Dialog für eine Rückkehr
11. Februar 2024, Paris, 20. Arrondissement.
DIE JÜDIN IM EXIL- Auf deinem verwundeten Leib halte ich Andacht.
DIE HEIMATSPRACHE- Hauche mich.
DIE JÜDIN IM EXIL- Auf deinen ausgeweideten Riffen bete ich.
DIE HEIMATSPRACHE- Sprich mich.
DIE JÜDIN IM EXIL- Auf deinen ausgetrockneten Mund gieße ich.
DIE HEIMATSPRACHE- Beschwöre mich.
DIE JÜDIN IM EXIL- Auf dein zerbrechliches Dasein hoffe ich.
DIE HEIMATSPRACHE- Lass mich nicht im Stich.
DIE JÜDIN IM EXIL- Ich hebe dich auf, verwundeter Vogel und lege dich an meine Brust. Saug, saug tüchtig. Trinke von der Quelle meines Lehms. Stille deinen Durst in der Farbe meiner Erde. Gewinne deine Stimme zurück. Gewinne deinen Raum zurück. Gewinne dein Leben zurück. Nackt kletterst du meine Haut empor, bis an mein Gesicht. Sei unbesorgt, niemand hört uns. Draußen wollen sie uns beiden ans Leben. Sie heulen, die Wölfe, die den Kopf verloren haben. Komm näher. Nimm meinen Mund, meinen Gaumen, meine Zunge. Berühre mein Gaumenzäpfchen, kitzle meinen Kehlkopf. Komm zurück, komm zurück und wohne wieder in mir. Du wirst dich dort wohlfühlen. Ich spüre, wie du langsam zu mir zurückkehrst, wie deine Farbe mich durchströmt. Du trägst mich dorthin, wo wir eins sind. Ganz nah an die offene Wunde, die stetig tiefer wird. Du trägst mich in das verlassene Land, in das die Nacht eingedrungen ist.
DIE HEIMATSPRACHE- Dich zu durchströmen, bedeutet, das Leben wiederzufinden. Einen Boden wiederzufinden. Die einzigen Gebiete, nach denen ich mich sehne, sind die, wo ich in einer möglichen Sanftheit wieder Körper werden kann. Ich sehe deine Lippen, lebendig, fleischig. Mir dargeboten. Ich gebe mich hin, und du schenkst mir mit deinem Atem das Leben. Ich erklinge in dir, durch dich und über dich hinaus. Ich bin dein erobertes, unter Tränen wiedergefundenes, immer wieder aufs Neue zusammengesetztes Idiom.
DIE JÜDIN IM EXIL- Ich habe dich nicht vergessen, auch wenn die Monate, der Krieg und die Verbannungen mich deiner beraubt haben. Du zögerst und manchmal stößt du dich am fest zusammengepressten Kiefer. Es geht ums Überleben, das weißt du, und draußen auf den Straßen darfst du mich nicht mehr begleiten. Nur wenn ich auf den Stufen des Trocadéro singe, um die Freilassung unserer Geiseln zu fordern, darfst du noch im öffentlichen Raum erklingen. Nur in dir singe ich, nur mit dir. Nur in dir bete ich, nur mit dir.
DIE HEIMATSPRACHE- Du bist mein Resonanzkörper. Mein fleischgewordenes Bollwerk des Widerstands. Du bist die Sprüche der Väter und das Hohelied. Du bist der Mond, der nicht nur jeden einzelnen Monat geheiligt wird. Du bist der Boden, mein Boden. Der, den ich festhalte, damit er nicht fortweht.
DIE JÜDIN IM EXIL- Wenn ich könnte, würde ich dich jeden Tag, jede Stunde anstimmen. Ich würde dich in ein Tuch an meinem Herzen wickeln und du könntest mir meine Worte diktieren. Jeder einzelne deiner Buchstaben bringt mich der Erde näher. Jedes Gespräch mit dir bringt Erde hervor. So fern und deiner Stimmen beraubt, weiß ich doch, dass deine Quelle mir lebenswichtig ist. Fern von dir verwelke ich und mein Puls rast, sobald ein Schimmer des Wiedersehens erstrahlt.
DIE HEIMATSPRACHE- Bleib, wo du bist. Such mich nicht in den Ruinen. Hab Geduld. Wachse an der Verbindung mit mir. Zähme mich weiterhin. Begreife meine Wendungen und spiele mit ihnen, bis du sie vergisst.
DIE JÜDIN IM EXIL- Mit dir reden, dich aussprechen, fern von unserer Erde? Wie kannst du mich dazu auffordern?
DIE HEIMATSPRACHE- Deine Vorfahren haben das über zweitausend Jahre lang getan. Sie waren so geduldig und haben die Hoffnung nie aufgegeben, einmal zu sehen, wie die Erde zur Nation wird. Denk an sie. Respektiere die Zeit und die Geschichte.
DIE JÜDIN IM EXIL- Sie waren zu geduldig und ihre Heimatsprache bliebt auf die Heiligen Bücher beschränkt. Ich wünsche und fordere ein Land, in dem ich dich endlich tragen kann. Du hast es nicht verdient, lediglich das Idiom unserer Verstecke und Geheimnisse zu sein.
DIE HEIMATSPRACHE- Ich dringe durch Mauern bis an die Ohren der Feinde. Ich bin der Atem, der sich windet und Wache hält, besonders wenn man mich ächtet.
DIE JÜDIN IM EXIL- Ich dachte, ich würde mich dir hingeben und so unserem Gelobten Land näherkommen. Jedes Wort in der Zeit eingraviert, wie ein uralter Code, der den Weg der Rückkehr vorzeichnet. Sag mir, wird es so sein? Werden wir wieder gemeinsam im heiligen Wald erklingen? Vor den schützenden Mauern? In die Zweige der tausendjährigen Olivenbäume geschmiegt? Versprich es mir! Wenn dies nicht meine nahe Zukunft ist, kann ich nicht durchhalten. Die Zeit des Ghettos ist vorbei. Wir kehren nicht dorthin zurück, nie wieder. Du bist aus dem Buch herausgetreten und Muttersprache so vieler der Unsrigen geworden. Ich weigere mich, umzukehren!
DIE HEIMATSPRACHE- Das Land wurde uns nicht geschenkt. Es wurde uns zugestanden und wir haben es nicht beschützt. Jedes Wort von mir ist ein potenzieller Samen, aber alles hängt davon ab, welche Absicht man ihm verleiht. Es kann keimen und eine mit roten Anemonen übersäte Graslandschaft werden, auf der die Herzen neue Kraft schöpfen. Es kann keimen und eine aggressive Pflanze werden, die den ihr zugewiesenen Lebensraum kolonisiert und verbrennt. Jedes einzelne Wort von mir hat die Kraft des Lebens und der Zerstörung. Jeder einzelne Satz von mir vermag alles, von der Geburt eines Kindes bis zur kriminellen Brandstiftung. Wäge deine Worte. Arbeite an dem Atem, der sie trägt. Schenke deine Stimme nur dem, was das Leben wählt. Dem, was dem Leben geweiht ist. Bearbeite mich, vermische mich, knete mich zu einem fruchtbaren Schlamm. Noch ist Zeit. Nun ist es an der Zeit, mich erklingen zu lassen, und nur so.
DIE JÜDIN IM EXIL- Kann man noch vernünftig denken, wenn man fern der Heimat nicht mehr erklingt? Was bewahrt mich noch vor dem Wahnsinn? Soll ich die Stille wiederfinden und zu meinem Nest machen?
DIE HEIMATSPRACHE- Lass mich in dir erklingen, nur für dich. Ich bin deine Kraft und dein Geheimnis. Ich bin die Erde deiner Eingeweide und der Widerhall der Vorfahren. Suche nicht nach mehr. Verlange nicht nach mehr. Die Erde verschlingt diejenigen, die sie nicht mehr will, und spuckt sie wieder aus. Sie ist kannibalisch und unberechenbar. Löse mich vom Land und mache mich zu Erde in dir. Um mich zu retten und zu bewahren. Um weiterhin mit mir zu sprechen, mir zuzuflüstern und mir den Krieg zu ersparen, der mich mit Leichen und Vermissten übersät.
DIE JÜDIN IM EXIL- Mach mit mir, was du willst. Erobere diesen Körper ganz und nimm ihn in Besitz. Errichte in ihm dein Bollwerk und halte Zwiesprache, mit wem du willst, in der zurückgezogenen Höhle. Aber wisse, dass dieser Körper, der deine Festung geworden ist, ohne einen Boden nach und nach zusammenbrechen wird. Langsam wird er sterben, wird verblassen. Du hast nicht den Mut, den ich dir zugetraut hatte. Du wünschst dir nur, zu existieren, sogar ohne Wurzeln, sogar ohne Erde. Auch du wirst verlöschen, wenn du glaubst, dass die Heimsuchung unserer verbannten Körper die Erde ersetzen kann. Du bist klein in diesem Augenblick, verlierst deinen edlen Stolz. Komm zu mir zurück, stärker, mutiger, klangvoller. Komm zurück mit neuen Versprechen und Hoffnungen. Lass nicht zu, dass die Verbannung dich gefangen nimmt, wie sie uns festgesetzt hat. Sei unsere Brücke, führe uns an und lass uns dort einander wiedertreffen, wo Sprache und Land erneut zusammenwachsen können. Sei die, auf die ich zugehe und die mich in ihrem Erklingen trägt wie seit Anbeginn der Zeit. Ich folge dir mit allem, was ich bin, aber nur unter dieser Bedingung. Gib nicht auf und verlange nicht, dass ich dir entsage. Gemeinsam werden wir ein Gebiet sein, ein Körper gewordenes Gebiet, das Gebiet, in dem wir Wurzeln schlagen. Trage mich, so wie ich dich in meiner Brust trage. Mögen meine Worte diesen gemeinsamen Schwur mit ihrem Gebet besiegeln.
(aus dem Französischen von Frank Weigand)
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