Meriam Bousselmi lädt uns ein, «auf Kant und Hegel zu spucken» Gendert das weibliche Genie die ästhetische Praxis?

Szene aus dem Stück «Le Péché du succès/Sünde Erfolg» von Meriam Bousselmi © Djamel Bouali

In ihrem neuen Essay für PLATEFORME denkt die tunesische Forscherin, Autorin und Regisseurin Meriam Bousselmi darüber nach, ob Kunst klar einem Geschlecht zugeordnet werden kann. Eine scharfsinnige, nicht ganz humorfreie Reflexion über jahrhundertealte Strategien des systematischen Unsichtbarmachens, männliche Geniebegriffe in Kunst und Philosophie und ihre eigenen Erfahrungen im deutsch-arabischen Kontext.

 

von Meriam Bousselmi

 

In dem Kurzfilm Liberté et Patrie[1] von 2002 (Drehbuch und Regie aus der Hand des Paares Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville), der wie ein kinematografischer Essay zum Begriff der Darstellung konzipiert ist, stellt die Erzählerin Geneviève Pasquier eine Frage: «Vater, was ist die beste Methode, um herauszufinden, ob jemand ein guter Umgang ist?» Jean-Pierre Gos, der zweite Erzähler des Films, antwortet darauf: «Frag ihn: ‚Was haben Sie gelesen?‘ Und wenn er antwortet, Homer, Shakespeare, Balzac, dann ist er kein guter Umgang. Wenn er aber antwortet: Was verstehen Sie unter Lesen? Dann sind alle Hoffnungen erlaubt.«[2].

Dieser sprachspielerische Geniestreich hinterfragt nicht nur unsere Vorstellungen von Sprache und Kommunikation, vor allem lenkt er den Fokus auf das Lesen selbst und unsere Praxis des Interpretierens. Es gibt nämlich unterschiedliche Lesemodalitäten und jedes Werk bietet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Die Antigone von Sophokles[3] ist nicht die Antigòn an Kreyòl (Antigone auf Kreolisch) des Haitianers Félix Morisseau Leroy[4]. Und Judith Butlers feministische Neuinterpretation einer eher queeren Antigone[5], die gleichzeitig mit den sozialen Normen von Geschlecht und Verwandtschaft bricht, widerspricht der hegelschen Antigone[6], die auf einen Widerspruch zwischen Familie und Staat reduziert wird. George Steiners Antigonen[7] zeugen von der uneinschränkbaren Pluralität der (un-)möglichen Lesarten ein- und desselben Werks. Montaigne geht sogar so weit, zu behaupten, wir seien «nur Interpreten der Interpreten«[8]. Damit liegt er nicht falsch, denn jedes Kunstwerk als Darstellung, auch wenn diese antimimetisch ist, trägt eine subjektive Interpretation der Welt in sich und fordert seinerseits eine Interpretation heraus, die zwangsläufig wiederum subjektiv, kontext- und situationsabhängig ist.

 

Die Schauspielerin Amal Ayouch in «Le Péché du succès/Sünde Erfolg» von Meriam Bousselmi © Djamel Bouali

Wir könnten sogar sagen, jede Lesart erschafft das Werk von neuem und kann es eine Aussage treffen lassen, die nicht unbedingt intendiert war, oder die es hätte treffen können. Während die italienische Kunstkritikerin und Schriftstellerin Carla Lonzi, Gründerin der Gruppe Rivolta Femminile («Weibliche Revolte», 1970), uns in ihrem berühmten Buch Sputiamo Su Hegel[9] (1981) dazu auffordert, «auf Hegel zu spucken» [oder, wie in der deutschen Buchübersetzung, zu pfeifen, A.d.Ü.], indem sie eine dekonstruktivistische Lesart der hegelschen Herr-Knecht-Dialektik und des Marxismus vorlegt, setzt sich der junge französische Philosoph Jean-Baptiste Vuillerod in seinem Buch Hegel Féministe: les aventures d’Antigone (2020) mit einer Lesemethode auseinander, die er eine «perspektivische Lesart» nennt. Er schreibt: «Hegel aus der Perspektive des Feminismus zu lesen, heißt, ihn auf ein zeitgenössisches Problem hin zu befragen, das er als solches nicht ins Auge gefasst hat. Es heißt, ihm Fragen zu stellen, die er sich nicht gestellt hat, aber auf die seine Philosophie einige Antworten geben und zu denen er Denkanstöße liefern kann.«[10] Carla Lonzi begründet das Spucken auf Hegel folgendermaßen: «Die Frau steht nicht in einem dialektischen Verhältnis zur männlichen Welt. Die Bedürfnisse, die sie gerade klärt, implizieren keine Antithese, sondern ein Sich-auf-einer-anderen-Ebene-bewegen.«[11]

Wir können daraus zwei Schlüsse ziehen: Erstens: Jede Lesepraxis eines Kunstwerks birgt genauso viel kreatives Potential wie die ästhetische Praxis selbst. Zweitens: Es gibt keine neutrale Interpretation und noch weniger eine unschuldige, denn jede Lesemethode beinhaltet ästhetische und politische Entscheidungen, die sich nicht nur auf die Rezeption, sondern auch auf den Wert selbst auswirken, der einer ästhetischen Praxis zuerkannt wird. Anhand dieser Kriterien möchte ich die nun folgende Reflexion zu der bereits im Titel dieses Essays angekündigten Fragestellung «Gendert das weibliche Genie die ästhetische Praxis?» einordnen. Eine sicherlich problematische Formulierung, deren ironische und provokative Absicht ich eilends unterstreichen will, und die ihrerseits eine Leseanstrengung erfordert. Wie soll man sonst eine Formulierung wie «das weibliche Genie» lesen und verstehen?

 

Szene aus dem Stück «Le Péché du succès/Sünde Erfolg» von Meriam Bousselmi © Djamel Bouali

Praxis, Gender und Genie

2013 schrieb und inszenierte ich den Text Sünde Erfolg[12] als Kritik an argwöhnischen Lesarten eines «intelligenten Frauseins» in der Theaterbranche, die, anders als allgemein angenommen, nicht weniger machohaft ist als andere Milieus.
«Die Geschichte der Menschheit ist gespickt mit Verstößen gegen die Rechte der Frau. Das gilt sowohl im Westen als auch bei uns im Orient. Wie viele Frauen haben den Lauf der Welt maßgeblich beeinflusst und wurden trotzdem von den Geschichtsschreibern nie erwähnt? Wie oft haben sich Männer mit den Errungenschaften von Frauen gebrüstet? Anerkennung – das ist es, worum es hier geht. Selbst in Europa wird erst seit kurzem die Frau und ihre Rolle bei der Schaffung der modernen Welt anerkannt. Als wäre ihr genialer Geist im Tiefschlaf versunken gewesen und erst kürzlich wieder zum Leben erwacht.» So klagte die wunderbare franko-marokkanische Schauspielerin und Pharmazeutin Amal Ayouch[13] mit einem Hauch Ironie in der Rolle der Dalal, einer aus Syrien stammenden Theaterwissenschaftsprofessorin, die an einer deutschen Universität lehrt, wenn wir der Figur aus Sünde Erfolg Glauben schenken wollen. Was meinte sie mit dem sogenannten «weiblichen Genie», dem «Zuspätkommer» (Latecomer) der Geschichte? Erinnert uns das nicht an eine andere Lesart der Kolonialgeschichte, die die Bevölkerung der arabischen und afrikanischen Länder als die «Zuspätkommer» (Latecomers) der Moderne betrachtet?

Die Antwort kann nur in der Definition selbst gefunden werden, was ein «Genie» ist. Mehrere Schriftsteller*innen und Philosoph*innen haben den Begriff «Genie» zu definieren versucht. Immanuel Kant war jedoch einer der ersten, der in seinem 1790 erschienen Standardwerk Kritik der Urteilskraft[14] eine Theorie des Genies vorlegte. Bevor wir uns auch noch auf Kant stürzen, um auf ihn zu spucken, dessen unleugbare Misogynie sich in seinem Konzept des Ehevertrags ausdrückt, der verheiratete Frauen auf eine Stufe mit «Dingen»[15] stellt, sehen wir uns zuerst seine Definition des Genies an, die in Paragraph 46, «Schöne Kunst ist Kunst des Genies» des zweiten Buches, «Analytik des Erhabenen» steht:»Genie ist die angeborne Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.»[16]. Auf den ersten Blick liefert Kant eine Definition, die für alle gilt, ohne zwischen einem «männlichen Genie» und einem «weiblichen Genie» zu unterscheiden. Kant zählt die Bedingungen auf, die es zum Genie-Sein braucht: 1. Originalität; bedeutet, nicht zu imitieren, was bereits da ist. 2. Einzigartigkeit; in dem Sinne, zu einer eigenständigen Bezugsgröße zu werden. 3. Genie ist ein unübertragbares Wissen.

Später zitiert er einige Namen beispielhafter Genies wie Newton oder Homer und beschreibt sie als «Günstlinge der Natur«[17]. Es fehlt Kant nicht an Humor, wenn er uns auffordert, uns vor «selbsterklärten Genies» in acht zu nehmen: «So glauben seichte Köpfe, dass sie nicht besser zeigen können, sie wären aufblühende Genies, als wenn sie sich vom Schulzwange aller Regeln lossagen, und glauben, man paradiere besser auf einem kollerichten Pferde, als auf einem Schulpferde.»[18]. Oder auch: «Und da kann man an einem seinsollenden Werke der schönen Kunst oftmals Genie ohne Geschmack, an einem andern Geschmack ohne Genie, wahrnehmen.»[19]

Ich sehe in diesen Beschreibungen nichts, was als Fähigkeit des einen Geschlechts mehr als des anderen, sich als Genie zu erweisen, interpretiert werden könnte. Selbst wenn Kant an keiner Stelle Frauen von Genie erwähnt – die Praxis des Unsichtbarmachens war zu seiner Zeit tausendmal schlimmer als heute. Das entschuldigt natürlich nicht, dass er zu diesem Unsichtbarmachen beitrug, wie es die Philosophin Sarah Kofman in ihrem Buch Le respect des femmes: Kant et Rousseau (1982) [20] darlegte.  Das «weibliche Genie im Tiefschlaf», wie die Figur aus dem Theaterstück Sünde Erfolg es ausdrückt, kann also nur als Ergebnis dieses Unsichtbarmachens gelesen werden, und nicht als geschlechtsspezifische Eigenschaft, wie manche es gerne verstehen würden. Denn jeglicher Versuch, dem Genie ein Geschlecht zu geben, erscheint mir wenig stichhaltig und kann die Frau nur darauf reduzieren, als Hilfskraft eines «männlichen Genies» zu wirken, wenn dieses gegenderte Genie tatsächlich existiert hat und keine Interpretationsvorlage gewesen ist, die Jahrhunderte der ästhetischen Praxis geprägt und Frauen ausgeschlossen oder in Nebenrollen verwiesen hat. Das bedeutet, dass die Lesart auch von der Position der oder des Lesenden abhängt. Wer liest wen? Das ist vermutlich eine Frage der Machtverhältnisse. Das ist keine Schlussfolgerung, die ich out of the blue ziehe. Ich habe mir ernsthaft und ganz naiv die Zeit genommen, darüber nachzudenken.

 

Szene aus dem Stück «Le Péché du succès/Sünde Erfolg» von Meriam Bousselmi © Djamel Bouali

Macht, Ästhetik und Legitimität

Die Einführung meiner Arbeit und meine ersten Produktionen auf deutschen Theaterbühnen verdanke ich Dr. Roberto Ciulli[21], Schauspieler und Regisseur, der 1980 in Mülheim gemeinsam mit dem Dramaturgen Helmut Schäfer das Theater an der Ruhr gründete. Ich war von der Strenge seiner ästhetischen Praxis beeindruckt, die ich erstmalig 2009 beim Festival der Theatertage von Karthago (JTC) in Tunis kennenlernte. Ich erinnere mich noch an seine Inszenierung des Stückes Kaspar von Peter Handke im Théâtre Municipal von Tunis. Eine Inszenierung, mit der er seit ihrer Premiere 1987 auf Tournee war, also seit ich vier Jahre alt war! Das war in Tunis unvorstellbar. Die Langsamkeit und Gesamtlänge der Vorstellung führten dazu, dass das tunesische Publikum, am Anfang zahlreich, schon wenige Minuten nach Beginn grüppchenweise den Saal verließ. Zur Pause waren fast nur noch Theaterschaffende da. Der kolossale Bau des Théâtre Municipal von Tunis machte die Leere spürbar. Ich erinnere mich auch an die kurze Diskussion zur Rezeption von Ciullis «deutscher» Ästhetik, die ich mit dem tunesischen Regisseur Taoufik Jebali[22] führte, dem Gründer des El Teatro[23]. Er sagte in etwa: «Siehst du, nur diejenigen, die verstehen, was Theater ist, sind geblieben. Im Theater braucht man einen langen Atem …»

Die ästhetische Erfahrung von Roberto Ciullis Kaspar-Inszenierung war einer der – im kantischen Sinne – seltenen Momente des «Erhabenen» in meinem Leben. Für mich war er ein Genie. Genauso Peter Handke. Ich träumte davon, wie er Theater zu machen, also mit einem Ensemble, das langfristig zusammenarbeitete, sowie den technischen und logistischen Mitteln, um eine strenge Ästhetik zu erarbeiten. Damals war mein Stück Zapping sous contrôle[24] gerade erfolgreich gespielt worden und bei demselben renommierten Festival, den JTC, gezeigt worden, zu dem auch Roberto Ciulli eingeladen war. Aber ich musste kämpfen, um zu inszenieren und meinen Platz als Autorin und Regisseurin zu finden. Mich nicht mehr beschränkt zu fühlen und meine Anwesenheit in einer prekären und diskriminierenden Branche zu legitimieren.

Jeder Schaffensprozess ist anders, entsprechend den materiellen und strukturellen Konditionen, die Künstler*innen zur Verfügung stehen. Und diese materiellen und strukturellen Konditionen beeinflussen zwangsläufig die Werke, die wir schaffen, sei es in den Geschichten oder in der Ästhetik. Meine Arbeitsbedingungen waren immer prekär und sind es noch, nicht zu vergleichen mit dem Luxus, den das Theater an der Ruhr bietet. Ich kann sogar sagen, alle meine Projekte sind Zeugnisse eines künstlerischen Überlebenskampfes.

 

Die Schauspielerin Amal Omran in «Le Péché du succès/Sünde Erfolg» von Meriam Bousselmi © Djamel Bouali

Durch eine glückliche Fügung hatte der tunesische Regisseur Mohamed Driss[25], damals Intendant der JTC und des Théâtre National Tunisien (TNT), dem ich es verdanke, mir die Türen zum TNT geöffnet zu haben, Roberto Ciulli eingeladen, 2010 eine Master Class an der Ecole des Maîtres des TNT zu geben. Und natürlich wurde ich eingeladen, ihn zu treffen, um an einer geplanten Koproduktion beider Regisseure mitzuarbeiten. Damit begannen die ersten hochinteressanten Gespräche mit Roberto Ciulli. Ich glaube, wir haben uns damals gegenseitig bewundert. Aber die tunesische Revolution von 2011 verhinderte die Umsetzung der Koproduktion zwischen dem TNT und dem Theater an der Ruhr auf der Grundlage eines Textes von Goldoni (Der Impresario von Smyrna).

Mein Kontakt zu Roberto Ciulli aber blieb bestehen. Ich schickte ihm die Aufzeichnung meines Stücks Mémoire en Retraite[26], das zum Zeitpunkt der Revolution am TNT produziert wurde. Text und Inszenierung gefielen ihm und er lud uns ein, in Mülheim zu spielen. Nachdem das Stück vom deutschen Publikum gut aufgenommen wurde, wollte das Theater an der Ruhr meine nächste Arbeit koproduzieren, was mir damals wie der Anfang der Verwirklichung meines Traums erschien, ein «Genie» zu werden, das heißt, die Mittel und die notwendige Unterstützung zu bekommen, meine ästhetische Praxis zu entwickeln. Nur dass der Traum bald der Ernüchterung wich, aus mehreren Gründen, die hier aufzuzählen zu langwierig wäre.

 

Meriam Bousselmi beim Schlussapplaus der Premiere von «Le Péché du succès», Théâtre Régional de Béjaïa 2013 © Djamel Bouali

Ich erzähle diese biographische Episode, um zu betonen, wie viel der Künstler Roberto Ciulli für mich zählte und welche Wertschätzung ich für sein «Genie» hatte. Aber als Roberto Ciulli in der Woche vor der Premiere des vom Theater an der Ruhr koproduzierten Stückes Sünde Erfolg nach Bejaia in Algerien kam, um die Generalprobe zu sehen und seine eigene Tournee in Algerien vorzubereiten, begann der stille Krieg der Genies! Während ich es kaum erwarten konnte, ihm das Ergebnis der harten und intensiven Arbeit zu zeigen, die ich in kaum einem Monat realisiert hatte, um mich zum Dank für seine Unterstützung, die mir erlaubt hatte, an meiner ästhetischen Praxis zu feilen, mit ihm darüber auszutauschen, sagte mir Roberto Ciulli nach der Generalprobe nur, ich könne das Stück aus technischen Gründen in Deutschland so nicht zeigen.

Das Théâtre Régional de Bejaia ist nämlich ein architektonisches Schmuckstück aus der Kolonialzeit, mit Guckkastenbühne und Bühnenturm, der die für die Theatermagie notwendige Maschinerie beherbergt. Inspiriert von diesem zauberhaften Ort hatte mein Genie mich dazu getrieben, ein Team des Höhlenforscher-Vereins von Bejaia zu engagieren, das der algerischen Schauspielerin Mouni Bouallem[27] beibrachte, an einem Seil emporzuklettern und wie ein Schmetterling zu fliegen, um durch die Decke zu verschwinden, und hatte aber völlig vergessen, nachzufragen, ob eine Umsetzung durch die Maschinerie der Theater in Köln und Mülheim, die keine Bühnentürme hatten, genauso möglich wäre. Natürlich musste ich mir einen «genialen» Trick einfallen lassen, um die Aktion des Emporschwebens und Abstürzens wie ein toter Schmetterling für die Vorstellungen in Deutschland durch metaphorische Videos zu ersetzen.

 

Die Schauspielerin Mouni Bouallem in «Le Péché du succès/Sünde Erfolg» von Meriam Bousselmi © Djamel Bouali

Als Roberto Ciulli mir dann aber vorwarf, keine «weibliche Regiehandschrift» gefunden zu haben und nur «dieselben männlichen Regiehandgriffe» zu reproduzieren, die ich seiner Ansicht nach während meiner dreimonatigen Residenz 2012 an der Jungen Akademie der Künste in Berlin[28] gelernt hätte, verging mir das Genie. Seine Lesart hatte die Wirkung einer Axt, die das Meer in mir zum Gefrieren brachte. Die Begeisterung wich dem Zweifel. Gibt es eine «weibliche Regiehandschrift» und worin besteht sie? Im Widerspruch zu Ciullis Lesart machten mir mehrere männliche arabische Kollegen und Freunde, die das Stück in Algerien sahen, meine «feministische Ästhetik» zum Vorwurf und sagten, mein Genie verdiene eine Beschäftigung mit edleren und universelleren Themen, wie es in meinen früheren Inszenierungen der Fall gewesen wäre. Bis dahin hatte ich vor allem männliche Figuren geschrieben und inszeniert, ohne mich unmittelbar für Erzählungen von Frauen zu interessieren. Erinnern wir uns, dass 2013 der Kampf gegen das Unsichtbarmachen von Frauen und die Bewegungen weiblicher Solidarität wie #Metoo nicht so sichtbar waren wie heute. Daher bedeutete, Sünde Erfolg zu schreiben und zu inszenieren, gegen den Strom zu schwimmen. Die Lesarten des Stückes veränderten sich je nach Kontext.

«Kreischen und Brüllen für die Emanzipation. Die tunesische Theatermacherin Meriam Bousselmi zeigt mit «Sünde Erfolg» Leiden und Kampf der arabischen Künstlerinnen. Flapsig könnte man sagen: Hier trifft Alice Schwarzer auf René Pollesch», schrieb Stefan Keim am 20.11.2013 in einem auf Deutschlandfunk Kultur veröffentlichten Artikel[29]. Ein anderer Festivalleiter, dessen Namen ich hier nicht nennen möchte, sagte mir wiederum so etwas wie: «Was du machst, ist gut, aber nicht in Europa. Du machst Theater wie die Deutschen. Das kann ich einem europäischen Publikum nicht verkaufen. Was sie an den Stücken interessiert, die wir einladen, ist das Handwerkliche des arabischen und afrikanischen Theaters.» Es ist höchst erstaunlich, wie gerne wir anderen ein Etikett aufdrücken, besonders, wenn es sich um eine Kultur- oder Sprachgruppe handelt, und sie auf einfache Denkmuster und ästhetische Klischees reduzieren. Ich hatte immer das Gefühl, nicht dazuzugehören, weil ich bei mir zu Hause wegen meiner «Strenge» als «sehr deutsch» eingeordnet werde, und in Deutschland als «nicht arabisch genug», und zwar wieder wegen meiner «Strenge»! Aber die ganze Kunst dieser Sorte misstrauisch-legitimierender Lesarten zeigt sich am deutlichsten in folgender Aussage: «Du darfst nicht deutscher sein als die Deutschen!»

 

Premierenapplaus nach der Uraufführung von «Le Péché du succès» von Meriam Bousselmi, Théâtre Régional de Béjaïa 2013 © Djamel Bouali

 

Zum Abschluss, auch wenn ich zu keiner Schlussfolgerung komme, möchte ich ergänzen, dass die Lesart, die mir am meisten Freude bereitete, von einem Kölner Blogger stammte, der einen langen illustrierten Artikel zur Inszenierung schrieb, mit dem Titel: «Tiefgehende Rollenauseinandersetzung, die eben nicht nur schön ist»[30]. Es ist wichtig, das Spiel der Rollen zu verstehen, die man uns zuteilt. Vor allem in Modellen der Organisation im künstlerischen Bereich, in dem einige wenige das Monopol der Wahl und Entscheidungsmacht anstelle anderer innehaben[31]. Wie kann man ein künstlerisches Werk lesen, indem man die durch die Legitimationsprozesse von Ungleichheiten vorgegebenen Lesekriterien ausschaltet? Das verstehe ich unter Lesen mit allen Hoffnungen, die mir erlaubt sind!

 

Aus dem Französischen von Corinna Popp

 

[1] Der Film (in Farbe und Schwarz/Weiß) ist ein Auftragswerk der Schweizer Landesausstellung 2002. Er ist inspiriert von dem Roman Aimé Pache, peintre vaudois von Charles-Ferdinand Ramuz. Der Film ist 22 Minuten lang und in 9 Kapitel unterteilt. Produktion: Périphéria Film.

[2] Dieses Dialogfragment aus dem Film Liberté et Patrie [9:44′- 10:05′] wird oft ausschließlich Jean-Luc Godard zugeschrieben, ohne namentliche Erwähnung seiner Ko-Autorin Anne-Marie Miéville. So zum Beispiel im Falle von Éric Méchoulan, Professor für Französische Literatur an der Universität von Montreal, der in die Praxis umzusetzen vergaß, was der schöne Titel seines Buches empfiehlt, nämlich mit Sorgfalt zu lesen: LIRE AVEC SOIN. Amitié, justice et médias (ENS Éditions, 2017), als er das Zitat seiner Einleitung voranstellt (Seite 9) und dabei Anne-Marie Miévilles Urheberrechte an dem Dialog unterschlägt, der Ko-Autorin des Films. Wir haben es hier mit dem im akademischen Milieu und in den Medien sehr verbreiteten Symptom des Unsichtbarmachens von Künstlerinnen zu tun.

[3] Sophokles, Antigone. Übersetzung und Nachwort von Wilhelm Kuchenmüller. Philipp Reclam jun., Stuttgart 1998.

[4] Félix Morisseau-Leroy, Antigòn an Kreyòl, Pétion-Ville (Haïti), Éd. Culture, 1953.

[5] Judith Butler, Antigone’s Claim: Kinship between Life & Death, New York, Columbia UP, 2000. Deutsche Übersetzung von Reiner Ansén, Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2001.

[6] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hrsg v.  Clairmont, Heinrich und Wessels, Hans Friedrich Meiner, Philosophische Bibliothek 414, Hamburg 1988.

[7] George Steiner, Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos, Deutsch von Martin Pfeiffer, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt am Main, 2014.

[8] Ibid., S.3.

[9] Carla Lonzi, «Auf Hegel pfeifen» (S.5-34) in: «Die Lust Frau zu sein. Internationale Marxistische Diskussion 55.» Übersetzt von Sigrid Vagt, Merve Verlag, Berlin 1975.

[10] Jean-Baptiste Vuillerod, «Hegel féministe. Les aventures d’Antigone», Vrin, coll. « Matière étrangère », 2020, p.15 ; deutsche Übersetzung für diesen Essay von Corinna Popp.

[11] Carla Lonzi, 1975.

[12] Sünde Erfolg (2013) ist eine Koproduktion von Meriam Bousselmi (Tunis) mit der International Platform for dance & theatre GLOBALIZE:COLOGNE, A.TONAL.THEATER (Köln), «Theaterlandschaft Neues Arabien» des Theater an der Ruhr (Mülheim) und des Festival International de Théâtre de Bejaia (Algerien), mit Unterstützung der Akademie der Künste der Welt (Köln). In diesem Stück versammelte Meriam Bousselmi sechs Schauspielerinnen und einen Musiker aus vier arabischen Ländern – Algerien, Marokko, Syrien und Ägypten – für eine Bestandsaufnahme der rechtlichen Situation der Frauen und der Schwierigkeiten, die ihnen bei der Ausübung ihrer künstlerischen Karrieren in einem patriarchalen Kontext begegnen. Text und Inszenierung: Meriam Bousselmi. Es spielten: Amal Omran (Syrien), Amal Ayouch (Marokko), Fatiha Ouarad (Algerien), Ayet Magdy (Ägypten), Djohra Dreghela (Algerien), Mouni Bouallam (Algerien); Musik: Younes Kati (Algerien). Teaser der Inszenierung: https://vimeo.com/79784852  [Zugriff: 25.01.2024] Der Text wird auf Deutsch vertreten von Hartmann & Stauffacher GmbH Verlag für Bühne, Film, Funk und Fernsehen in der Übersetzung von Andreas Bünger.Weitere Informationen: https://www.hsverlag.com/werke/detail/t3875 [Zugriff: 25.01.2024] Auf Englisch ist der Text beziehbar bei International Performing Rights Ltd in der Übersetzung von Salma Riahi. Weitere Informationen: The Sin of Success, https://iprltd.co.uk/?q=plays-musicals/the-sin-of-success [Zugriff: 25.01.2024]

[13] Weitere Informationen über die Arbeit von Amal Ayouch siehe ihren Wikipedia-Eintrag, https://fr.wikipedia.org/wiki/Amal_Ayouch#:~:text=la%20com%C3%A9die%20fran%C3%A7aise)-,Carri%C3%A8re%20en%20tant%20qu’actrice,de%20multiples%20facettes%20du%20Maroc [Zugriff: 25.01.2024]

[14] Immanuel Kant, «Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie», Insel Verlag, Wiesbaden 1957, S. 405-407.

[15] Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil §22-23in: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie», Insel Verlag Wiesbaden 1957.

[16] Kant, 1957, S. 405.

[17] Ibid., S. 408.

[18] Ibid., S. 409.

[19] Ibid., S. 413.

[20] Sarah Kofman, Le respect des femmes : Kant et Rousseau, Paris, Éd. Galilée, 1982 [keine deutsche Übersetzung vorhanden, a.d.Ü.].

[21] Für weitere Informationen zur Arbeit von Roberto Ciulli siehe Website des Theaters an der Ruhr, https://www.theater-an-der-ruhr.de/de/menschen/738-roberto-ciulli [Zugriff: 25.01.2024]

[22] Für weitere Informationen zur Arbeit von Taoufik Jebali siehe seinen Wikipedia-Eintrag, https://fr.wikipedia.org/wiki/Taoufik_Jebali[Zugriff: 25.01.2024]

[23] Für weitere Informationen über das El Teatro siehe Website, https://elteatrotunis.com/fr/home  [Zugriff: 25.01.2024]

[24]»Zapping sous contrôle«, Text und Regie: Meriam Bousselmi, Produktion: Web Arts Tunis, Preis der Produktion kultureller Ressourcen («Al Mawred Al Thaqafy») 2007. Weitere Informationen: MEKKI, Thameur, Tunisie Big Brother ne zappe jamais !, Tekiano.com, 19.11.2009,https://www.tekiano.com/2009/11/14/tunisie-big-brother-ne-zappe-jamais/ [Zugriff: 25.01.2024] Teaser der Inszenierung, https://www.youtube.com/watch?v=CAjx53RpYQ0 [Zugriff: 25.01.2024]

[25] Für weitere Informationen zur Arbeit von Mohamed Driss siehe seinen Wikipedia-Eintrag, https://fr.wikipedia.org/wiki/Mohamed_Driss [Zugriff: 25.01.2024]

[26] Mémoire en Retraite, eine Produktion des Théâtre National Tunisien (2011), Text und Inszenierung: Meriam Bousselmi mit Sleh Msadek und Kabyl Sayari. Das Stück gewann den Cheikh Sultan Bin Mohamed Al-Qasimi-Preis für die beste arabische Theaterinszenierung 2011. Mémoire en Retraite bringt den ewigen Konflikt zwischen einem Vater (einem Winkeladvokaten) und seinem Sohn (einem marginalisierten Dichter) auf die Bühne und situiert das Ganze in einer offen politischen Symbolik des Totalitarismus. Teaser der Inszenierung: https://www.youtube.com/watch?v=JY2mvBdrylA [Zugriff: 25.01.2024] Der Text wird auf Deutsch vertreten von Hartmann & Stauffacher GmbH Verlag für Bühne, Film, Funk und Fernsehen in der Übersetzung von Leila Chammaa und Youssef Hijazi. Weitere Informationen: https://www.hsverlag.com/werke/detail/t3815?rechte_autor=Tardieu%2C%20Jean&rechte_titel=SIE%20ALLEIN%20WISSEN%20ES [Zugriff: 25.01.2024] Die Aufnahme der von Kevin Rittberger eingerichteten Lesung auf Deutsch im Rahmen der Veranstaltung «Familienclans und andere Dramen – Dokumentation des tunesisch-deutschen Theaterdialogs» am 3. März 2012 in der Akademie der Künste Berlin mit Moritz Grove und Christian Grashof ist online abrufbar: https://medien.adk.de/sektionen/darstellende_kunst/2012/adk120303_Tunesische_Dramatik_Lesung%201_Memoire.mp3 [Zugriff: 25.01.2024]

[27] Weitere Informationen über die Arbeit von Mouni Bouallem siehe ihren Wikipedia-Eintrag: https://fr.wikipedia.org/wiki/Mouni_Bouallam#:~:text=Mouni%20Bouallam%20est%20une%20actrice%20de%20th%C3%A9%C3%A2tre%20et%20de%20cin%C3%A9ma%20alg%C3%A9rienne[Zugriff : 25.01.2024]

[28] Meriam Bousselmi erhielt 2012 das Residenz- und Arbeitsstipendium der Jungen Akademie der Künste in Berlin in der Sektion Theater. Weitere Informationen: https://www.adk.de/de/news/?we_objectID=32104 [Zugriff : 25.01.2024]

[29] Stefan Keim, «Kreischen und Brüllen für die Emanzipation. Die tunesische Theatermacherin Meriam Bousselmi zeigt mit «Sünde Erfolg» Leiden und Kampf der arabischen Künstlerinnen. Flapsig könnte man sagen: Hier trifft Alice Schwarzer auf René Pollesch.», veröffentlicht am 20.11.2013 auf Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/arabisches-theater-kreischen-und-bruellen-fuer-die-100.html [Zugriff : 25.01.2024]

[30] Namkoartist, «Tiefgehende Rollenauseinandersetzung die eben nicht nur schön ist«, veröffentlicht am 24.11.2013, https://namkoartist.wordpress.com/2013/11/24/theater-auf-dem-theater-mit-visionarer-weitsicht-und-poesie/ [Zugriff: 25.01.2024]

[31] Reine Prat, Exploser le plafond. Précis de féminisme à l’usage du monde de la culture, Éditions Rue de l’échiquier, Collection Les Incisives, 2021 [keine deutsche Übersetzung vorhanden, A.d.Ü.].


Dieser Text entstand während Meriam Bousselmis Forschungsarbeit im Rahmen des Graduiertenkollegs 2477 «Ästhetische Praxis», gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Projektnummer: 394082147.


 

Die Forscherin, Autorin und Regisseurin Meriam Bousselmi (©Angela Ankner)

Meriam Bousselmi, geboren 1983 in Tunis, studierte Rechts- und Politikwissenschaft an der Universität Tunis Karthago. Sie ist eine mehrsprachige Autorin, Regisseurin, Rechtsanwältin, Dozentin, Forscherin und Brückenbauerin. Sie forscht im Rahmen ihrer Doktorarbeit im DFG-Graduiertenkolleg 2477 – Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim zur Inszenierung von Gerechtigkeit und setzt dieses Thema auch künstlerisch um.
In ihrer künstlerischen Praxis verbindet Meriam Bousselmi die unterschiedlichsten Formen des Erzählens: literarische Texte, Theaterinszenierungen und performative Installationen. Sie reflektiert anhand verschiedener ästhetischer Formen die gegenwärtigen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Indem sie Genregrenzen überschreitet und sich mit Tabuthemen auseinandersetzt, gibt sie ein kritisches Bild unserer Zeit wieder. Ihre Arbeiten werden zu einem künstlerischen Statement gegen politische Manipulationen und die vorherrschenden negativen Narrative unserer Welt.
2018 ist Meriam Bousselmi nach Berlin gezogen und hat seitdem einen mehrsprachigen Schreibstil und einen transkulturellen künstlerischen Ansatz entwickelt. Ihre neuen Projekte übersetzen Begriffe wie Dialog, Transfer und Vermischung von Erzählweisen in die Praxis.

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