africologne(3): Der ugandische Lyriker und Performer Kagayi Ngobi über die Geschichte seines Gedichts «For my negativity» „Es hat sich kaum etwas geändert“

In Kooperation mit dem africologneFESTIVAL präsentieren wir vier Essays afrikanischer und afrodiasporischer Künstler*innen, die über das widerständige Potenzial ihrer Theaterarbeit reflektieren und gleichzeitig kritisch auf postkoloniale Machtverhältnisse blicken. In seinem Beitrag beschreibt Kagayi Ngobi, der bei africologne mit der spoken word performance For my negativity dabei ist, wie gefährlich politische Lyriker in seinem Heimatland Uganda leben – und wie er selbst sein Jurastudium an den Nagel hängte, um sich voll und ganz einer prekären Existenz als Dichter zu verschreiben.

Der Autor, Herausgeber und Performer Kagayi Ngobi (Foto: Katara Nation)

von Kagayi Ngobi

Am Donnerstagabend, den 28. April 2022, wurde der Literaturwissenschaftler, Dichter und Kritiker Danson Kahyana auf seinem Heimweg von vier Männern überfallen und brutal zusammengeschlagen. 2019 hatte er im Vorwort zu meinem Buch For my negativity geschrieben, dass Schriftsteller wie Soldaten die Nation bewachen. Während Soldaten «mit Gewehren und Bomben äußere Angriffe abwehren», benutzen Schriftsteller «die Spitzen und Schäfte ihrer Stifte», um sie «gegen tödlichere Krankheiten zu verteidigen, die sie von innen auffressen.»

Ich versichere Ihnen, dass obenstehende Argumentation nicht der Grund dafür war, dass er sich unter «Rowdys» wiederfand, die «ihm die Zähne ausschlugen und seinen gesamten Besitz mitnahmen», wie es eine Zeitung formulierte. Gerüchten zufolge wurde sein Schicksal bereits 2018 besiegelt, als er einen Gedichtband über den 2016 verübten Angriff der ugandischen Armee auf den Königspalast von Rwenzururu zusammengestellt und veröffentlicht hatte. Dieser Angriff hatte sich in seiner Geburtsstadt Kasese im Westen Ugandas ereignet, und laut Human Rights Watch kamen dabei über 100 Menschen ums Leben.

Im Jahr, als er das Buch herausbrachte, publizierte Kahyana auch einen Aufsatz, in dem er den Begriff «diagnostische Poetik» prägte. Er verstand darunter «die Verwendung von Lyrik zur Untersuchung der Realitäten nach der Unabhängigkeit, mit dem Ziel, herauszufinden, worin Afrikas Krankheit besteht». Mittels der Analyse von Okot p’Biteks Lyrik wollte er die «Krankheit, an der Afrika leidet» verstehen, die es nach wie vor «daran hindert, eine Kulturrevolution zustande zu bringen.»

 

Kagayi Ngobi auf der Bühne (Foto: Ute Langkafel)

Ich weiß auch nicht, warum, aber seit Uganda am 9. Oktober 1962 seine Unabhängigkeit erlangte, sind einige ugandische Dichter für ihre Texte über den schwierigen Kampf der Nation um eine Identität in Schwierigkeiten geraten. Ihre Reflexionen und Stile sind ebenso unterschiedlich wie ihre Probleme.

Vier Jahre nachdem der Union Jack heruntergelassen und die ugandische Flagge gehisst worden war, erschien Biteks bahnbrechendes Langgedicht Song of Lawino im Druck. Zwei Jahre später sollte er deswegen seinen Job verlieren. Das Gedicht, das als das erste in der Reihe der «ostafrikanischen Liedschultradition» gepriesen wurde, bietet, wie es der Wissenschaftler Ernesto Okello Ogwang ausdrückte, «sowohl eine Kritik am Wesen von Entwicklung und Unabhängigkeit als auch an der damit verbundenen Rhetorik».

«Zu diesem Zeitpunkt», sagte Bitek Ende der 1970er Jahre zu Bernth Lindfors, «hatte sich die politische Situation in Uganda stark verändert. Uhuru (die Unabhängigkeit) war gekommen, und wir begannen bereits, sie zu missbrauchen.»

Und 57 Jahre später kämpfen Dichter*innen in Uganda noch immer gegen diesen «Uhuru-Missbrauch». Der Kampf zur Vertreibung seiner umherstreifenden Geister ist noch immer mit einem Risiko verbunden. Einige wie Kahyana haben dafür einen hohen Preis bezahlt. Aber ihre Wirkung bleibt bestehen. Ihre lyrische Arbeit bleibt bestehen. Der Griff um ihren Hals wird fester, aber ihre Stimmen werden lauter. Hallo, Stella Nyanzi.

Vielleicht kämpft die Figur in meinem Gedicht For my negativity, wie Kahyana andeutet, mit Krankheiten wie «Mittelmäßigkeit, Gier, Straflosigkeit, Autokratie. Und der schlimmsten von allen, der Selbstvergötterung», die «seltsame Früchte wie den Pessimismus hervorgebracht hat.

Wo ist die Lüge?

Kagayi Ngobi mit der Tänzerin Kifuko Moureen Drichiru in der Produktion «Romeo&Juliet in Kampala» (Foto: Bridgeworks Köln)

Seit der Unabhängigkeit hat Uganda eine lange Reihe aufeinanderfolgender politischer Unruhen durchlebt, doch 1986 kam es zu einem grundlegenden Wandel, als «das Senfkorn gesät wurde». Zu Anfang erschien alles gut, doch im Laufe der Jahre begannen sich die Dinge schlecht anzufühlen. «Wir hatten alles vor uns, und gleichzeitig nichts», hätte Dickens gesagt. Als Kinder der Revolution wuchsen wir in dieser Unbeständigkeit auf und sangen dabei «Wir sind die Säulen des Uganda von morgen». Die moderne Technik hielt Einzug. Wir waren nun Digital Natives der Welt, «Millennials». Damals war Lyrik noch weitgehend eine Angelegenheit von Klassenzimmern und Prüfungen.

Als zwischen 2002 und 2007 Russell Simmons «Def Poetry» auf HBO ausgestrahlt wurde, fiel dies mit der Gründung von YouTube im Jahr 2005 zusammen. Dadurch veränderte sich die Lyrik auf der ganzen Welt. Junge Lyrikliebhaber*innen in Uganda lernten beispielweise einen Stil und eine Kultur kennen, die ihnen bis dahin aufgrund ihrer allzu akademischen Ausbildung weitgehend unbekannt geblieben war: die Kunst der performance poetry, genauer gesagt des spoken word. In «Def Poetry» fanden ein paar Jugendliche neue Werkzeuge, um ihre Betrachtungen zu vertiefen: die Bühne. Alle Wege führten zu einer neuen Lyrik-Bewegung in Uganda.

 

Kagayi Ngobi auf der Bühne (Foto: Kitara Nation)

Als ich 2009 anfing, Gedichte zu schreiben und zu performen, war ich Jura-Student. Kurz zuvor hatte ich mich der wirklich coolen, talentierten und bescheiden auftrumpfenden Gruppe «Lantern Meet of Poets» angeschlossen. Die meisten von uns waren Anfang 20. Poesie war unsere Leidenschaft. Wir teilten Gras, Bücher, Gedichte, Poesievideos, Filme, Musik und Dokumentarfilme miteinander. Wir tauschten uns auch über unseren Geschmack aus. Das Uganda National Theatre war unser Zuhause. Man konnte ein Gedicht mitbringen, und die Gruppe «vertiefte sich hungrig darin». Wir sprachen aus, was uns durch den Kopf ging. Eisen schärfte Eisen. Es war ein Spektakel, das sowohl ermächtigend als auch entmachtend wirkte. Wenn Sie noch nie erlebt haben, wie Dichter debattieren, agitieren, loben, das Gesicht verziehen, weinen, schimpfen, zerpflücken, Beifall klatschen und alles im Namen eines Gedichts verteidigen, dann haben Sie garantiert die Lantern Meet verpasst!

Als ich mich der Gruppe anschloss, wuchs ihr Einfluss auf mich, aber Lyrik war damals nur eine Wochenendbeschäftigung für mich; eine Sache, die ich ernst nahm, über die ich aber ohne großen Anspruch schrieb. Es war eher ein persönliches Vergnügen. Ich konnte ab und zu ein Sonett schreiben, hier und da ein Gedicht vortragen, gelegentlich Lyrikveranstaltungen besuchen und am Ende des Tages meine Gesetzesbücher lesen; im Grunde war Lyrik bloß eine Freizeitbeschäftigung.

Doch schon bald, als viele von uns die Universität verließen, stellte sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit und spielte eine zentrale Rolle für die Gruppe
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Warum schrieben wir Gedichte? Welches Vermächtnis wollten wir hinterlassen? Worauf sollten wir uns konzentrieren, auf das Schreiben oder den Vortrag? Die Antworten variierten, während unser gemeinsamer Weg auseinanderbrach und sich aufspaltete. Wir wussten, was wir waren, aber nicht, was aus uns werden würde. Ich persönlich war damals bereits inspiriert genug, um zu beschließen, dass die Dichtung meine Berufung sein würde.

Im Jahr 2012 hatte ich mein Jurastudium an den Nagel gehängt. Ich war nun Vollzeit-Dichter bei den Lantern Meet, Lyrik-Coach und Lyrik-Dozent an einem Gymnasium. Am 9. Oktober jenes Jahres sollte Uganda 50 Jahre Unabhängigkeit feiern. Da viel über die Frage diskutiert wurde, wie unabhängig unser Land nach 50 Jahren tatsächlich war, wollten wir einen Beitrag zu dieser Debatte leisten. Dieser Zeitgeist veränderte uns. Wir schrieben, wie wir noch nie zuvor geschrieben hatten. Das Politische war persönlich geworden. Im November zeigten wir unsere Inszenierung BROKEN VOICES OF THE REVOLUTION. Die Bühne brüllte. Die Show hatte eine einzigartige Wirkung auf uns alle. Die Zeitungen sagten viele großartige Dinge über uns. Meine Lieblingsüberschrift war «Die wandelnden Verwundeten».

Jene Zeit half mir, über den Weg nachzudenken, den ich mit meiner Lyrik eingeschlagen hatte. Rückblickend entwickelte ich am Abend dieser Aufführung größeren Mut dazu, so zu schreiben und vorzutragen, wie ich es wollte. Nachdem ich gesehen hatte, wie das Publikum und meine Freunde auf meine Gedichte reagierten, begann ich zunehmend nach Poesie im Alltag zu suchen. Ich gab den jambischen Pentameter-Kram auf und machte Verse aus den Rhythmen meiner Umgebung.

Als ich 2015 die Lantern Meet verließ, schrieb und rezitierte ich immer noch Gedichte. Lyrik war meine Therapie. Aber ich musste damit auch Erfolg haben. Ich ging zu verschiedenen Spoken-Word-Poetry-Plattformen, die in Kampala mittlerweile wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, um mir durch meine Verse Luft zu machen. Da ich mit dem Umfeld nicht zufrieden war, gründeten wir mit Hilfe einiger guter Freunde THE POETRY SHRINE, eine Poesie-Nacht, bei der wir mit verschiedenen Kunstformen experimentierten und sie mit unserer Lyrik verbanden. Diese Zeit war inspirierend. Wir riefen das Konzept der One-Man/One-Woman-Poetry-Show in Kampala ins Leben und machten es bekannt.

Kagayi Ngobi in «For my negativity» (Foto: Kitara Nation)

Dennoch gab es immer noch mehr Fragen als Antworten. Je mehr ich nach Inspiration suchte, desto mehr Fragen stellten sich mir. Warum schreibe ich? Warum trete ich auf? Für wen schreibe ich? Warum performe ich nicht in meiner Muttersprache? Ist Lyrik nur auf Englisch Lyrik? Wer ist mein Publikum? Sollte das überhaupt eine Rolle spielen? Wie kann ich von Lyrik leben?

Ich hatte keine Antworten, nur Gedichte. Ich hatte das Gefühl, beim Schreiben mittlerweile mehr ich selbst zu sein, doch konnte ich der Frage «in welcher Sprache träumst du?» nicht immer selbstbewusst begegnen. Eines Tages war ich außerstande, meiner Großmutter, die kein Englisch spricht, zu erklären, was Poesie bedeutet. An diesem Tag wurde mir meine Bildung peinlich, und ich wollte sie am liebsten verlernen. Diese Unfähigkeit machte mir bewusst, wie sehr mich meine Schulen von meinem Erbe entfremdet hatten.

Von diesem Tag an begann ich den gesamten Komplex englische Lyrik vs. Lyrik in englischer Sprache zu hinterfragen. Mein Image, meinen Geist, alles, was ich geschrieben hatte, mein Denken und alles, was ich über mich wusste, stellte ich auf den Prüfstand. Ich schrieb und rezitierte immer noch Gedichte (sogar auf Englisch), während ich über die Entstehungsgeschichte meiner Identität nachdachte. Auf dem Weg dorthin änderte ich sogar meinen Namen. Ich gab Peter auf und nannte mich zunächst Mutanga, dann schließlich Ngobi, ein Name aus dem Ahnengeschlecht meiner Mutter.

Das war nichts Neues. Andere Schriftsteller vor mir waren mit ähnlichen Problemen konfrontiert gewesen, und alle schienen sich einig zu sein, dass Identität eine riesenhafte und fast unüberwindbare Krise ist, die Afrikaner*innen täglich bewältigen müssen. Nichtsdestotrotz fanden meine jüngsten Gedichte, von denen einige derartige Fragen aufwarfen, Anklang beim Publikum. Ich habe mich daran gewöhnt, dass Leute nach meinen Auftritten zu mir kommen, um mir Feedback zu geben, aber glauben Sie mir, vertrauen Sie niemals dem Publikum; heute lieben sie dich, morgen haben sie Angst vor dir.

Seit meinen Tagen bei den Lantern Meet war ich immer wieder verblüfft über Leute, die mich vor oder nach einem Auftritt zur Seite nahmen und mich scheinbar besorgt fragten, warum meine Gedichte «so politisch» seien. Welche zufriedenstellende Antwort konnte ich geben? Dass das Leben politisch ist? Und wie sie darauf bestanden, mich zur Vorsicht zu mahnen, um manchmal unmittelbar danach meine Arbeit zu zensieren! Was sollte ich erwidern? Dass ich ein Produkt meiner Zeit bin? Ihre Reaktionen haben mich in meinem Schreiben bestärkt. Es passierte zu viel im Land, das man einfach nicht übersehen konnte.

 

Kagayi Ngobi in «For my negativity» (Foto: Kitara Nation)

Im Dezember 2017 wurde die Verfassung der Republik Uganda auf umstrittene Art und Weise geändert und die Altersbeschränkung für das Präsidentenamt aufgehoben. Wir hatten es kommen sehen. Die Geschichte wiederholte sich. Diejenigen, die auf einen Regierungswechsel hofften, verloren die Hoffnung. Eine gesamte Generation war entmutigt. In diesem politischen Klima hätten sich meine Gedichte von selbst schreiben können.

Diese Augenblicke inspirierten mich zu meinem zweiten Gedichtband YELLOW PUPU POEMS. Es handelte sich um eine dreisprachige Sammlung von Versen, von der Kalundi Serumaga in seinem Vorwort sagt, dass sie «im Begriff ist, zur Kriegserklärung zu werden.» Nach dem Erscheinen im Jahr 2018 veränderte sich die Sprache, mit der andere meine Lyrik beschrieben. Statt als «politisch» bezeichnete man sie nun als «negativ». Ich war weder amüsiert noch überrascht. In der Hitze des schnell zum Tabu gewordenen Verfassungsdebakels trat plötzlich die fragile, auf politischen Fronten aufgebaute Spaltung unseres Landes zutage. Sie zeigte sich überall, und auch die Lyrik blieb von dieser Schmach nicht verschont.

In manchen Ecken wurden meine Gedichte nun schamlos als «regierungsfeindlich» gebrandmarkt. Warum hätte ich damals also überrascht sein sollen, als das Uganda National Theatre Mitte 2018 die Lyrikproduktion ARREST THE POEM meines Ensembles nach der Premiere absetzte?

Im Laufe der Jahre habe ich beobachtet, wie das Publikum meine Gedichte zunächst liebte, dann fürchtete und schließlich zum Schweigen brachte.

 

Kagayi Ngobi in «For my negativity» (Foto: Jackson)

Die Inspiration für For my negativity fand ich auf dem Rücksitz eines Taxis. Es war ein Freitagabend Mitte Juli 2018. Ich war auf dem Heimweg von einer von Nsubuga Davis alias Davis the Poet organisierten Performance-Poetry-Nacht.

Eine neue Welle junger Spoken-Word-Poet*innen hatte soeben Kampalas urbane Lyrik-Szene im Sturm erobert, und Davis war einer von ihnen. Er hatte gerade seine
one-man poetry show LINES AND RHYMES uraufgeführt. Es gab an diesem Abend zahlreiche außergewöhnliche Momente, doch vor allem einer davon ließ mich nicht los: der Gedichtvortrag seines Schlagzeugers in einer der Pausen. Mugoda Gordon alias Wake the Poet hatte ein Gedicht vorgetragen, bei dem es mir die Sprache verschlagen hatte. Sein Titel war NEGATIVITY.

Der Stau in dieser Nacht hing mit der Fußballweltmeisterschaft zusammen. Die Autos bewegten sich nur zäh vorwärts, aber ich hätte nicht dankbarer sein können. Es war die perfekte Stimmung zum Grübeln. Immer wieder musste ich an Wakes Gedicht denken. Es ging mir nicht aus dem Kopf! Die Fahrgäste um mich herum waren Luft für mich. Ich war ganz alleine, aber nicht bei mir. Seine Darbietung hatte mich in die Tage der Lantern Meet zurückversetzt, als meine Freunde und ich uns fragten, «welche Rolle ein Dichter spielt». Sein Gedicht löste in mir ein existenzielles Dilemma aus, mit dem ich mich seit einiger Zeit unbewusst auseinandersetzte, das ich nun aber verteidigen musste: die Frage nach meiner Identität als Dichter.

In meinem Kopf gab es keine Antwort, sondern nur Fragen und alle möglichen Hintergrundgeräusche. Meine Erinnerung beschwor Stimmen herauf, die vor meinen Gedichten warnten. Sie rief mich auf, über die Zeiten nachzudenken, in denen wir lebten, und darüber, wie ich als Dichter dazu stand.

Mein Körper befand sich immer noch in dem Pendler-Kleinbus, aber mein Geist war in Aufruhr. Der Nachthimmel war voller Sterne, während sich mein Geist zunehmend mit Fragen füllte. Ein Aufschrei des Widerstands erklang in mir, als ich mich innerlich fragte: Was ist negative Poesie? Wenn Gedichte negativ sind, sind sie dann böse? Was ist überhaupt Negativität? Für wen ist Negativität überhaupt Negativität? Wenn ich das Schlechte sehe, sollte ich dann einfach schweigen und ausharren, bis das Gute eintritt? Wenn meine Poesie negativ ist, bin ich dann sozusagen hoffnungsfeindlich?

Gedankenversunken und ohne jegliche Vernunft wollte etwas in mir antworten, während die Verunsicherung durch Wakes Gedicht in mir wuchs. Ich musste mein dichterisches Selbst erklären. Ich musste antworten, sonst würde ich platzen. Ein plötzlicher Drang, meine Gedanken in Worte zu fassen, überkam mich. Ich holte mein Handy aus der Tasche, öffnete die Notizblock-App und begann zu schreiben. Die ersten Zeilen des heutigen Gedichts sind tatsächlich die ersten Zeilen, die ich in jener Nacht geschrieben hatte. Nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, kehrte ich zum Anfang der Seite zurück und schrieb den Titel auf, der mir gerade eingefallen war: For my negativity.

 

Kagayi Ngobi in «For my negativity» (Foto: Kitara Nation)

Ich begann das Gedicht zu einer Zeit zu verfassen, als ich mir vorgenommen hatte, täglich ein Gedicht zu schreiben. Es war bereits die dritte Woche, in der ich das konsequent durchzog. Normalerweise mache ich diese Übung, um meine Kreativität wieder aufzuladen. Damals hörte ich auch Kae Tempest, las Edmund Spensers «Prothalamion» und, was mir noch wichtiger war, Okot p’Bitek. Ich hatte schon immer seinen liedhaften Gedichtstil begreifen wollen und hoffte, eines Tages ein Gedicht in ähnlicher Form zu schreiben. Wie, das wusste ich nicht; aber die Gelegenheit, es herauszufinden, bot sich in der Nacht nach Davis› Auftritt. Ich saß im Taxi und grübelte über meinem Gedicht, als mir klar wurde, dass die Gelegenheit gekommen war.

Vier Monate lang schrieb ich an dem Text und überarbeitete ihn ständig, bis ich den ersten Entwurf fertig hatte. Ursprünglich hatte ich ein Langgedicht aus einem Guss schreiben wollen, aber später wurde mir klar, dass ich auch eine Reihe von Gedichten schreiben könnte, wobei jeder Teil von einer anderen, aber mit den anderen verbundenen allgemeinen Idee ausgeht, für die das Gedicht eintreten sollte.

 

Kagayi Ngobi in «For my negativity» (Foto: Jackson)

Am Freitag den 12. Oktober 2018 teilte ich das komplette Gedicht erstmals mit der Öffentlichkeit. Ich las es einer Gruppe von Dichtern vor, die normalerweise bei der Lyriknacht «Kelele at Makerere» an der Makerere University zusammenkamen. Wake the Poet war im Publikum. Davis auch. Am selben Tag hatte die Makerere-Universität ein Gedenksymposium für den verstorbenen Dichter, Wissenschaftler und Diplomaten David Rubadiri abgehalten. War es ein Zufall, dass das Gedicht an dem Abend, an dem seiner gedacht wurde, bereit für den öffentlichen Vortrag war? Ich hatte es ausgedruckt und es war 27 Seiten lang. Als ich an die Reihe kam, las ich jede Seite, als ginge es um mein Leben. Am Ende wurde meine Stimme lauter, ich tanzte von der Bühne und sang die letzten Zeilen.

Während ich regelmäßig Teile davon vortrug, schrieb ich es immer wieder um. Anfang 2019 beschloss ich, alle sieben Teile des Gedichts zu einem Ein-Mann-Stück zusammenzufassen. Eine Woche vor der Premiere im Juli desselben Jahres traten wir zusammen mit anderen Dichter*innen, darunter meine Mutter, bei der African Writers Trust Literature Conference poetry night auf. Die Veranstaltung wurde stolz vom British Council gesponsert. Ich trug den ersten Teil des Gedichts mit dem Titel «Bevor ich für meine Entschuldigung zur Kasse gebeten werde» vor. Hätte ich gewusst, welch unbehagliches Schweigen sich im Raum breitmachen würde, nachdem ich die Zeilen «I’m sorry for my misery/Because I hate this English language too…» («Tut mir leid, dass ich elend bin / Denn ich hasse auch diese englische Sprache…») ausgesprochen hatte, hätte ich mir die Teilnahme an der Veranstaltung vielleicht noch einmal überlegt.

Am Ende des Abends kam eine mir bis dahin unbekannte Dame auf mich zu und fragte nach einer herzlichen Begrüßung, ob ich jemals wegen meiner Arbeit verhaftet worden sei. Ich verneinte, woraufhin sie lachte und antwortete: «Weil sie dich noch nie gehört haben». Danach ging sie sofort weg.

Die Premiere des Stücks eine Woche später verlief gut, glaube ich. Sie fand im Uganda National Theater statt. Die Standing Ovations an dem Abend waren etwas Besonderes, tatsächlich eine Art Heilung. Doch wäre das Stück beinahe mittendrin abgebrochen worden, wenn nicht einer der Theaterleiter rechtzeitig eingegriffen hätte.

Wir führten es 2022 am gleichen Ort noch einmal auf, diesmal für das Kampala International Theatre Festival. Die Veranstaltung wäre beinahe abgesagt worden, da den Veranstaltern eine Gefängnisstrafe drohte. Zum ersten Mal in den neun Jahren, in denen sie Theaterstücke kuratieren, wurden sie aufgefordert, beim Medienrat von Uganda eine Genehmigung für das Festival zu beantragen und ebenfalls eine Genehmigung für jedes der zu zeigenden Stücke, einschließlich derer, die noch im Entstehen waren – und das eine Woche vor dem Festival! Die Genehmigungen wurden schließlich einen Tag vor der Eröffnung erteilt. Mein Stück war als Eröffnungsstück des Festivals vorgesehen, und die Aufführung fand statt. Wenn man bedenkt, was wir durchgemacht haben, um es zu inszenieren, war das ein Statement.

Denn in Uganda kann das Schreiben und Vortragen von Gedichten gesundheitsschädlich sein. Ständig sind Augen und Ohren auf einen gerichtet. Man muss schreiben, als wäre man bereits tot. «Als ob nichts getan oder gesagt werden kann, um dich zu retten.» Man munkelt, jemand im Theater habe, kurz nachdem er einen unserer technischen Durchläufe besucht hatte, dem Medienrat einen Tipp gegeben. Wir waren nicht überrascht.

War das etwas Neues?

 

Aus dem Englischen von Frank Weigand

Der Autor, Herausgeber und Performer Kagayi Ngobi (Foto: Katara Nation)

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Kagayi Ngobi ist ein ugandischer Dramatiker, Dichter, Performer und Verleger. Er hat sechs Theaterstücke verfasst, vier eigene Gedichtbände veröffentlicht und 25 Bücher anderer Autor*innen herausgegeben. Als ehemaliger Anwalt gab er 2011 seine Praxis  auf, nachdem er eine Leerstelle in der Art und Weise erkannt hatte, wie ugandische Geschichten authentisch erzählt werden. Im selben Jahr wurde er Lehrer für Literatur und Lyrik an High Schools in ganz Uganda. Dabei fiel ihm eine noch größere Lücke im ugandischen Bildungssystem auf, das junge talentierte Menschen nicht eine literarische Laufbahn vorbereitet. Aus diesem Grund gründete er Kitara Nation, eine Poesie-Organisation, die mit jungen, aufstrebenden Künstler*innen zusammenarbeitet, um ihnen die notwendigen Fähigkeiten zu vermitteln, die literarische Landschaft Ugandas mitzugestalten. Kagayi engagiert sich weiterhin für die Zusammenarbeit mit jungen Künstler*innen, die Veröffentlichung ugandischer Inhalte und die Hinterfragung romantisierter Vorstellungen von gelebten afrikanischen Erfahrungen.

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Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

Im Rahmen des Kölner Festivals africologne ist Ngobi Kagayi am 6. und 7. Juni in der Orangerie mit seiner Performance «For my negativity» zu sehen. Außerdem nimmt er am 5. Juni um 21 Uhr an der Diskussionsrunde «Gewalt und Widerstand» teil.

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