Frank Weigand: Wenn man sich die knapp 30 Stücke, die du bisher geschrieben hast, anschaut, stelle ich eine Entwicklung fest. Deine früheren Texte befassen sich stark mit dem Tagesgeschehen, also mit ziemlich unmittelbaren Dingen. Es geht um die alltägliche Realität der Globalisierung, die Auswirkungen des Kapitalismus in der Arbeitswelt und in intimen Beziehungen, also um etwas, das die Menschen direkt betrifft. In den neueren Texten, also in der Trilogie «Points de non-retour» (auf Deutsch «Aus dem Schatten»), geht es dagegen viel mehr um einen Blick in die Vergangenheit. Du schreibst darin über ein Kolonialmassaker aus dem Jahr 1944 im Senegal («Thiaroye»), die Ermordung algerischer Demonstranten 1961 in Paris («Quais de Seine») und die Zwangsumsiedlung Tausender Kinder aus La Réunion in strukturschwache Gebiete in Kontinentalfrankreich bis in die 1980er Jahre («Leere Diagonale»). Wie lässt sich dieser Perspektivenwechsel erklären?
Alexandra Badea: Für mich gehört diese Vergangenheit untrennbar zu der gegenwärtigen Gesellschaft in Frankreich und ihren Bruchstellen. 2015, als die Terroranschläge in Paris geschahen, habe ich angefangen, darüber nachzudenken. Damals war ich in einer Schreibresidenz in Berlin und habe daher den Schock weniger unmittelbar erlebt. Die Bars, in denen Menschen erschossen wurden, waren Bars in meinem Viertel, also hätte ich das alles vermutlich auf eine instinktivere und viel intimere Art und Weise erlebt, wenn ich in Paris gewesen wäre. Dann wäre ich zu dieser Art von Reflexion nicht in der Lage gewesen. Aber da ich nicht vor Ort war, hatte ich eher das Bedürfnis, zu verstehen als zu fühlen und habe keinen Prozess des Traumas oder der Angst durchlaufen. Ich habe damals alles gelesen, was französische Philosoph*innen, Soziolog*innen und Historiker*innen zu dem Thema zu sagen hatten. Sie stellten sich die Frage: Was haben wir getan? Wie erklären wir uns, dass es so weit kommt, dass Franzosen zu den Waffen greifen und andere Franzosen töten? Ein Philosoph, leider habe ich seinen Namen vergessen, schrieb, dass wir vielleicht nicht genug an den fehlenden Erzählungen gearbeitet haben. Und mit den fehlenden Erzählungen meinte er die koloniale Vergangenheit und die postkoloniale Vergangenheit. Das war also einer der Auslöser für mich. Ich hatte ursprünglich nicht vor, ein Theaterstück daraus zu machen, aber die Kolonialisierung war etwas, das mich schon immer fasziniert hat, allerdings eher als Leserin und als Bürgerin. Ich hatte die Gelegenheit, mit afrikanischen Künstler*innen zusammenzuarbeiten oder mit Künstler*innen, die viel in Afrika sind, und außerdem bin ich selbst viel gereist. Das Thema Kolonialismus beschäftigte mich schon lange, aber ich fühlte mich nicht legitimiert, darüber zu schreiben, und ich empfand keine Dringlichkeit. Als die Attentate stattfanden, wurde diese Sache für mich wieder dringlich. Ich spreche über die Vergangenheit, um die Gegenwart besser zu verstehen.
Die Frage der Legitimität ist interessant, denn auf den ersten Blick könnte man sagen, «Thiaroye» wäre vielleicht ein senegalesisches Thema, da es sich um ein koloniales Massaker handelt, das in der Nähe von Dakar stattfand, «Quais de Seine», das sich mit dem Massaker an algerischen Demonstranten in Paris befasst, ein Stoff für einen algerischen Autor, eine algerische Autorin. Im dritten Teil der Trilogie ,»Leere Diagonale» , kommt ein leicht abgewandeltes Zitat von Paul Celan vor: «für die Zeugen zeugen». Ist dieser Gedanke, für jemanden zu sprechen, der vielleicht nicht selbst sprechen kann, für dich eine Motivation beim Schreiben?
Ich denke nicht, dass ich für jemanden spreche. Ich denke, dass ich Geschichten trage, die mir anvertraut wurden. Ich weiß nicht, warum, aber seit Jahren erzählen mir die unterschiedlichsten Menschen ihre Lebensgeschichten und die ihrer Familien. Ich habe ständigen Zugang zu solchen Geschichten und Berichten. Und diese Geschichten haben mich sehr berührt. Ich weiß nicht genau warum, das ist nichts, was ich verstehen könnte. Das Zitat von Paul Celan habe ich erst entdeckt, als ich gerade den dritten Teil der Trilogie schrieb, und es hat mich beruhigt und mir Sicherheit gegeben, denn die Frage der Legitimität habe ich mir natürlich auch selbst gestellt. Der eigentliche Auslöser für die Trilogie war allerdings meine Einbürgerung in Frankreich. Bei der Zeremonie sagte man folgenden Satz zu mir: «Von diesem Moment an müssen Sie die Geschichte dieses Landes mit ihren glorreichen Momenten und ihren dunklen Ecken annehmen.» Meine erste Reaktion war nicht durchdacht oder reflektiert, sondern rein instinktiv. Ich sagte zu der Freundin, die mich begleitete: «Wie soll ich jetzt mit der Kolonisierung umgehen?» Und dann hatte ich viele Gespräche mit Freund*innen, mit Künstler*innen aus Rumänien oder aus anderen Ländern. Diejenigen, die keine koloniale Vergangenheit haben, sagten zu mir: «Warum nimmst du die Sprache und den Pass eines Landes an, das diese Vergangenheit hatte und durch seine Außenpolitik, seine internationalen Beziehungen immer noch weltweit Schaden anrichtet?» Und irgendwann erinnerte ich mich an eine Geschichte, die die mir einmal ein junges Mädchen bei einem Festival erzählt hat, als ich gerade erst in Frankreich angekommen war: die Geschichte von einem Paar, ein bisschen wie ein moderner Romeo und eine moderne Julia, die nicht zusammenleben können. Sie ist Pariserin, er ist Algerier. Sie können nicht zu ihren Herkunftsfamilien stehen. Ich hatte immer gedacht, das ist eine unglaubliche Geschichte, die mich berührt. Ich würde sie gerne erzählen, aber es ist nicht meine Aufgabe, sie zu erzählen. Also habe ich sie in den Jahren darauf mehreren algerischen Autor*innen weitererzählt und gesagt: «Hört mal, das ist ein tolles Thema. Schreibt darüber, wenn ihr wollt.» Und zehn Jahre später habe ich dann selbst diese Geschichte geschrieben, weil sie in der Zwischenzeit niemand schreiben wollte. Ich habe sie vor allem aufgeschrieben, weil sie mich verfolgt hat und weil es diese Aufforderung bei der Einbürgerungszeremonie gab. Und irgendwann habe ich mir gesagt, solange ich dazu stehe, dass es nicht meine Geschichte ist und dass ich in der Inszenierung auf die Bühne komme, um zu sagen, wer spricht und von welchem Ort aus ich spreche, habe ich die Legitimität, wie jeder Autor, wie jeder Künstler, jedes beliebige Thema zu behandeln. Ich behaupte nicht, dass ich die absolute Wahrheit besitze.
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