Paula Perschke Hinterfragen und Vermitteln – Der 3. Tag des Online-Symposiums zur Theaterübersetzung Primeurs PLUS
Am dritten und letzten Tag des Online-Symposiums zur Theaterübersetzung war es an der Zeit, Bilanz zu ziehen und sich noch einmal vor Augen zu führen, warum es den steten Dialog zwischen Theaterschaffenden und Übersetzer:innen dringend braucht.
Wegen des krankheitsbedingten Ausfalls der Keynote des Dramatikers Mehdi Moradpour musste kurzfristig umdisponiert werden. Für alle Interessierten wurde eine Aufzeichnung des umfangreichen und wichtigen Vortrags «Übersetzungen diverser Identitäten von Theater» von Lara-Sophie Milagro eingespielt, der bereits am zweiten Tag des Symposiums einen wesentlichen Beitrag zur Debatte um Diversität und die Dekonstruktionen kolonialer Sehgewohnheiten geleistet hatte. Alle Teilnehmenden, die den Vortrag schon gehört hatten, konnten sich in Break-out-Rooms zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Austausch treffen. Eine gute Lösung, denn trotz der gut strukturieren Organisation der Tagung kamen die angekündigten «Get-togethers» leider etwas zu kurz. In einer Break-out-Session meldete sich Charlotte Stolz zu Wort. Stolz ist bei der Stiftung Genshagen im Bereich der Kunst- und Kulturvermittlung in Europa tätig. Sie ist Projektleiterin und u. a. für den deutsch-französischen Franz-Hessel-Preis zuständig. Stolz sprach über die Planung einer Übersetzungswerkstatt in der Stiftung Genshagen (Brandenburg) für Autor:innen und Übersetzer:innen aus Frankreich, Polen und Deutschland mit dem Ziel des Informationstransfers und der Vernetzung. In einem anderen Raum stand Annette Bühler-Dietrich zum Gespräch zur Verfügung. Die Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin hatte am Vortag über die Herausforderung gesprochen, mit den kulturellen und sprachlichen Eigenheiten zeitgenössischer Dramatik aus Benin und Burkina Faso umzugehen.
Eigene Strukturen schaffen
Wie lässt sich Theater dekolonisieren? Wo sollen wir bloß damit anfangen? In der Theaterwissenschaft oder in der Praxis? In der Übersetzung? Bei den Übersetzer:innen selbst? Eine mögliche Lösung soll hier vorweggenommen werden: Wenn sich Theater überhaupt dekolonisieren lässt, so muss dies auf allen Ebenen parallel geschehen. Dekolonisierung ist eine Handlungsaufforderung. Eine Aufforderung zum Zuhören, zum Platzmachen und zum Loslassen – die Zeit, Geduld und ein hohes Maß an (Selbst-)Reflexion erfordert.
Das erste Wort des zweiten Podiums mit dem Titel «Theater, dekolonial» hatte die französische Regisseurin und Autorin Eva Doumbia. Mit ihrer Theaterkompanie «La Part du Pauvre» bringt sie seit 2000 Stücke und Roman-Adaptionen auf die Bühne. Da sie während des Podiums selbst nicht live dabei sein konnte, wurde ein vorab aufgezeichnetes Gespräch mit der Moderatorin des Panels, Christiane Dietrich, eingespielt. Dietrich ist Doktorandin an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken und beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der Rolle von Migrantinnen und Migranten in partizipativen Theaterproduktionen in Deutschland und Frankreich.
Im Gespräch fragte sich Eva Doumbia zunächst, ob es Theater als Kunstform tatsächlich braucht oder ob man nicht ganz darauf verzichten könne. Die Antwort, die sie selbst gab, lautete: Nein, denn «Geschichten müssen vor allem gehört werden». Theater sei kollektives Hören, und gerade die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass es den Menschen wichtig ist, gemeinsam an etwas teilzunehmen.
Doch was braucht es für ein «dekolonialisiertes Theater»? Für Doumbia, die sich selbst als Afroeuropäerin (oder: Afropäerin) bezeichnet, ist das keine leicht zu beantwortende Frage. Lange habe sie an der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität gearbeitet – ihre Wurzeln liegen in Mali, Frankreich und an der Elfenbeinküste. Lange habe sie gebraucht, um zu verstehen, dass das Problem nicht sie selbst sei, sondern das zutiefst rassistische System innerhalb der französischen Gesellschaft. Dieser Prozess sei schmerzhaft gewesen. Doumbia suchte nach Worten und Geschichten, die im Theater sonst nicht erzählt werden. Sie will Ereignissen einen Namen geben und an Menschen erinnern, die gestorben sind. Da sie selbst in der ehemals besetzten Normandie aufgewachsen ist, beschäftigt sie sich intensiv mit dem zweiten Weltkrieg.
Ihr Stück «Drissa» (im Original «Le Iench») wurde in Deutschland und Frankreich bisher als szenische Lesung und Hörspiel präsentiert. Es erzählt die Geschichte einer Familie, die in einer französischen Kleinstadt lebt und ist in der deutschen Übersetzung von Akilah Silke Güç in der Anthologie «Afropäerinnen. Theatertexte aus Frankreich und Belgien» (Neofelis Verlag) erschienen, welche von Lisa Wegener und Charlotte Bomy herausgegeben und beim gestrigen Symposiumstag vorgestellt wurde. Im Rahmen des Festivals Primeurs wird «Drissa» ebenfalls präsentiert. Sprache spielt in Doumbias Werk eine große Rolle, es gehe der Autorin vor allem darum, dass auch innerhalb Frankreichs viele Varianten des Französischen koexistieren. Im Französischen gibt es beispielsweise das «Verlan», eine Jugend- oder Spielsprache, in der Silben umgekehrt werden. Verlan bedeutet so viel wie «die Umkehrung» und kommt von «L’envers» – umgekehrt.
Doumbia erwähnte am Ende, dass Frankreich sehr kompliziert sei. «Ein Land, das seine eigene Geschichte nicht akzeptiert». Es gebe dort nur wenige Theaterstücke, die von Schwarzen Frauen geschaffen in wurden, Doumbia selbst wurde nahegelegt, dass besser eine weiße Person ihre Texte inszenieren sollte. Es geht also um die Angst, dass über etwas gesprochen wird, das man nicht wahrhaben will, obwohl (oder gerade weil) man selbst davon betroffen ist oder zumindest einen Anteil daran hat. Eva Doumbia ist sich sicher, dass wir genau deshalb dringend über strukturellen Rassismus sprechen müssen.
Einen ganz ähnlichen, doch eher theoretischen Ansatz vertritt Lisa Skwirblies, die im zweiten Teil des Panels über ihr wissenschaftliches Buchprojekt mit der Theaterwissenschaftlerin Azadeh Sharifi «Theaterwissenschaft postkolonial/dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme» sprach, welches im April 2022 im transcript Verlag veröffentlicht werden soll. Skwirblies ist Postdoc am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht zur Verbindung von deutscher Kolonial- und Theatergeschichte sowie zu dekolonialen Methodologien für die Theaterhistoriographie.
Ihr Ziel ist es, Theatergeschichte aufzuarbeiten. Dies sei dringend nötig, wurde vor wenigen Jahren aber noch nicht allzu gern gesehen. 2012 wurde der Wissenschaftlerin noch davon abgeraten, ihr Vorhaben umzusetzen. Fördermittel gab es in Deutschland keine, also musste sie zunächst zum Forschen nach England gehen. Heute scheint das Thema (glücklicherweise) größeren Anklang zu finden.
Was können postkoloniale Theorien für die deutschsprachige Theaterwissenschaft bedeuten? Ist die Dekolonisierung eines multidisziplinären geisteswissenschaftlichen Fachgebiets, wie dem der Theaterwissenschaft in Europa, überhaupt möglich? Für diese Frage bräuchte es möglicherweise ein eigenes Symposium.
Fakt ist, so Skwirblies, dass gerade von jüngeren Studierenden und Kulturschaffenden dekoloniale Theorien und intersektionale Perspektiven gefordert werden, und das sei auch gut so, schließlich werden aus den Studierenden später Dramaturg:innen, Kurator:innen, Fördergeber:innen, Journalist:innen und vieles mehr. Wichtig ist, zu verstehen (und anzuerkennen), dass Theatergeschichte ihre Ursprünge nicht nur im antiken Griechenland hat, sondern, dass wie in jeder anderen Form von Geschichte auch, von Wissenschaftler:innen und Rezipient:innen eine Polyfonie innerhalb der Geschichtsschreibung angestrebt werden sollte. Kurz: Es gibt nicht DIE Geschichte, es existiert eine Vielzahl von Geschichten, Perspektiven, Entwicklungen und dementsprechend auch Erkenntnissen.
In ihrem Buch will Skwirblies BIPoC-Theaterkünstler:innen der Wissenschaft gegenüberstellen, mit der Frage, was diese von den Theaterwissenschaften brauchen. Mit dabei sind Theaterschaffende wie Simone Dede Ayivi oder auch aktivistische Bündnisse wie die ISD – Initiative Schwarze Menschen in Deutschland oder Bühnenwatch.
Skwirblies erwähnte kritisch, dass es in Deutschland nicht eine einzige Schwarze Professorin für Theaterwissenschaft gibt. Auch bei der Besetzung der Intendant:innenpositionen sieht es diesbezüglich nicht besser aus. (Und nein, dass Julia Wissert das Theater Dortmund leitet, reicht nicht!) Somit seien laut Skwirblies, die Universitäten und auch die Theater aufgefordert, Verantwortung zu übernehmen und neue Strukturen zu etablieren.
Anette Bühler-Dietrich merkte in der offenen Teilnehmer:innenrunde an, dass in der DDR leichter über Kolonialismus gesprochen werden konnte. Sie erwähnt außerdem wichtige Schwarze Denker:innen wie Felwine Sarr und Achille Mbembe. Oft fehlt es allerdings an guten Übersetzungen. So wurden etwa die Werke von Frantz Fanon bislang immer noch nicht vollständig ins Deutsche übersetzt. Dies wiederum habe mit Verlagspraxis zu tun, merkte Bühler Dietrich an. Wieder sind es die Strukturen. Das gibt zu denken.
Mut zur Unverständlichkeit
Im dritten Teil des Tages fand ein offenes Gespräch über «Mehrsprachigkeit im Theater» mit der Übersetzerin Yvonne Griesel und Julie Paucker (Leiterin Schweizer Theatertreffen) statt, welches von Juliette Ronceray (Theater Le Carreau) moderiert wurde. Yvonne Griesel arbeitet als Dolmetscherin für Russisch und Französisch und schrieb ihre Doktorarbeit zum Thema «Übertitelung im Theater». Später war sie bei dem Festival unidram in Potsdam tätig und gründete ihre eigene Agentur SprachSpiel. Julie Paucker ist Dramaturgin, Autorin, Dozentin und Künstlerische Leiterin des Schweizer Theatertreffens. Sie ist außerdem Co-Leiterin der KULA Compagnie, einer Plattform für transnationales Theater.
Wie kann man Mehrsprachigkeit in den theatralen Prozess bringen? Diese Frage beschäftigte das Podium. Paucker betonte die Besonderheit der Schweiz, in der es einen sprachaffineren Echoraum gibt und in der die Mehrsprachigkeit offiziell anerkannt ist. Im Gegensatz zu Deutschland, wo zahlreiche verschiedene Sprachen gesprochen werden, aber nur eine Landessprache anerkannt wird. In der Schweiz sind die Menschen also viele Sprachen gewohnt, «jeder Joghurtbecher ist dreisprachig, im Theater ist das trotzdem eher selten, was viel mit Strukturen und Sprechtraditionen zu tun hat. Dennoch ist der Theaterbegriff heute offener und bietet Raum für Mehrsprachigkeit», ließ Paucker anklingen. Sie merkte an, dass das Schweizer Theatertreffen ein Modellprojekt für Mehrsprachigkeit sein könne, da schon allein dessen Struktur viele Menschen unterschiedlicher Sprachen an einen Tisch bringe. Es sind mal wieder – Überraschung – die Strukturen.
Schließlich kam die Frage auf, für wen Übersetzungen und Übertitelungen eigentlich gemacht werden und ob es überhaupt nötig ist, alles zu übersetzen. Sollte es der Anspruch sein, dass das Publikum alles versteht? Findet Rezeption im Theater nicht auf vielen anderen Wegen statt und funktioniert vor allem über Erfahrung, theatrale Zeichensysteme und Sinneseindrücke? Griesel bejahte und merkte an, dass theatrale Vorgänge komplex seien und «Sprache nur ein Teil davon ist.»
Etwas nicht zu verstehen, kann laut Paucker eine kreative Kraft haben. Das mag sein, allerdings ist es wichtig, festzustellen, dass für blinde und gehörlose Menschen momentan wenige bis gar keine Angebote für ein adäquates Verständnis gemacht werden. Wie Vieles im Theater ist also der Diskurs um die Polyfonie ein Prozess, der vor allem durch Ausprobieren neue Wege des Verstehens ebnet. Dies stellt das In-den-Raum-Bringen einer Übersetzung vor neue Herausforderungen. Mit einer gängigen Schulsprache funktioniert die Übersetzung laut Paucker sogar, «wenn manche Teile ausgelassen werden», oder auch, wenn ein «Rückgriff auf die Kenntnis einen literarischen Kanon gegeben ist, wie etwa bei einem Stück von Goethe. Neue Dramatik hat es da hingegen schwer.» Paucker zeigte sich jedoch zuversichtlich und bemerkte, dass eine gute Einbettung wichtig sei. «Einfach etwas weglassen funktioniert nie, auf die Kontextualisierung kommt es an.»
Nun denken wir abschließend bitte noch einmal an die Dekolonisierung des Theaters: Wäre es nicht wünschenswert, nicht nur mehrere Sprachen, sondern auch eine Vielzahl von Kanons im deutschsprachigen Theaterbetrieb zu etablieren? Die Herausforderungen an die Neue Dramatik würden dadurch nicht geringer, doch Geschichten und ihre Inszenierungen könnten interessanter werden!
Vermittlungsarbeit anerkennen
Im letzten und leider etwas zu kurz gekommenen Teil der Tagung ging es um das Thema Vermittlungsarbeit. Auf dem Podium fanden sich Nina Thielicke und Laurent Muhleisen mit Yvonne Griesel zusammen. Geleitet wurde das Gespräch von der Symposiums-Mitorganisatorin und Übersetzerin Corinna Popp.
Nina Thielicke ist Übersetzerin und Kuratorin und leitet das Projekt «Echt absolut – Literarisches Übersetzen mit Jugendlichen» – eine gemeinsame Initiative des Literarischen Colloquiums Berlin und dem Deutschen Übersetzerfonds.
Laurent Muhleisen übersetzt aus dem Deutschen und ist spezialisiert auf Gegenwartsdramatik. Er ist Künstlerischer Leiter der Maison Antoine Vitez, dem Zentrum für internationale Theaterübersetzung in Paris.
Muhleisen erzählte, dass die Maison Antoine Vitez sich Anfang der 1990er-Jahre gegründet hatte, um mehr Sichtbarkeit für Übersetzer:innen zu erreichen. Er erinnerte daran, dass alles, was wir im deutschsprachigen Theater hören, ob Tschechow, Shakespeare oder Ibsen, jemand übersetzt habe und wir so die Worte der Person hören, die diese Arbeit gemacht hat. «Diese Worte stellen ein Echo auf die Ursprungssprache dar, und das Publikum hört diese Worte. Das ist die erste Vermittlungsarbeit», so Muhleisen.
Nina Thielicke ergänzte, dass es bei Vermittlungsarbeit natürlich um Geld ginge: «Gebt den Übersetzer:innen Kohle, damit sie besser arbeiten können!» Schließlich leben wir in Gesellschaften, in denen, allein durch die zahlreichen Menschen mit Migrationsgeschichten, eine Vielstimmigkeit herrscht. Jeden Tag wird etwas übersetzt. Sei es im Theater, beim Arbeitsamt oder im privaten Gespräch.
Yvonne Griesel und Laurent Muhleisen brachten gemeinsam auf den Punkt, was auch an dieser Stelle als Schlussgedanke dienen soll: «Es ist wichtig, Übersetzer:innen als denkende Personen wahrzunehmen.» Sie sind unverzichtbare und oft sehr kluge Vermittler:innen, zwischen Sprachen und Kulturen. Sie verschaffen Stimmen Gehör, die sonst vielleicht nie gehört werden würden. Es ist also notwendig, diese Arbeit nicht nur zu würdigen, sondern Übersetzer:innen miteinzubeziehen: In die künstlerischen Prozesse, in Theater- und Verlagsstrukturen, in die Geistes- und Kulturwissenschaft und in viele andere Bereiche mehr.
Diese Tagung hat gezeigt, dass es wichtig ist, miteinander ins Gespräch zu kommen und den Dialog trotz aller Widerstände immer wieder zu suchen. Miteinander zu diskutieren und aus der eigenen Komfortzone herauskommen, in Bewegung zu bleiben und gemeinsam neue Strukturen zu etablieren. An mutigen und klugen Worten, Statements und Ideen hat an diesen drei Tagen jedenfalls nicht gemangelt.
Paula J. Perschke beschäftigt sich aus systemkritischer und queerfeministischer Perspektive mit Theater, Literatur und Musik. Sie schreibt als freie Autorin u. a. für Theater der Zeit, Missy Magazine, L.MAG und das Berliner Stadtmagazin Siegessäule.
Hanna Gressnich, geboren 1989, lebt und arbeitet aktuell als Lehrerin und Comiczeichnerin in Frankfurt am Main. Nach einem Studium der Geschichte und Kunsterziehung im Saarland entdeckt sie an der
HBKsaar ihre Liebe zum Geschichtenerzählen/ Comiczeichnen und schließt sich dort dem frisch entstandenen Comicatelier (unter Jonathan Kunz) an. Nach ein paar selbstverlegten Comics in einem umgebauten Kondomautomaten findet man ihre Comics mittlerweile ganz offiziell beim Berliner Ja Ja Verlag.
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