Ein Gespräch mit der franko-rumänischen Theatermacherin und Autorin Alexandra Badea «Ich behaupte nicht, dass ich die absolute Wahrheit besitze»

«Exil» (2022) von Alexandra Badea am Nationaltheater Bukarest (Foto: Constantin Simon)

Frank Weigand: Wenn man sich die knapp 30 Stücke, die du bisher geschrieben hast, anschaut, stelle ich eine Entwicklung fest. Deine früheren Texte befassen sich stark mit dem Tagesgeschehen, also mit ziemlich unmittelbaren Dingen. Es geht um die alltägliche Realität der Globalisierung, die Auswirkungen des Kapitalismus in der Arbeitswelt und in intimen Beziehungen, also um etwas, das die Menschen direkt betrifft. In den neueren Texten, also in der Trilogie «Points de non-retour» (auf Deutsch «Aus dem Schatten»), geht es dagegen viel mehr um einen Blick in die Vergangenheit. Du schreibst darin über ein Kolonialmassaker aus dem Jahr 1944 im Senegal («Thiaroye»), die Ermordung algerischer Demonstranten 1961 in Paris («Quais de Seine») und die Zwangsumsiedlung Tausender Kinder aus La Réunion in strukturschwache Gebiete in Kontinentalfrankreich bis in die 1980er Jahre («Leere Diagonale»). Wie lässt sich dieser Perspektivenwechsel erklären?

Alexandra Badea: Für mich gehört diese Vergangenheit untrennbar zu der gegenwärtigen Gesellschaft in Frankreich und ihren Bruchstellen. 2015, als die Terroranschläge in Paris geschahen, habe ich angefangen, darüber nachzudenken. Damals war ich in einer Schreibresidenz in Berlin und habe daher den Schock weniger unmittelbar erlebt. Die Bars, in denen Menschen erschossen wurden, waren Bars in meinem Viertel, also hätte ich das alles vermutlich auf eine instinktivere und viel intimere Art und Weise erlebt, wenn ich in Paris gewesen wäre. Dann wäre ich zu dieser Art von Reflexion nicht in der Lage gewesen. Aber da ich nicht vor Ort war, hatte ich eher das Bedürfnis, zu verstehen als zu fühlen und habe keinen Prozess des Traumas oder der Angst durchlaufen. Ich habe damals alles gelesen, was französische Philosoph*innen, Soziolog*innen und Historiker*innen zu dem Thema zu sagen hatten. Sie stellten sich die Frage: Was haben wir getan? Wie erklären wir uns, dass es so weit kommt, dass Franzosen zu den Waffen greifen und andere Franzosen töten? Ein Philosoph, leider habe ich seinen Namen vergessen, schrieb, dass wir vielleicht nicht genug an den fehlenden Erzählungen gearbeitet haben. Und mit den fehlenden Erzählungen meinte er die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Vergangenheit. Das war also einer der Auslöser für mich. Ich hatte ursprünglich nicht vor, ein Theaterstück daraus zu machen, aber die Kolonialisierung war etwas, das mich schon immer fasziniert hat, allerdings eher als Leserin und als Bürgerin. Ich hatte die Gelegenheit, mit afrikanischen Künstler*innen zusammenzuarbeiten oder mit Künstler*innen, die viel in Afrika sind, und außerdem bin ich selbst viel gereist. Das Thema Kolonialismus beschäftigte mich schon lange, aber ich fühlte mich nicht legitimiert, darüber zu schreiben, und ich empfand keine Dringlichkeit. Als die Attentate stattfanden, wurde diese Sache für mich wieder dringlich. Ich spreche über die Vergangenheit, um die Gegenwart besser zu verstehen.

 

Die Frage der Legitimität ist interessant, denn auf den ersten Blick könnte man sagen, «Thiaroye» wäre vielleicht ein senegalesisches Thema, da es sich um ein koloniales Massaker handelt, das in der Nähe von Dakar stattfand, «Quais de Seine», das sich mit dem Massaker an algerischen Demonstranten in Paris befasst, ein Stoff für einen algerischen Autor, eine algerische Autorin. Im dritten Teil der Trilogie ,»Leere Diagonale» , kommt ein leicht abgewandeltes Zitat von Paul Celan vor: «für die Zeugen zeugen». Ist dieser Gedanke, für jemanden zu sprechen, der vielleicht nicht selbst sprechen kann, für dich eine Motivation beim Schreiben?

Ich denke nicht, dass ich für jemanden spreche. Ich denke, dass ich Geschichten trage, die mir anvertraut wurden. Ich weiß nicht, warum, aber seit Jahren erzählen mir die unterschiedlichsten Menschen ihre Lebensgeschichten und die ihrer Familien. Ich habe ständigen Zugang zu solchen Geschichten und Berichten. Und diese Geschichten haben mich sehr berührt. Ich weiß nicht genau warum, das ist nichts, was ich verstehen könnte. Das Zitat von Paul Celan habe ich erst entdeckt, als ich gerade den dritten Teil der Trilogie schrieb, und es hat mich beruhigt und mir Sicherheit gegeben, denn die Frage der Legitimität habe ich mir natürlich auch selbst gestellt. Der eigentliche Auslöser für die Trilogie war allerdings meine Einbürgerung in Frankreich. Bei der Zeremonie sagte man folgenden Satz zu mir: «Von diesem Moment an müssen Sie die Geschichte dieses Landes mit ihren glorreichen Momenten und ihren dunklen Ecken annehmen.» Meine erste Reaktion war nicht durchdacht oder reflektiert, sondern rein instinktiv. Ich sagte zu der Freundin, die mich begleitete: «Wie soll ich jetzt mit der Kolonisierung umgehen?» Und dann hatte ich viele Gespräche mit Freund*innen, mit Künstler*innen aus Rumänien oder aus anderen Ländern. Diejenigen, die keine koloniale Vergangenheit haben, sagten zu mir: «Warum nimmst du die Sprache und den Pass eines Landes an, das diese Vergangenheit hatte und durch seine Außenpolitik, seine internationalen Beziehungen immer noch weltweit Schaden anrichtet?» Und irgendwann erinnerte ich mich an eine Geschichte, die die mir einmal ein junges Mädchen bei einem Festival erzählt hat, als ich gerade erst in Frankreich angekommen war: die Geschichte von einem Paar, ein bisschen wie ein moderner Romeo und eine moderne Julia, die nicht zusammenleben können. Sie ist Pariserin, er ist Algerier. Sie können nicht zu ihren Herkunftsfamilien stehen. Ich hatte immer gedacht, das ist eine unglaubliche Geschichte, die mich berührt. Ich würde sie gerne erzählen, aber es ist nicht meine Aufgabe, sie zu erzählen. Also habe ich sie in den Jahren darauf mehreren algerischen Autor*innen weitererzählt und gesagt: «Hört mal, das ist ein tolles Thema. Schreibt darüber, wenn ihr wollt.» Und zehn Jahre später habe ich dann selbst diese Geschichte geschrieben, weil sie in der Zwischenzeit niemand schreiben wollte. Ich habe sie vor allem aufgeschrieben, weil sie mich verfolgt hat und weil es diese Aufforderung bei der Einbürgerungszeremonie gab. Und irgendwann habe ich mir gesagt, solange ich dazu stehe, dass es nicht meine Geschichte ist und dass ich in der Inszenierung auf die Bühne komme, um zu sagen, wer spricht und von welchem Ort aus ich spreche, habe ich die Legitimität, wie jeder Autor, wie jeder Künstler, jedes beliebige Thema zu behandeln. Ich behaupte nicht, dass ich die absolute Wahrheit besitze.

Probe zu «Points de non-retour (Quais de Seine)» (2021) von Alexandra Badea (Foto: Pascal Gély / Hans Lucas)

In den drei Texten der Trilogie gibt es stets eine Art Lösung für die behandelten Traumata. Schließlich entdecken die Figuren etwas, das ihnen hilft, über die Wunden der Vergangenheit hinwegzukommen. Schließlich gibt es eine Art Ereignis, eine Art kathartisches Bewusstsein, also etwas, das eigentlich sehr optimistisch ist. Als würdest du sagen: «Wenn wir uns wirklich mit unserer Vergangenheit beschäftigen, können wir die Lösung finden und wir können die Traumata auflösen. Vielleicht können wir nach vorne schauen.» Möchtest du, dass das so gelesen wird?

Ich gehe immer von individuellen Fällen aus. Ich habe viel über transgenerationale Psychotraumata gearbeitet und viel Literatur über transgenerationale Psychologie gelesen. Für «Quais de Seine» habe ich den Fall einer Frau ausgewählt, die in eine Depression verfällt. Sie entdeckt nach und nach, dass sie eine Geschichte mit sich herumträgt, die nicht zu ihr gehört, sondern ein Familiengeheimnis war, das wirklich das Leben mehrerer Personen in ihrer Familie, in ihrem Stammbaum, zerstört hat. Ich bin überzeugt davon, dass das häufig vorkommt. Ich selbst beschäftige mich eingehend mit meiner Abstammung und ich spüre, dass es Dinge gibt, die mich blockieren, die nicht zu mir gehören, die anderswo herkommen und die meistens auch aus der großen Weltgeschichte stammen, von den Orten, an denen die Weltgeschichte eingegriffen hat, wo sie Individuen gezwungen hat, Kompromisse einzugehen oder sich anzupassen. Ich spreche also von Individuen und nicht unbedingt von einer Gesellschaft, in der sich alles auf wundersame Weise auflöst.
Ich habe neulich mit einem Freund diskutiert, der sich mit dem Genozid in Ruanda beschäftigt und der gerade in Ruanda war. Er hat mir erzählt, die Leute dort schaffen es jetzt, zusammenzuleben. Also gibt es in dieser Gesellschaft eine Versöhnung. Natürlich ist das ein Wunder, aber sie schaffen es tatsächlich, eine andere Art von Gesellschaft aufzubauen. Und wie haben sie das geschafft? Indem sie über das, was passiert ist, sprechen und die Wahrheit darüber sagen, und indem sie eine enorme Erinnerungsarbeit leisten. In Deutschland gibt es viele Leute, die sagen: Schaut, Deutschland hat diese Erinnerungsarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet. Aber wir in Frankreich haben das etwas weniger getan, besonders in Bezug auf die Dekolonialisierung.  Das gibt es also ein Problem. Ich denke, ja, eine Gesellschaft kann friedlicher werden, wenn man anfängt, darüber zu sprechen. Natürlich wird das nicht in einem Jahr, zwei Jahren oder drei Jahren passieren. Vielleicht dauert es mehrere Generationen, aber ich denke, es ist wichtig, sich der Wahrheit zu stellen.

Alexandra Badea selbst auf der Bühne in ihrer Inszenierung von «Points de non-retour (Thiaroye)» (Foto: Pascale Gély)

A propos Generationen: In deine Stücke gehen oft auch sehr junge Leute. Wie sind die Reaktionen dieser jungen Franzosen und Französinnen? Das heißt, von der Generation, deren Eltern und Großeltern vielleicht diese Traumata erlebt haben.

Jedes Mal, wenn wir Schulklassen dahatten und danach diskutiert haben, habe ich nie einen Widerstand bei den Jugendlichen gespürt, im Gegenteil. Es gab viel Interesse, weil man in Frankreich sowieso viel über postcolonial studies spricht. Inzwischen gibt es viele Gymnasiallehrer*innen, die Geschichte anders unterrichten. Das hängt von der Schule, den Lehrerenden und so weiter ab. Aber sagen wir mal so: Bei den Jugendlichen habe ich nie Widerstand oder Verurteilung gespürt. Im Gegenteil, ich habe eine Beruhigung gespürt, und viel Lust daran, zu diskutieren und sich auszutauschen und diese Themen zu vertiefen. In der Generation der, sagen wir, 60-Jährigen, also der Babyboomer, ist das Thema nicht besonders beliebt. Bei aller Offenheit, bei allem Wohlwollen, kommt doch immer wieder ein ironisches Lächeln oder etwas wie «ja, aber gut, das war nicht wirklich so». Natürlich leugnet niemand historische Ereignisse, aber ich spüre einen Widerstand, ich spüre ein Unbehagen, nicht bei jedem, aber es gibt trotzdem Stellen, an denen ich spüre, dass da etwas nicht gelöst ist. Man kann nicht sagen, dass die Trilogie beim Publikum wirklich gut ankommt.

 

Als Autorin hast du von Anfang an auf Französisch geschrieben und nicht in deiner Muttersprache Rumänisch. Vor ungefähr zehn Jahren habe ich dich mal gefragt, warum das so ist, und du sagtest, dass du niemals auf Rumänisch schreiben würdest. Das ist schon sehr lange her und seitdem haben sich die Dinge geändert. Jetzt schreibst du Stücke auf Rumänisch für ein rumänisches Publikum und hast gerade eine große Inszenierung in einem rumänischen Theater gemacht. Nach dem Wenigen, was ich darüber lesen konnte, sind das auch Texte über kollektive Traumata in Rumänien. Ist das intimer und näher für dich, als über Frankreich zu schreiben, oder ist dir das gleich nah?

Das ist alles noch sehr frisch. Ich habe erst vor ein paar Jahren angefangen, auf Rumänisch zu schreiben. Erst vor sehr kurzer Zeit. Ich glaube, es ist noch nicht mal fünf Jahre her. Und es war, es ist schwierig für mich, auf Rumänisch zu schreiben, egal, was ich schreibe. Selbst bei einem Interview würde ich lieber auf Französisch als auf Rumänisch antworten. Warum ist das so? Weil ich in der Schule durch das Lernsystem Traumata erlitten habe. Ich war zehn Jahre alt, als das diktatorische Regime gestürzt wurde. Auch wenn sich das Bildungssystem jetzt ändert – aber es hat sich sehr, sehr langsam geändert – so ist es doch ein Bildungssystem, das dich lehrt, Dinge auswendig zu lernen, die von anderen Leuten geschrieben wurden, die ein bestimmtes Denken bestätigen und untermauern. Ich hatte also das Gefühl, dass ich gezwungen wurde, Gedanken zu schlucken, die mir nicht gehörten, und sie wiederzugeben. Und das führte zu einer Art Sprachblockade. Und später in Frankreich bin ich quasi langsam wieder auf die Beine gekommen und habe dort eine gewisse Freiheit wiedergefunden. Das ist eine sehr intime Sache. Ich bin relativ jung gekommen. Ich war einundzwanzig Jahre alt, als ich in Paris ankam, also sagen wir, dass ich meine heutige Identität auf Französisch entwickelt habe, und heute kann ich auf Französisch tiefer in meine Gedanken und mein Innerstes eindringen als auf Rumänisch. Ich spreche immer noch perfekt Rumänisch, ich habe nichts verlernt, aber auf Rumänisch habe ich weniger Feinheiten zur Verfügung.
Was die Themen angeht, so hat der letzte Text, den ich in Bukarest geschrieben habe, meine Beziehung zu Rumänien sehr, sehr beruhigt. Die drei Monate, die ich dort verbracht habe, um diese Produktion zu entwickeln, waren wichtig, aber der Text war für mich schwierig, denn es ist auch der Text, der am meisten von mir selbst spricht, von meiner Beziehung zu Rumänien, von einer bestimmten Form von Erziehung, von Blockaden, die von meiner Familie oder auch von der rumänischen Gesellschaft ausgehen. Und obwohl es Fiktion ist, ist es fast eine Autobiografie, also etwas, das mir sehr schwerfiel.
Seit diesem Text auf Rumänisch habe ich seit fast zwei Jahren nicht mehr geschrieben. Es ist das erste Mal, dass ich eine so große Schreibpause mache. Ich habe viel Regie geführt, ich habe Drehbücher geschrieben, aber das ist nicht dieselbe Art des Schreibens. Und jetzt habe ich tatsächlich eine Idee für einen Roman, den ich beginnen möchte. Es wird auf Französisch sein. Auf Rumänisch zu schreiben, ist die Ausnahme und passiert nur, wenn man mir ein Projekt vorschlägt, wenn man mich bittet, eine Inszenierung zu machen. Ich würde mich nie spontan entscheiden, in dieser Sprache zu schreiben

 

Probe zu «Points de non-retour (Diagonale du Vide)» (2021) von Alexandra Badea (Foto: Pascal Gély / Hans Lucas)

Deine Texte werden viel gespielt und in viele verschiedene Sprachen, in viele verschiedene Kontexte übersetzt. Ich erinnere mich an die Diskussion, die wir über die Veröffentlichung der Trilogie auf Deutsch hatten. Annette Reschke, unsere Lektorin vom Verlag der Autoren und ich hatten darüber nachgedacht, ob wir den Tonfall in einigen Passagen nicht ein wenig ändern sollten, weil er zu emotional, zu blumig war. Wir fanden, dass der Text vielleicht ein bisschen zu viel Pathos enthielt, was im Französischen gut funktionierte, im Deutschen aber dazu führen konnte, dass er stellenweise nicht ernst genommen würde. Daher wollten wir an manchen Stellen ein paar allzu explizite Sätze wegnehmen und an anderen Stellen die Sprache neutraler, weniger emotional machen. Und zu meiner Überraschung war das für dich überhaupt kein Problem, als ich dich darauf ansprach. Du hast sogar selbst Kürzungen vorgeschlagen. Kommt das daher, dass du es ohnehin gewohnt bist, in sehr unterschiedlichen Kontexten zu arbeiten oder in unterschiedlichen Kontexten rezipiert zu werden, oder ist das eher eine Sache, die vom Theater kommt? Du inszenierst auch deine eigenen Texte, und dann wird ein Text, den du geschrieben hast, zu einer Art Material, das man weiterverarbeiten kann.

Ich denke, es ist ein bisschen von beidem. Schließlich hatten eure Striche und Änderungen keine Auswirkungen auf mein Denken und auch nicht auf die Sprache selbst, sonst hätte ich sie nicht akzeptiert. Ich hätte nicht akzeptiert, anders zu schreiben oder einen Gedanken zu verwässern. Allerdings ist für mich selbst der Akt, der Moment des Schreibens am interessantesten. Mich interessiert, dass ich es geschafft habe, den Text zu schreiben, als ich ihn auf Französisch schreiben wollte, und dass er existiert und veröffentlicht wird, auch wenn ich selbst als Regisseurin Kürzungen vorgenommen habe, weil die Bühne viel stärker und grausamer ist und ihre eigenen Regeln durchsetzt. Aber sobald der Text, dieser Prozess, für mich abgeschlossen ist, fühle ich mich weniger von den Übersetzungen betroffen, da ich den Übersetzer*innen, mit denen ich arbeite, vertraue. Na gut, vielleicht hätte ich einem Übersetzer, den ich gerade erst kennengelernt habe, nicht in dem Maße vertraut wie dir – und ich denke, dass es für mich fast unmöglich gewesen wäre, mich selbst ins Rumänische zu übersetzen. Das schmerzt mich wirklich. Und ich denke, mit dem Deutschen ist es die gleiche Problematik. Das Besondere an der französischen Sprache ist aus meiner Sicht, dass der Unterschied zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache nicht sehr groß ist. In Frankreich wird sogar im Alltag sehr vieles auf eine etwas poetische, literarische Weise ausgedrückt, ohne dass es besonders auffallen würde. Das ist etwas, das mir sehr liegt. Vielleicht habe ich deshalb beschlossen, auf Französisch zu schreiben und in Frankreich zu leben, weil diese Art, ein wenig literarisch zu sprechen und sich im Alltag mit einer gewissen Poesie zu umgeben, sehr gut zu meiner Persönlichkeit passt, während es auf Rumänisch, und ich nehme an, auch auf Deutsch, anders ist – aber ich spreche kein Deutsch. Selbst wenn ich direkt auf Rumänisch schreibe und nicht aus dem Französischen übersetze, tendiere ich eher zu einer poetischeren Sprache, die man im Alltag nicht verwenden würde.
Übrigens ist das auch der Grund, warum französisches Theater in Rumänien so wenig gespielt wird. Ich frage ich mich, ob die Trilogie für jemanden in Rumänien interessant sein könnte. Schon der Kolonialismus. Darüber sprechen wir dort nicht. Diese Themen sind so weit von der Realität des rumänischen Publikums entfernt. Die Sprache selbst wäre sehr schwer zu übersetzen, aber in den anderen Sprachen, die ich nicht beherrsche, vertraue ich den Verlagen und den Übersetzer*innen. Außerdem ist eine Übersetzung für mich sowieso eine Neuschöpfung, sodass mir der Text dann fast nicht mehr gehört. Es steht mein Name drauf, ich sage das nicht, weil du es bist, aber es ist genauso dein wie mein Werk. Ich akzeptiere, dass das fast eine Co-Autorenschaft ist, über die ich keine Kontrolle mehr habe.

 

Vielen Dank für dein Vertrauen und für das Gespräch.

 

«Aus dem Schatten», die deutsche Übersetzung von «Points de non-retour» (aus dem Französischen von Frank Weigand) erschien am 19. Oktober 2022 im Verlag der Autoren.

Den Mitschnitt eines längeren Gesprächs mit Leyla-Claire Rabih, Alexandra Badea und Frank Weigand an der Universität Mannheim über die Trilogie, den Umgang mit dokumentarischem Material und die Schwierigkeit der Übersetzung, können Sie hier ansehen.

Die Autorin und Regiesseurin Alexandra Badea (Foto: Richard Schroeder)

Alexandra Badea, 1980 in Rumänien geboren, ist Autorin, Regisseurin und Bühnenbildnerin. In Bukarest begann sie ein Theaterstudium, das sie in Paris beendete, wo sie seit 2003 lebt. Ihre Stücke sind in französischer Sprache vielfach inszeniert und bei L’Arche Éditeur veröffentlicht worden. Neben Theaterstücken hat sie auch einen Roman («Zone d’amour prioritaire», 2013), Hörspiele und mehrere Kurzfilme geschrieben. Für ihr Stück «Zersplittert» erhielt sie 2013 den Grand Prix de Littérature Dramatique. «Quais de Seine», der zweite Teil ihrer Trilogie «Points de non-retour», wurde 2019 beim Festival d’Avignon uraufgeführt, in Kooperation mit dem Pariser Théâtre national de la Colline. Alexandra Badeas Schreiben entfaltet das Allgemeine im Individuellen und verleiht denjenigen Sprache, die nicht gehört werden.

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