diskutiert und kamen dann zu der jetzigen Fassung: «Ich sag schon, wenn mir was nicht gefällt, also halt den Mund», was sie auch wieder viel aktiver macht. Das sind kleine Stellschrauben, die inhaltlich sehr viel damit machen, wie die Figur wirkt. Für mich als Übersetzerin ist es hochinteressant, wie eine einzige Replik die Figur in die eine oder in die andere Richtung bewegen kann.

Philipp Zemmrich (Ben) und Josephine Schumann (So) in «Sexualkunde für das nächste Jahrtausend» (Ausstattung: Rabea Stadthaus) (c) Tom Schulze

Frank Weigand: Justus, wie seid ihr als Theater der Jungen Welt denn eigentlich zu dem Text gekommen? Warum habt ihr beschlossen, diesen Text zu inszenieren? Und was wolltet ihr damit erzählen – vermutlich ja nicht unbedingt, wie es 1999 in Québec war?

 

Justus Rothländer: Also, wir waren in der Spielzeitplanung, auf der Suche nach einem Stoff für die Altersgruppe 15 plus, und häufig landet man dann bei irgendeiner Klassikerbearbeitung. Und da war es ein Anliegen zu schauen, was können wir machen, was vielleicht das Publikum auf eine andere Art und Weise trifft in ihrer Lebenswirklichkeit. Außerdem war Olivier mal eine Zeitlang am Theater an der Parkaue in Berlin, als ich dort gearbeitet habe, und darüber habe ich ihn als einen Autor kennen und schätzen gelernt, der die Arbeit für junge Publikum ernst nimmt und sehr bewusst damit umgeht. Und so kam ich darauf, zu gucken, was schreibt er gerade, wo ist er aktuell dran, und darüber sind wir auf diesen Stoff gekommen. Und wir waren schnell begeistert von dem Text. Es ist eine besondere Qualität des Textes, das Thema Sexualität in die Hand zu nehmen und auch explizit zu machen. Auch eine Art von Konfrontation zu wagen. Und gleichzeitig eine Diskussion anzustoßen. Und das schien uns wesentlich, gerade in einer Zeit, wo Sexualität visuell omnipräsent ist und auch auf Schulhöfen präsent ist. Es braucht nur ein Smartphone, um alle möglichen Pornos anzuschauen. Und da was anderes anzubieten, das sagt OK, du kannst auch darüber sprechen, du kannst darüber entscheiden, wen du liebst, wie du liebst, was dir gefällt und was dir nicht gefällt und das ist ein Punkt, der uns an diesem Stoff interessiert.

 

Josephine Schumann als So in «Sexualkunde für das nächste Jahrtausend» (Ausstattung: Rabea Stadthaus) (c) Tom Schulze

Frank Weigand: Magz, bei der Vorbereitung auf dieses Interview bin ich auf einen Text von dir auf nachtkritik.de gestoßen, in dem du darüber reflektierst, wie mit Intimität auf dem Theater und im Film umgegangen werden kann und sollte. Intimität ist ja der eigentliche Knackpunkt dieses Stücks. Wie stellt man das dar oder wie geht man damit um? Wie war dein Zugang als Regisseurin dazu?

 

Magz Barrawasser: Was ich an Oliviers Text sehr mag, ist dass die Figuren immer wieder die vierte Wand öffnen und zum Publikum sprechen. Weil uns das die Figuren total nahe bringt und weil das den Figuren auch immer die Möglichkeit gibt, aus der Situation herauszutreten. Und das hat erstmal eine totale Macht, die die Figuren viel dreidimensionaler macht.  Diesen Widerspruch zwischen außen und innen, dieses Doppelte, besonders, wenn man sich verliebt, das kenne ich ja auch von mir selber mit knapp 40.
Und die Intimität, die Körperlichkeit ist natürlich ein großes Thema. Ich fand es total schön, zu hören, Olivier, dass du sozusagen gegen eine Zensur angeschrieben hast, denn in dem Stück kommt man definitiv nicht um Sexualität drum herum.  Der Text ist aber einfach so super gut geschrieben, dass wir eigentlich gar nicht viel machen müssen. Da müssen wir nicht großartig bebildern und nackte Leute über die Bühne schicken. Weil die Sprache, die Codes, eigentlich nur noch mit Blicken versehen werden müssen, um ein krasses Kopfkino im Publikum auszulösen. Aber trotzdem geht es natürlich auch ganz viel um Berührung und gerade um Berührungen zwischen den zwei männlichen Figuren und da ist es sehr hilfreich, dass der Bühnenraum sehr klein ist. Wir haben einige Szenen wo es zwischen Ben und Olli nur um die Berührung der Hände geht, und das ist sofort super intensiv.
Wir arbeiten ganz viel mit so kleinen Berührungen und sehr viel mit Blicken. Das sind so unsere Hauptmittel. Wir haben aber auch von Anfang an im Team sehr viel über alles gesprochen. Es ist ein Text, der sehr explizite Sprache hat, es geht natürlich um Sex. Und die Schauspieler*innen wurden tatsächlich vor der Besetzung gefragt: Hier lest bitte den Text, überlegt euch, ob ihr das spielen wollt. Das ist, finde ich, ein sehr besonderer Vorgang am Theater. Wir sind mit einem Workshop eingestiegen, in dem es darum ging, zu etablieren, dass auf der Probe auch «Ich möchte das nicht so spielen» gesagt werden kann. Wir wollten erstmal etablieren: Es darf auch um Grenzen gehen, die Figuren haben Grenzen, die handeln sie gerade miteinander aus, das gilt aber genauso für unsere Arbeit.

Moritz Winkelmayr als Oli in «Sexualkunde für das nächste Jahrtausend» (Ausstattung: Rabea Stadthaus) (c) Tom Schulze

Frank Weigand: Olivier, wie sind denn deine bisherigen Erfahrungen mit Produktionen deiner Stücke, sowohl in deinem eigenen Québecer Kontext, als auch im Ausland?

 

Olivier Sylvestre: Es ist jedes Mal anders. Es kommt darauf an, wie wir arbeiten. Als 2020 die Premiere von diesem Text in Quebec produziert wurde, war ich sehr nah an der Produktion, also sehr nah an der Bühne und dem Probenraum.  Und wir haben damals viel diskutiert und den Text auf den Proben weiterentwickelt. Es war also eine kollektive Arbeit, aber natürlich gab es auch Konflikt, weil waren wir uns nicht einig, was wir auf der Bühne darstellen wollten oder konnten, und was nicht. Zum Beispiel wenn es zwei Ebenen im Text gibt, also die Narration und die Aktion und man überlegen muss, ob man gezeigt, was gesagt wird, oder nicht, oder ob man eine andere Lösung findet.
Aber hier in Deutschland bleibt mir gar nichts anderes übrig als Vertrauen zu haben, und ich kenne Justus und Sonja, also bin ich sehr, sehr beruhigt, dass alles gut gehen wird. Und ich bin sehr enttäuscht, dass ich nicht bei der Premiere dabei sein kann. Im Grunde geht es bei jeder Produktion darum, dass ich die Kontrolle aufgeben muss, natürlich ist das mein Stück, das ich geschrieben habe, und es ist auch meine Geschichte, das, was ich erzählen wollte, und meine Sicht auf die Welt. Aber dann bleibt mir nichts übrig, als zu hoffen und zu glauben, dass das respektiert wird. Besonders wichtig ist mir der Dialog zwischen dem Stück und dem Publikum, und wie wir uns um das Publikum kümmern. Das Publikum an unterschiedlichen Orten braucht unterschiedliche Entscheidungen. Und alles an dieser Leipziger Adaption gefällt mir sehr, weil das wirklich das ist, was diese Geschichte braucht. Wie Sonja gesagt hat, es ist nicht wichtig, dass die Jugendlichen in Leipzig wissen, wie es 1999 in Québec war. Es geht mehr um Gefühle, und das, was in unserem Inneren passiert.

 

Magz Barrawasser: Ich glaube, letzten Endes arbeiten wir quasi immer alle in Positionen, in denen wir uns was selbst zu eigen machen und dann abgeben müssen. Also, ich ja auch, an die Spieler*innen und die dann auch wieder ans Publikum. Ich habe aber das Gefühl, so ein bisschen auf der Metaebene gedacht, wir kriegen das in der Kommunikation, die wir im Vorfeld hatten, total gut hin, eben auch auf die beruflichen Expertisen der jeweils anderen zu vertrauen. Ich vertraue total darauf, dass Oliver ein gutes Stück geschrieben hat, ich vertraue total darauf, dass Sonja die richtigen deutschen Worte gefunden hat, vertraue darauf, dass Justus mir ehrliche Rückmeldungen gibt zu dem, was wir auf der Probe machen. Das finde ich super wertvoll, um diese Augenhöhe herzustellen. Es funktioniert nur, wenn die verschiedenen beruflichen Perspektiven ineinander klicken.

 

Sonja Finck: Ja, und ich denke es hilft, dass wir uns alle einig sind, was das eigentlich bedeutet, Grenzen zu respektieren, sei es inhaltlich im Stück oder bei der beruflichen Zusammenarbeit. Wenn da jetzt jemand in der Kette eine ganz andere Auffassung davon gehabt hätte, wäre es, glaube ich, schwierig geworden. Die Kommunikation funktioniert so gut, weil wir eine ähnliche Sicht darauf haben, was das Stück will und wie man damit gut umgeht.

 

Frank Weigand: Das ist doch ein sehr schönes Schlusswort. Vielen Dank euch allen und toi toi toi für die Premiere!

 

Magz Barrawassers Inszenierung von «Sexualkunde für das nächste Jahrtausend» (Premiere 16.9. 2023) läuft in diesem Herbst regelmäßig im Theater der Jungen Welt, Leipzig.

Termine und Karten

Trailer zur Produktion + Interview mit Regisseurin Magz Barrawasser

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Olivier Sylvestre (c) Guillaume Boucher

Nach einem Studium der Kriminologie und  des Szenischen Schreibens arbeitet Olivier Sylvestre als Autor und Übersetzer. Seine literarischen Texte und Theaterstücke wurden in mehrere Sprachen übersetzt, in Québec und Europa aufgeführt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die meisten von ihnen sind im Verlag Hamac erschienen, wo er seit 2022 den Theaterbereich leitet. Er war über zehn Jahre lang als Suchthelfer in Montreal tätig und arbeitet auch als Bühnenautor, Moderator und Mediator sowie als Dramaturg. Er lebt in Montreal.

Sonja Finck (c) Hundt Hammer Stein

Sonja Finck, geboren 1978, lebt als Übersetzerin in Berlin und Gatineau
(Kanada). Nach einer Artistikausbildung in Toulouse studierte sie
Literaturübersetzen in Düsseldorf und Madrid. Sie übersetzt Romane und
Theaterstücke aus dem Französischen und Englischen. Für ihre Arbeit
wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2019 mit dem
Eugen-Helmlé-Preis für das Gesamtwerk, insbesondere für ihre
Übertragungen der Werke von Annie Ernaux. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer
Arbeit ist Literatur aus Québec. Nebenher arbeitet sie als ehrenamtliche
Übersetzerin für SOS Humanity, hin und wieder ist sie auch als
Gastdozentin für den Studiengang Literaturübersetzen der Universität
Düsseldorf tätig.

Magz Barrawasser (c) Ken Werner : Tübingen

Magz Barrawasser ist freiberufliche Theaterregisseurin. Sie lebt im Ruhrgebiet und arbeitet im ganzen Land – zuletzt am Deutschen Nationaltheater Weimar, am Prinz Regent Theater Bochum, am Stadttheater Bremerhaven und dem ITZ in Tübingen. Sie wurde westdeutsch, weiblich und weiß sozialisiert und stellt sich aus dieser Position heraus viele Fragen zur Zukunft der Gesellschaft und der (Sprech-)Theaterstrukturen.
Neben der Regie engagiert sich Magz Barrawasser kulturpolitisch in verschiedenen Netzwerken und ist Beraterin für intimitätssensibles Arbeiten auf der (Probe)Bühne und Intimitätskoordinatorin. In ihrer Probenarbeit stellt Magz immer wieder unter Beweis, dass Theater Teamwork und transparente Kommunikation das wichtigste Handwerkszeug einer Regisseurin ist. Ihre Inszenierungen zeichnen sich durch zeitliche Aktualität und genaue Figurenarbeit aus und spiegeln gesellschaftliche Bewegungen.

Justus Rothländer (c) Tom Schulze

Justus Rothlaender studierte Germanistik, Geschichtswissenschaft und Theaterwissenschaft an der Universität Bielefeld, an der Freien Universität Berlin und an der Universität Helsinki sowie Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Er assistierte im Bereich der Dramaturgie am Finnischen Nationaltheater Helsinki, beim Baltic Circle Festival und an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin. Freischaffend arbeitete er für das internationale Nordwind Festival sowie an der Schaubude Berlin, Neuköllner Oper und für den Hangö Teaterträff in Finnland. Von 2019 bis 2022 war Justus Rothlaender als Dramaturg am Theater an der Parkaue in Berlin beschäftigt. Seit der Spielzeit 2022:23 ist Justus Rothlaender als Dramaturg am TDJW tätig.

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