Sechs Perspektiven auf das Übersetzen für Theater Werkstattgespräche

von Lydia Dimitrow

Das Château de Lavigny, Residenzort für Übersetzer*innen und Autor*innen (Foto: Lydia Dimitrow)

Neulich erst durfte ich als Gast in einem Podcast¹ sagen: «Sobald man sich mit dem Übersetzen beschäftigt, beschäftigt man sich auch mit der Vielstimmigkeit und der Multiperspektivität unserer Welt.» Für das Theater gilt das ganz ähnlich. Da gibt es nicht den einen Ton, die eine Handschrift. Theater entsteht, indem Kräfte zusammenwirken. Licht, Ton, der Raum, vielleicht Musik, Kostüm, Stimmen, Körper ­– aus verschiedenen Perspektiven und Visionen wird in einem Prozess ein vielstimmiges Ganzes. Wenn ich ein Theaterstück übersetze, frage ich mich immer, welche Rolle ich in diesem Prozess spiele. Für wen übersetze ich? Sicher, für das Publikum. Denn die Zuschauer*innen sollen den Text am Ende hören. Aber auch für die Menschen auf der Bühne, denn sie sollen den Worten einen Körper geben. Und überhaupt für die Theatermacher*innen, denn sie soll meine Übersetzung inspirieren. Ein guter Theatertext muss etwas öffnen. Denn wenn andere ihn noch füllen sollen, dann brauchen sie dafür Platz.

2022 wurde ich eingeladen, zusammen mit Lou Lepori einen Workshop zum Thema «Theater-Übersetzen» im Château de Lavigny zu leiten. Die Werkstatt wurde vom Centre de traduction littéraire de Lausanne organisiert und war für alle Ausgangssprachen offen; Zielsprache waren Deutsch und Französisch. Während unserer gemeinsamen vier Tage haben uns genau diese Fragen beschäftigt: Wie kann es uns gelingen, die Essenz eines Theatertexts in unsere Zielsprache, unseren jeweiligen Theaterdiskurs zu übertragen? Was müssen wir dabei mitgeben? Welche Lücken gilt es auszuhalten? Welche Entscheidungen kann nicht unsere Übersetzung klären, sondern müssen wir der Inszenierung überlassen? Und wie verschaffen wir womöglich bisher unbekannten Stimmen Aufmerksamkeit und Gehör?

Das größte Geschenk waren für mich die verschiedenen Perspektiven, die während unserer Werkstatt zusammenkamen. Die Begeisterung und das Engagement meiner Kolleg*innen für Theaterwelten, die mir bis zu unserer Begegnung verschlossen waren. Ihre unterschiedlichen Erfahrungshorizonte, Fragen und Expertisen. Fünf von ihnen habe ich in kurzen Schlaglichtinterviews hier versammelt.

Das „Hemingway“-Zimmer im Château de Lavigny mit Privatbibliothek Heinrich Maria Ledig-Rowohlts (Foto: Lydia Dimitrow)

Lou Lepori, Leiter der Werkstattgruppe Zielsprache Französisch

Der Begriff der Queerness spielt in deiner künstlerischen Tätigkeit eine große Rolle. Welche Bedeutung hat er für dich beim Theaterübersetzen oder im Theater überhaupt?

Als ich noch die Literaturzeitschrift Hétérographe mitherausgegeben habe, haben wir immer gesagt, Literatur ist zwangsläufig queer, denn sie arbeitet gegen den Strich, zwischen den Zeilen, sie lebt den Aufruhr und liebt das Abseits. Im Theater gilt das umso mehr, weil das Theater mit sämtlichen Ausdrucksformen spielt: Körper, Geste, Atem, Wort, Stille. Das Konzept der Queerness sollte nicht auf das Intime, auf Fragen nach Geschlecht, Gender und Sexualität beschränkt werden. Die Sprache selbst (Excitable Speech) eröffnet Queerness, denn wir sind ihr nicht (mehr) nur ausgesetzt, wir verändern sie, wir wagen uns auf neue Wege. Der*die Theaterübersetzer*in arbeitet an der Rückseite des Gewebes, wie Merleau-Ponty es formuliert hat; das ist eine ideale Position, um die Determinismen von zu straight gedachter Textualität zu vermeiden.

Welchen Einfluss hat es, dass du selbst Regisseur und Theaterautor bist, wenn du für die Bühne übersetzt?

Im Grunde müssen alle Theaterübersetzer*innen ihre eigene Position finden: Sie sind Autor*innen, Dramaturg*innen, Schauspieler*innen und Regisseur*innen zugleich, müssen aber auch mit den anderen Beteiligten aushandeln, welchen Platz sie in der Entwicklung des Stücks einnehmen: Wird von ihnen nur eine stimmige Übersetzung erwartet, mit der man gut weiterarbeiten kann?  Lassen sie den Text vollständig los, sobald er abgegeben ist? Oder haben sie die Möglichkeit (das fände ich am besten!), am Probenprozess teilzuhaben?

Was ist für dich die Herausforderung schlechthin beim Theaterübersetzen?

Die große Herausforderung ist: queer in translation sein, stammeln, stolpern, nicht die Löcher auffüllen, die Multidimensionalität des Texts bewahren; und eine ganz konkrete Aufgabe lässt sich mit der simplen Formel zusammenfassen: bloß keine Fußnoten! (Nicht mal implizite …)

Lydia Dimitrow im Garten des Château de Lavigny (Foto: Sophie Kandaouroff)

Frank Wenzel, Übersetzungsprojekt: Fantastic Mr Fox, Libretto von Donald Sturrock

Welche besonderen Herausforderungen bringt das Übersetzen von Musiktheater mit sich?

Librettos werden nicht mehr so häufig übersetzt; die Originalsprache wird im Gesang von den Sänger*innen und den Zuhörer*innen meist bevorzugt. Im Fall von Mr Fox ergibt die Übersetzung Sinn, weil die Oper (auch) für Kinder gedacht ist. Das heißt, der verwendete Wortschatz muss auch für ungeübte Ohren gut verständlich sein. Außerdem sollte die Originalnotation des Komponisten sowie die Silbenzahl des Librettisten in der Zielsprache möglichst beibehalten werden. Es gibt hier zwar etwas Spielraum, zum Beispiel hilft das Aufteilen der gesungenen Noten in Achtel, Sechzehntel und so weiter, auch Auftakte sind manchmal nötig. Aber auch damit hat man keine Garantie für einen gelungenen, der Originalfassung ebenbürtigen Sing- oder Redefluss in der Zielsprache. Es braucht im Umgang mit den Elementen Musik, Inhalt, Rhythmus und Silbenzahl ein sensibles Gespür.

Du hast u.a. Schauspiel studiert und bist auch schon mit Musik aufgetreten. Welche Rolle spielt deine eigene Bühnenerfahrung für dich beim Theaterübersetzen?

Ich bin zwar kein klassischer Sänger, konnte aber meine Erfahrung als Sänger und Performer in meine Schreibarbeit einfließen lassen. Es ist wichtig zu wissen, welche Worte und Lautkombinationen sich zum Singen eignen. Ein Aneinanderreihen von Plosivlauten und i- oder e-Lauten ist sowohl für Sänger*innen als auch für die Zuhörer*innen eine Herausforderung. Da sind dann beim Übersetzen kreative Alternativen gefragt, die sich für die Musikalität des Werks besser eignen. Jede Sprache verfügt zudem über ihre eigene Musikalität, bevorzugt bestimmte Rhythmen und Lautkombinationen. Englische Diphthonge und «gerade» gesungene, deutsche Vokallaute ergeben zum Beispiel sehr verschiedene Klangfarben. Das kann die Entscheidungen beim Übersetzen beeinflussen.

Franziska Bolli, Übersetzungsprojekt: Tutto per Lola von Roberta Skerl

Dein Stück Tutto per Lola greift verschiedene Elemente der Komödie auf. Welche Kraft kann von einer guten Komödie ausgehen?

Was ist eine Komödie? Was ist eine gute Komödie? Darüber müsste man sich zuerst unterhalten. Eine gute Komödie ist für mich Unterhaltung pur. Folgendes Bild drängt sich mir auf: Der Text ist wie eine Blumenwiese auf einer gesunden, nährstoffreichen Humusschicht. Ab und an wachsen Pfahlwurzeln bis auf das darunterliegende Gestein, sie verankern den Text in den harten Tatsachen, verweisen auf Verborgenes, nicht auf den ersten Blick Hörbares, Erkennbares, geben Halt und Gehalt, geben Einblick in die Psyche. Das Gleichgewicht muss stimmen. Im besten Fall vergisst das Publikum während der Vorstellung sich und die Zeit und verlässt anschließend gut aufgelegt und angeregt das Theater, mit dem unbestimmten Gefühl, etwas mitgenommen zu haben, was in ihnen weiterlebt.

Textbesprechung im Salon (v.l.n.r.) Franziska Bolli, Elsbeth Gut Bozzetti, Frank Wenzel (Foto: Lydia Dimitrow)

Elsbeth Gut Bozzetti, Übersetzungsprojekt Carta canta von Raffaello Baldini

Der Text, den du zu unserem Workshop mitgebracht hast, ist teilweise im Dialekt von Santarcangelo di Romagna geschrieben. Welche Lösungen hast du während und im Nachgang unseres Workshops dafür in deiner Übersetzung gefunden?

Carta canta ist ein sehr dicht gefügter Monolog eines sozialen Außenseiters, der in einem unkontrollierten Bewusstseinsstrom spiralförmig um sich selbst kreist, in unzählige Nebenerzählungen mäandert, assoziativ und sprunghaft zwischen Hochsprache und Dialekt hin- und herwechselt. Bei der Übersetzung habe ich sprachliche Akzente gesetzt, die von korrekter Hochsprache abweichen, wie etwa einen falschen Gebrauch des Dativs oder der Possessivpronomina oder Eigenheiten bei der Wortstellung. Außerdem habe ich ein thematisches Element aufgegriffen, und zwar den Verlust des Vokals «e» im Wortinneren – «Brandi», der Familienname des Protagonisten, lautete angeblich ursprünglich «Berandi», was die ganze absurde Handlung des Stücks erst in Gang setzt. Daran habe ich bei einigen Begriffen angeknüpft, aus «Operation» wird z.B. «Opration». Überhaupt verfälsche ich gewisse Termini, die dem medizinischen Fachvokabular entstammen: «Pendizitis», «Ohrtitis» usw. Der Sprecher eignet sich hier Ausdrücke an, die offensichtlich nicht seinem geläufigen Vokabular entsprechen. Und schließlich arbeite ich in meine Übersetzung immer wieder Interjektionen aus der italienischen Sprache ein. Die sind meist monosyllabisch, inhaltlich wenig bedeutend, aber aus dem Kontext erschließbar, und so werden der Monolog geografisch verortet und das perkussive Sprechen des Protagonisten verstärkt. Gegen Ende des Stücks häufen sich die Interjektionen und wachsen sich zu teils auch derb-vulgären Flüchen aus.

Wolfgang Barth, Übersetzungsprojekt: Le goût du sel von Stéphane Bientz

Du hast im Rahmen unseres Workshops an einem Jugendtheaterstück gearbeitet. Warum sind gute Theatertexte für Kinder und Jugendliche so wichtig?

Auf Kinder und Jugendliche strömt die vitale Schönheit des Lebens ein, aber auch die großen Bedrohungen, die existentiellen Probleme, die ungelösten Rätsel. Vieles fasziniert, vieles macht Angst. Oft ist schwer zu benennen, worum es geht. Wo soll man anfangen? Kann man mit jemandem reden? Die Welt erfährt und verarbeitet man im Austausch mit anderen, in der Auseinandersetzung über die Dinge, die man sieht und erlebt. Im theoretischen Raum ist das schwer. Das Jugendtheater bietet das direkte Erleben an und liefert Beispiele des Umgangs damit. Auf der Bühne stehen Menschen, in denen man sich wiederfinden kann. Man sieht das Geschehen gemeinsam und kann danach darüber sprechen. Theater öffnet. Theater ist Erleben und macht Spaß, und man ist nie allein.

Gruppenbild mit Teilnehmer*innen der Werkstatt, Teammitgliedern des CTL und den beiden Workshopleiter*innen Lou Lepori und Lydia Dimitrow (Foto: Camille Luscher)

 

¹»Jetzt spricht der Übersetzer, die Übersetzerin». Ein Podcast von viceversaliteratur.ch. Folge #3: Lydia Dimitrow über Der Zoo in Rom von Pascal Janovjak. Ebenfalls zu hören auf Apple Podcasts und auf Spotify.

 

Die Teilnehmenden des Seminars waren: Wolfgang Barth, Franziska Bolli, Sofiane Boussahel, Elsa Cailletaud, Elsbeth Gut Bozzetti, Monique Kountangni, Sophie Lechauguette, Fanette Macanda-Thibaut, Frank Wenzel

Das Interview mit Lou Lepori wurde von Lydia Dimitrow aus dem Französischen übersetzt.

Nützliche Links:
Centre de traductions littéraire de Lausanne
Château de Lavigny (Residenz für Übersetzer*innen und Autor*innen)

 

Lydia Dimitrow (Foto: Sophie Kandaouroff)

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Sie ist Autorin von Theatertexten und Prosastücken und arbeitet als Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u. a. Ross Dunsmore, Valérie Poirier, Gwendoline Soublin und Aristide Tarnagda). Außerdem ist sie Gündungsmitglied der deutsch-französischsprachigen Theaterkompanie mikro-kit, die u.a. am Théâtre de Vidy-Lausanne, am Saarländischen Staatstheater und an der Schaubude Berlin inszenierte.

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