Pınar Karabulut im Gespräch mit Nina Rühmeier So viel Macht über die Poesie des Textes!

Die Regisseurin Pınar Karabulut wuchs als Kind türkischer Eltern zweisprachig in Mönchengladbach auf. Heute arbeitet sie an Theatern und Opernhäusern in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Aktuell inszeniert sie »Richard Drei. Miteilungen der Ministerin der Hölle«, eine Shakespeare-Überschreibung der Autorin Katja Brunner, die am 23. April am Schauspiel Köln zur Uraufführung kommt. Ein Gespräch über das Verhältnis zwischen Regie und Übersetzung.

Pınar Karabulut (Foto: Julia Sang Nguyen)

Steigen wir doch gleich direkt ein: Welche Rolle spielt Sprache in deinen Inszenierungen?

Pınar Karabulut: Eine große! Sie ist das Hauptmedium. Allerdings gibt es verschiedene Formen der Sprache auf der Bühne. Es gibt die gesprochene Sprache, es gibt aber auch die Sprache des Körpers oder die Sprache des Raumes. Ich habe den Eindruck, dass in den letzten Jahren die Sprache des Körpers immer wichtiger geworden ist, um auf der Bühne Dinge zu äußern oder um stärker das Innenleben einer Figur zu zeigen. Für mich ist die gesprochene Sprache auf der Bühne eine Form von: Was und wie möchte ich mit meinem Gegenüber kommunizieren? Aber wie sich eine Figur innen fühlt, versuche ich über den Körper zu zeigen. Eigentlich ohne gesprochene Sprache. Wie es im wahren Leben ja auch ist. Man sagt ja selten das, was man wirklich denkt.

Du inszenierst sowohl originär deutschsprachige Theatertexte, immer wieder auch Uraufführungen, als auch Texte in Übersetzung. Macht das für dich in der Arbeit einen Unterschied?

Karabulut: Total! Das ist ein totaler Unterschied! Weil die deutsche Sprache schon vieles vorgibt, was in anderen Sprachen nicht existiert. Bei »Endstation Sehnsucht« (2019 am Volkstheater Wien, Anm. d. Red.) war es beispielsweise so, dass ich zu der deutschen Übersetzung keinen Zugang hatte. Aber als ich dann das englische Original gelesen hatte, hatte ich einen totalen Zugang und habe verstanden – oder gemeint zu verstehen –, was der Autor Tennessee Williams damals mit diesem Text gewollt hat. In dieser Spielzeit habe ich einen Text von Sivan Ben Yishai, einer israelischen Autorin, an den Münchner Kammerspielen inszeniert (»Like Lovers do (Memoirs of Medusa)«, eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2022, Anm. d. Red.). Sivan lebt in Berlin und schreibt ihre Texte auf Englisch. Ich habe das Stück, bevor es übersetzt wurde, auf Englisch zu lesen bekommen. Und im Englischen kann man ja Sätze formulieren, ohne das männliche oder weibliche Pronomen zu verwenden. Das geht im Deutschen nicht. Du musst immer ein Pronomen verwenden.

Du musst dich entscheiden.

Karabulut: Genau! Und das ist beispielsweise etwas, das ich an der deutschen Sprache sehr schade finde. Das gibt es in der türkischen Sprache auch nicht. Da kannst du eine Geschichte erzählen, bei der du weißt, es gibt ein Gegenüber, aber du weißt nicht, welches Geschlecht dieses Gegenüber hat. Die deutsche Sprache hat in der Übersetzung des Stückes von Sivan sofort das Geschlecht vorgegeben und damit die Opfer-Täter-Positionen klar verteilt. Das ist wirklich etwas, das ich an der deutschen Sprache schade finde. Dass sie immer sehr konkret ist und keine Assoziationsräume aufmacht, weil sie auch eine sehr theoretische Sprache ist, würde ich sagen. Und das ist für mich interessant an dem Text von Katja Brunner, an dessen Uraufführung ich gerade arbeite. Weil Katja die deutsche Sprache komplett zerlegt, sich an keine Grammatik hält und irgendwelche neuen Formulierungen und neue Wörter erfindet, die es im Deutschen gar nicht gibt. Das finde ich spannend. Und deswegen war es mir auch so wichtig, Katja Brunner zu bitten, Shakespeares »Richard III« zu überschreiben. Richard ist ja bekannt für seine Virtuosität im Umgang mit Sprache. Mir war also klar: Bei dieser Inszenierung muss die gesprochene Sprache im Zentrum stehen. Und damit war auch klar, dass ich jemanden brauche, der dem gerecht werden kann. Die bisherigen Übersetzungen, die sind einfach … Wie soll ich sagen? Man merkt ihnen die Zeit an, aus der sie stammen. Die sind für mich nicht interessant, nicht relevant. Und da brauchte ich einfach jemanden, eine Autorin oder einen Autoren – in dem Fall eine Autorin –, die mit Sprache einen starken Umgang hat und genau weiß, was sie damit will. Die die Macht der Sprache versteht und sie einsetzen kann. Die damit auch verführen und manipulieren kann. Und dafür ist Katja Brunner die perfekte Autorin.

Aber das heißt, du hast  – oder ihr habt – schon erst die bereits vorhandenen Übersetzungen geprüft?

Karabulut: Da muss ich kurz ausholen. Ursprünglich war es so, dass ich nach einem Stoff für die Schauspielerin Yvon Jansen gesucht habe. »Richard III« war für mich schon lange eines der Stücke auf der Will-ich-auf-jeden-Fall-irgendwann-mal-machen-aber-erst-später-wenn-ich-älter-bin-Liste gewesen (lacht). Und dann habe ich mich gefragt: Warum mache ich das eigentlich nicht mit Yvon Jansen?

Da war der Moment gekommen?

Karabulut: Da war der Moment gekommen, eben! Wie das immer so ist, wenn man es nicht plant (lacht). Und als der Moment da war und die Entscheidung getroffen wurde, kannte ich die älteren »Richard III«-Übersetzungen bereits. Ich habe dann in die aktuelleren reingelesen, um einen Eindruck von der Sprache zu bekommen, war aber mit keiner der Übersetzungen so richtig glücklich. Als die Dramaturgin Sarah Lorenz und ich darüber gesprochen haben, eine Überschreibung in Auftrag zu geben, war für mich sofort klar: Das muss Katja Brunner machen. Da habe ich an keine andere Autorin gedacht.

Das heißt, es war dann aber auch gleich klar, dass man nicht eine neue Übersetzung  in Auftrag gibt, die sich dann enger an das Original hält, sondern jemanden bittet, den Stoff zu überschreiben?

Karabulut: Ja. Ich würde deshalb auch auf jeden Fall sagen, dass es eine Uraufführung ist. Katja ist natürlich schon vom englischen Original ausgegangen und sie gibt auch an, dass verschiedene Übersetzungen sie beeinflusst haben. Ich kann beim Lesen aber gar nicht mehr sagen, was eventuell nicht von Katja ist, weil sie alles durch den Wolf ihrer Sprache hindurchdreht. Für die Schauspieler:innen war das erstmal nicht einfach. Ich habe Katjas Stücke gelesen, habe einen ihrer Texte inszeniert, ich kenne sie, weiß, wie sie spricht. Sie ist sehr schnell mit ihren Gedanken und hat diese lustige Sprache und ist mega schlau dabei. In ihren Texten sind vier Gedanken in einem Satz miteinander verwoben und Satzzeichen gibt es ohnehin keine. Die Schauspielerinnen und Schauspieler hatten zum Teil noch nie einen Text von Katja gelesen oder auf der Bühne gesehen und hatten erstmal ein ganz anderes Verhältnis zu ihrer Sprache. Aber wir nehmen Katjas Schreibweise, also auch wie sie den Text geschrieben hat, beispielsweise mit Sternchen oder wann sie etwas groß oder klein geschrieben hat, das nehmen wir sehr ernst. Denn das ist die neue Welt, die sie da aufgemacht hat. Und dann heißt es eben nicht Ahninnenreihe, sondern Ahn*innenreihe. Das Sternchen ist dafür da, dass man eine Zäsur setzt – und dass verschiedene Geschlechter damit gemeint sind. Und es macht ja auch gerade deshalb so einen Spaß, weil Katja in ihrem Schreiben aktiv damit umgeht, dass Sprache immer widerspenstig bleibt.

Hast du auf Katja Brunners Arbeitsprozess in irgendeiner Weise Einfluss genommen? Habt ihr beispielsweise konzeptionell gesprochen, bevor sie zu schreiben begonnen hat? Oder hast du ihr vollkommen freie Hand gelassen?

Karabulut: Es gab in der ersten Arbeitsphase Treffen und Telefonate, bei denen wir beide darüber gesprochen haben, was und welche Perspektiven wir an dem Stoff interessant finden. Wir haben uns dann auch gemeinsam dafür entschieden viele der Figuren zu streichen. Es ist aber bei weitem kein Destillat der Story entstanden, weil Katja die Geschichte dafür an anderen Stellen so ausschmückt. Ihre Version von »Richard III« nimmt sehr stark Bezug auf den englisch-französischen Krieg, aber dann taucht auch Flaubert auf und so. Es gibt sehr viele Verweise auf die französische Literaturgeschichte. Und es gab eben diese Anfangsphase, in der wir kommuniziert haben, was wir beide gerade aktuell spannend finden im feministischen Kontext und auch im feministisch-politischen Kontext. Und dann gab es eine Phase, in der Katja ein Jahr lang in die Recherche abgetaucht ist. Die Art und Weise, wie sie »Richard III« erzählt, finde ich auch deshalb spannender, weil sie so detailliert ist. Shakespeare hat sein Stück ja zu einer Zeit und in einem Umfeld geschrieben, in dem alle vertraut mit den historischen Ereignissen waren, die ihm zugrunde liegen. Und das sind wir nicht. Bei Katja gibt es jetzt beispielsweise eine lange Passage – sehr Herta Müller meets Heiner Müller –, in der eine Schlacht geschildert wird. Was historisch absolut akkurat ist – der historische Richard war ein großer Krieger. Das kommt aber bei Shakespeare gar nicht vor. Katja arbeitet auch viel mit gegenwärtigen Assoziationsräumen. In Passagen, die wie Intermezzi funktionieren, wird beispielsweise auf den Ukraine-Krieg Bezug genommen. Das macht Welten auf. Ich stelle mir immer vor, dass Zuschauerinnen und Zuschauer, die in einen Shakespeare gehen, das Stück vielleicht schon gelesen und in drei verschiedenen Inszenierungen gesehen haben. Sie wissen also, wie es geht. Und dann werden da plötzlich solche Assoziations- und Visionsräume aufgemacht, allein durch Katjas Sprache. Sie spielt mit den Wörtern. In einem vermeintlich historischen Monolog fallen plötzlich ganz heutige Begriffe und alles wabert zwischen Historiendrama, Zukunftsperspektive und Gegenwartskatastrophe. Da bleibt man wach.

Ist Shakespeares »Richard III« trotzdem noch ein Referenzpunkt für dich, für euch?

Karabulut: Wir hatten vorab eine Leseprobe mit Katja und den Schauspieler:innen. Da haben wir viel über Shakespeares Text geredet. Drei oder vier Wochen später hatten wir die eigentliche Konzeptionsprobe. Und da haben die Schauspieler:innen beispielsweise noch einmal konkret nach einem Plot gefragt, der durch Umstellungen von Katja und durch Striche anders ist als bei Shakespeare. Da habe ich gesagt: Der shakespearsche «Richard III» ist die Vorlage, aber wir machen hier den Brunner. Und wenn Katja Brunner erzählt, dass die Mutter mit beiden Prinzen ins Exil fliehen will, und nicht nur mit einem Prinzen, wie bei Shakespeare, dann ist das so. Und der Schluss wird auch anders, da wird auch noch was passieren. Aber ich will nicht spoilern (lacht.) Also, der Shakespeare ist jetzt, drei Wochen vor der Premiere, für mich kein Referenzpunkt mehr. Das war er am Anfang. Aber als klar war, Katja Brunner macht die Überschreibung, ab dem Moment war sie die Autorin. Deswegen war für mich auch relativ bald klar, dass es eine Uraufführung ist.

Ab wann wird eine Übersetzung für dich zur Überschreibung, zum genuin eigenen Stück?

Karabulut: Das ist eine super spannende Frage, auf die ich auch keine generelle Antwort habe. Aber hier ist es eindeutig gewesen: Es ist eine Brunner-Uraufführung nach Shakespeare.

Hat die Tatsache, dass du bilingual aufgewachsen bist, einen Einfluss darauf, wie du im Theater mit Texten umgehst, die du nicht im Original sondern in der Übersetzung auf die Bühne bringst? Zumal wenn du der Sprache mächtig bist, in der der Originaltext geschrieben wurde?

Karabulut: Ja, auf jeden Fall. Ich versuche immer, das Original vorher zu lesen. Denn eine andere Sprache bringt auch eine andere Konnotation mit sich. Und Übersetzung bedeutet immer Entscheidung, deshalb ist es für mich immer ultrawichtig, dass ich auch ein Verständnis des Originals habe – und das geht leider nur mit Englisch und Türkisch.

Hast du denn eine Verbindung zur türkischen Dramatik?

Karabulut: Ich hätte sie gerne. Mir hat sogar mal ein türkischer Autor ein Stück geschickt. Aber insgesamt kenne ich mich da nicht so aus.
Es werden ja auch im deutschsprachigen Raum nach wie vor wenig Stücke türkischer Dramatiker:innen gespielt.
Karabulut: Das stimmt. Es gibt natürlich Autor:innen mit türkischer Migrationsgeschichte, die in Deutschland aufgewachsen sind oder schon lange hier leben und auf Deutsch schreiben, wie Akın Emanuel Şipal oder Emine Sevgi Özdamar. Aber es scheinen wenig Stücke aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt zu werden. Ich inszeniere allerdings immer wieder Stücke, die aus dem Englischen übersetzt wurden. Und dann lese ich immer auch das Original. So kann ich mir selbst eine Vorstellung von dem Text machen und auch die Übersetzung besser einschätzen. Manchmal kommt es mir so vor, als hätten die Texte im Original oft noch eine andere Tiefe, die sich nicht immer transportieren lässt. Und eben eine größere Vieldeutigkeit.
Im Fall von Sivan Ben Yishai war es so, dass die Autorin eng mit der Übersetzerin Maren Kamers zusammenarbeitet. Sie übersetzen Sivans Stücke quasi zusammen und sie haben sich bewusst für das männliche Pronomen entschieden. Ich weiß nicht, vielleicht liebe ich als Regisseurin die Ambivalenz manchmal mehr als die Autor:innen (lacht). Ich habe sie über mehrere Wochen zu überreden versucht, den Anfang des Textes in englischer Sprache zu belassen, um diese Pronomen-Sache im Vagen lassen zu können. Das wollte Sivan nicht. Das fand ich interessant.

Und hat sie ihre Beweggründe für dich nachvollziehbar machen können?

Karabulut: Nein (lacht).

Du beschreibst, dass du mit den Autor:innen immer wieder in Kontakt bist. Wie würdest du dir das Verhältnis zu Übersetzer:innen wünschen? Wärst du da auch gerne in einem Austausch?

Karabulut: Ja, natürlich, auf jeden Fall! Ich habe immer wieder Verständnisfragen. Bei Übersetzungen älterer Texte hilft es ja manchmal beispielsweise, zu wissen, in was für einem historischen Kontext ein Begriff damals stand, der modernisiert werden muss, weil wir diesen historischen Kontext nicht herleiten können. Und natürlich die Frage danach, warum eine Entscheidung so und nicht so getroffen wurde. Also, ich finde Kontakt eigentlich immer gut.

Und warum, glaubst du, findet das selten statt?

Karabulut: Ich glaube, das liegt daran, dass die Übersetzung an sich in der Theaterpraxis oft immer noch nicht als Kunstform wertgeschätzt wird. Oder dass die Übersetzung nicht als Werk gesehen wird. Weil die Vorstellung immer noch ist: Der Urtext ist das Werk und die Übersetzung ist die Krücke für die Regie, mit der sie das Werk auf die Bühne bringen kann. Dabei hat eine Übersetzerin oder ein Übersetzer so viel Macht über die Poesie des Textes! Und nicht zuletzt ist die Übersetzung schon der erste Interpretationsschritt. Deshalb ist für mich als Regisseurin der Rückgriff auf den unübersetzten Text ja so interessant. Eine Autorin oder ein Autor muss jedenfalls viel Vertrauen in die Übersetzerin oder den Übersetzer haben.

Vielen lieben Dank für dieses Gespräch und deine offenen Antworten.

Karabulut: Sehr gerne.

[Disclaimer: Nina Rühmeier ist Dramaturgin und hat in der Vergangenheit regelmäßig mit Pınar Karabulut zusammengearbeitet. Zuletzt im Jahr 2018 am Schauspiel Köln.]

«Richard Drei – Mitteilungen der Ministerin der Hölle»

nach William Shakespeare, in einer Überschreibung von Katja Brunner

Regie: Pınar Karabulut

Premiere: 23. April 2022, weitere Termine hier

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