Machtpositionen umdrehen
Als Stimme aus der Theater- und Filmpraxis wurde die Schauspielerin, Regisseurin und Autorin Lara-Sophie Milagro eingeladen, um eine performative oder eher persönliche Keynote zu halten. Sie stieg mit einer Erzählung über ihre fünfjährige Tochter ein, die in der Schule folgende Aufgabe erhielt: «Bring something that represents your cultural heritage». Milagros Tochter allerdings hat mehrere kulturelle Identitäten – muss sie sich also für eine entscheiden? Für wen? Und überhaupt, ist kulturelle Identität wirklich die richtige Übersetzung für «heritage»? Wäre eine bessere Formulierung der Aufgabenstellung nicht gewesen: «Bring something that represents yourself»? «Nationalität» und «ethnisch» werden schnell zu Synonymen für «kulturell», dabei haben «die Begriffe eine völlig unterschiedliche Bedeutung! Die Frage ist auch immer: Auf wen werden sie angewendet?», fragte Milagro.
In der Theaterkunst kommen beim Thema Identitäten noch weitere Ebenen hinzu: Vom Bühnenbild über Maske und Kostüm bis hin zur Entscheidung, wer welche Rolle spielen darf. Eine Schwarze Person spielt im deutschsprachigen Theater in den seltensten Fällen eine Rolle, in der sie sich in einer Alltagssituation befindet. Sie ist entweder auf der Flucht oder eine übertrieben dankbare Nebenrolle, ihr wird Gewalt angetan, ihre Diskriminierungsgeschichte erzählt, oder sie stirbt am Ende. Die Liste ist endlos. Milagro nannte drei Bereiche, die in ihrem Berufsleben stets eine entscheidende Rolle spielen: Sprache, Besetzungspolitiken sowie die Darstellung von Diskriminierung.
«Im deutschen Theater und Film gibt es eine lange Tradition, Rassismus durch Reinszenierung auf der Bühne sichtbar zu machen. Allerdings ist auch das eine Form der Reproduktion, auch wenn es eine fiktive Welt ist, die da gezeigt werden soll. So ist es eine Wiederholung verletzender Bilder, in denen (meist in bester Absicht) Stereotype gefestigt werden», konstatierte Milagro. Das Ganze geht oft mit einer Genderdimension einher, «indem die geschundene Frau nur reagieren kann, während der weiße Mann agiert, indem er komplexe Situationen durchläuft und sich gerne auch zum white savior («weißen Retter») entwickelt.» Dadurch wird Intersektionalität (Mehrfachdiskriminierung) auf fatale Weise zu etwas Selbstverständlichen gemacht.
Dass Themen wie Rassismus im Theater auch anders erzählt werden können, beschrieb Milagro eindrucksvoll anhand ihres aktuellen Projekts «Emmett, tief in meinem Herzen» von Clare Coss (Premiere am 24.01.2022 im HAU Berlin), an dem sie als Produzentin, Schauspielerin und Regisseurin beteiligt ist. Der rassistische Lynchmord an dem 14-jährigen Emmett Till (1955) spielte eine zentrale Rolle für das Entstehen der Bürgerrechtsbewegung in den USA. Das Team entschied gemeinsam, alle Rollen mit Schwarzen Schauspieler:innen zu besetzen – selbst die weißen Figuren. Somit wird das Publikum mit den Kernfragen von Rassismus konfrontiert, ohne rassistische Gewalt reproduziert zu sehen. Durch eine rein Schwarze Besetzung und dem damit einhergehenden Perspektivwechsel wird zum einen die Selbstermächtigung der Schwarzen Schauspieler:innen ermöglicht, für die Rassismus auch abseits der Theaterbühne zur Lebensrealität gehört, und zum anderen werden Machtpositionen umgedreht, in dem das «weiß-Sein aus einer Schwarzen Perspektive heraus übersetzt wird», so Milagro. Ein zweiter wichtiger Aspekt des Projekts, das ein Hybrid aus Theater und Film werden soll, ist, dass alle Schlüsselpositionen, wie Text und Regie von Schwarzen Frauen besetzt wurden. Das Konzept zu «Emmett, tief in meinem Herzen» ist ein künstlerisch interessanter, kluger Kniff, der zu der Frage führt, wer sollte über wen sprechen und welche Perspektiven fehlen? Diese Frage klang auch im dritten Teil der Tagung an und wurde anhand der hitzigen Debatte um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht «The Hill We Climb», welches die junge Lyrikerin bei der Amtseinführung Joe Bidens Anfang des Jahres vortrug, beispielhaft in Erinnerung gerufen.
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