Sula Textor und Pauline Fois haben gemeinsam «Gloria Gloria» von Marcos Caramés-Blanco übersetzt Feuer und Flamme: unsere erste Co-Übersetzung

«Gloria Gloria» inszeniert von Sarah Delaby-Rochette, mit Gaïa Oliarj-Inés in der Titelrolle (Foto: Marie Charbonnier)

Wie überträgt man den schrillen Befreiungstrip einer Figur, die vom Autor bewusst uneindeutig gestaltet wurde, ins Deutsche? In ihrem Essay – unserem vierten zum Thema kollaboratives Übersetzen –  lassen Sula Textor und Pauline Fois ihre vierhändige Arbeit Revue passieren und sprechen über gemeinsame innere Monologe, Wortwitze, das Dilemma Klang vs. Bedeutung, poetisch klingende Reinigungsmittel und genau dosierte Vulgarität. Ein spannender Einblick in die leider allzu prekäre Welt der Co-Übersetzung.

 

von Pauline Fois und Sula Textor

Im November 2022 hat Sula (Übersetzerin aus dem Französischen) gerade das Stück Gloria Gloria von Marcos Caramés-Blanco gelesen, da kommt es zu folgendem kurzen Austausch per WhatsApp mit Pauline (Übersetzerin aus dem Deutschen):

Sula:          Co-Übersetzung?
Pauline:       Haha hast du Bock?
Sula:          Sehr!
Pauline:       Cool, ich nämlich auch 😊

Und damit war es im Grunde schon beschlossene Sache: Wir würden den Text zu zweit übersetzen, als deutsch-französisches Tandem. Pauline war mit Gloria Gloria schon länger vertraut. Im vorherigen Sommer hatten wir bei einem Glas Wein schon einmal kurz darüber gesprochen, hängen geblieben ist von diesem Gespräch vor allem: «Das musst du unbedingt lesen!» Anfang Dezember tauschten wir uns dann zunächst ausgiebig über das Stück aus und beschlossen, uns im Januar an die Arbeit zu machen.

Niemand hat es kommen sehen. Dabei steht Gloria unter ständiger Beobachtung. Ihr Leben ist genau getaktet. 5:30 Uhr, der Wecker klingelt, sie dreht sich eine Zigarette, macht sich fertig. Sie schlüpft in ihre High Heels, bringt den Müll raus, geht zur Arbeit, sie geht zu Fuß, am Straßenrand, und dreht sich eine. Um 8:35 Uhr ist sie bei Paule, der alten Frau, bei der sie putzt, der sie auch den Hintern abputzt, wenn es sein muss, und es muss, sie muss. Mittags stellt sie zu Hause ihrem untätigen Freund José das Essen hin, wäscht ab, dreht sich eine. Steckt sie an. Und atmet auf.
Niemand hat etwas geahnt, und doch gerät plötzlich alles aus der Bahn. Ob Absicht oder Unfall: Es gibt kein zurück. Gloria wird von Zerstörungswut gepackt. Nichts und niemand kann sie mehr aufhalten. Und während hinter ihr alles in Flammen aufgeht, sitzt sie fröhlich mit der Jungfrau Maria in Gestalt einer Dragqueen im Auto auf dem Weg nach Paris.
Am Morgen danach versucht ihre beste Freundin Rita zu verstehen, was da eigentlich passiert ist. Woher kommt Glorias Gewaltausbruch? Woher die Anziehung zwischen den beiden Freundinnen, die sich am Ende als Liebende in den Armen liegen? Schritt für Schritt geht Rita nochmal genau durch, wie in diesem einen Tag in Glorias Leben eins zum anderen führt. Mit ihr werden wir Zeugin eines rasanten Befreiungstrips, schrill, vulgär und rotzig.

Dass sich die Idee, den Text zusammen zu übersetzen, für uns geradezu aufdrängte, lag zum einen am Text selbst: Bei so nuanciert gearbeiteten Stimmen, bei so viel Umgangssprachlichem, Vulgärem, bei so subtiler Ironie und so viel Witz auf allen Ebenen ist muttersprachliche Unterstützung für die deutschsprachige Übersetzerin Gold wert. Zum anderen hatten wir uns, seit wir uns beim Goldschmidt-Programm für junge Literaturübersetzer*innen kennengelernt haben, bei fast allen Texten, die wir übersetzt haben, intensiv ausgetauscht, haben beieinander muttersprachlichen Rat gesucht und gemeinsam über Übersetzungsproblemen gebrütet – und das war immer sehr produktiv und zudem eine sehr willkommene Abwechslung von der Arbeit allein am Schreibtisch.

Trotzdem ist die Entscheidung für die Zusammenarbeit als ziel- und ausgangssprachliches Übersetzungstandem alles andere als selbstverständlich und nicht ohne Grund eher eine Seltenheit. Denn es ist ja nicht so, dass sich der Zeitaufwand für die beiden Beteiligten durch die Zusammenarbeit halbieren würde, wenn man das Potenzial dieser Konstellation wirklich nutzen möchte. Eine Co-Übersetzung ist ein bisschen so, als würden die inneren Monologe, die man beim Übersetzen führt, zum Dialog mit einer realen Gesprächspartnerin. Daher dauert die Vorarbeit im Tandem in der Regel wesentlich länger, weil zwei Gehirne mehr Ideen und Überlegungen produzieren als eines. Manchmal gelangt man bei der Übersetzung durch die vorab investierte Zeit dann schneller zu einer guten Lösung – manchmal ist genau das Gegenteil der Fall.

Während der Zeitaufwand also nicht geringer ist als bei einer Einzelübersetzung, halbieren sich Honorare und Stipendien sehr wohl. Dafür würden wir zu zweit aber bestimmt doppelt so viel Spaß beim Übersetzen haben – und im Ergebnis hoffentlich eine deutsche Fassung des Stücks, die ein deutschsprachiges Publikum genauso begeistern würde wie uns das Original. Als Anschubfinanzierung für unsere Arbeit durften wir uns dann über die Zusage eines Initiativstipendiums freuen, mit dem der Deutschen Übersetzerfonds Projekte wie unseres fördert.

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Wir haben versucht, zu rekonstruieren, wie wir vorgegangen sind. Wir hatten uns vorab nämlich nicht methodisch eine bestimmte Arbeitsweise auferlegt, vielmehr hat sich der Prozess ganz spontan und natürlich ergeben: Zuerst haben wir uns intensiv über den Text ausgetauscht, darüber, wie wir die Figuren erleben und wer Gloria eigentlich ist (dabei waren wir sehr darauf bedacht, Gloria als Figur nicht zu sehr festzulegen). Anschließend haben wir eine kommentierte Version des Originaltextes erstellt, haben Fragen ergänzt oder Anmerkungen, wo uns eine besondere Schwierigkeit oder eine mögliche Fehlinterpretation zu lauern schien. Nachdem diese Kommentarversion ein, zwei Mal hin- und hergegangen war, hat Sula eine erste deutsche Fassung als gemeinsame Arbeitsgrundlage erarbeitet. Im ersten Schritt hat Pauline diese Fassung noch einmal ganz genau mit dem Original abgeglichen und markiert, wo Abweichungen auftauchten.

Hier setzten wir dann mit der Überarbeitung an. Denn neben ein paar Fehlern, die sich in der ersten Fassung eingeschlichen hatten und die schnell korrigiert waren, hatte Pauline einen Großteil der Stellen ausfindig gemacht, wo es interessant wurde, wo die Arbeit also erst so richtig anfing: Ausdrücke, die die verschiedenen Figuren charakterisieren und wo es im Deutschen ganz eigene Lösungen zu finden galt, um genau den richtigen Tonfall, den richtigen Grad an Vulgarität, Schärfe oder Zuneigung zu treffen. Sprachliche Ticks im Sprechen der Figuren, die im Deutschen nicht in der gleichen Weise und oft auch nicht an den gleichen Stellen in der Rede vorkommen können. Bedeutungsoffenheit und Zweideutigkeiten, die oft nur durch kleinere Abweichungen vom Original erhalten werden können, und die für den Text eine zentrale Rolle spielen. Und – ein Klassiker unter den Übersetzungsproblemen: Wortwitze. Davon gibt es in Gloria Gloria einige, subtile und unscheinbare genauso wie schrille und slapstickhafte. Hier muss für die Übersetzung eine Lösung gefunden werden, die mit der gleichen Kürze auskommt, denn mit der Beiläufigkeit oder Lakonik geht ja auch der halbe Witz verloren.

Außerdem spannen sich semantische Netze durch den Text, bestimmte Wörter oder Wortbausteine werden immer wieder wiederholt und ihre Bedeutungen systematisch variiert. Dadurch entstehen Querverbindungen, die irgendwie erhalten werden müssen, auch wenn im Deutschen oft verschiedene Wörter verwendet werden, wo im Französischen das gleiche stehen kann. Für einige der Problemstellen ließ sich im Austausch schnell eine Lösung finden, andere blieben auch nach langen Diskussionen ‚Baustelle‘, weil sich eine Entscheidung erst mit der fertigen Übersetzung als Gesamtkontext treffen ließ.

Wichtige Erkenntnisse haben wir nicht zuletzt daraus gewinnen können, wie wir im Einzelfall zu einer Lösung gefunden haben. Ein paar Beispiele dazu möchten wir hier gerne teilen. Dafür sind wir noch einmal in unterschiedliche Versionen unserer Übersetzung abgetaucht und haben ein paar Auszüge hervorgeholt, die hoffentlich einen guten Eindruck zu unserer Arbeitsweise und den zentralen Problemen bei der Übersetzung geben.

***

Paulines Schreibtisch steht in Leipzig, der von Sula in Berlin. Allzu weit ist der Weg zum Glück nicht, aber im Alltag fehlt dafür doch oft die Zeit, sodass wir meist zeitversetzt in Word-Dokumenten mit immer dichter gefüllten Kommentarspalten gearbeitet haben. Die wenigen Male, die wir im direkten Gespräch arbeiten konnten, waren zwar vielleicht nicht unbedingt notwendig, aber sehr bereichernd. Zum einen in Sachen Effizienz und für die Qualität der Übersetzung: Im mündlichen Austausch ist der Ton bei allem gegenseitigen Vertrauen doch direkter als im schriftlichen, sodass Vorschläge schneller und leichter wieder verworfen oder übernommen werden. Aber auch die Stimmung hat davon enorm profitiert: Je mehr wir über den Text gesprochen haben und je tiefer wir in ihn eingedrungen sind, desto begeisterter waren wir von den Details, der Subtilität und desto motivierter, die Arbeit an der Übersetzung abzuschließen.

Vor allem bei Passagen, wo die Sprache und das Vokabular stark mündlich geprägt sind, war der direkte Austausch im Gespräch entscheidend. Wo es im schriftlichen Austausch schwierig ist, die genaue Bedeutung eines Satzes zu erklären, die vielleicht eher aus einem Unterton entsteht, reicht es, die Stelle mit unterschiedlichen Betonungen auszusprechen, und die Sache ist klar. Vor allem in den Passagen, in denen es keine Interpunktion und manchmal noch nicht einmal Groß- und Kleinschreibung gibt, war das wiederholte laute Vorlesen mit unterschiedlicher Intonation sehr wichtig – sowohl beim Durchdringen des Originals als auch bei der Feinarbeit an der Übersetzung.

Ein Beispiel: Während Gloria sich früh am Morgen fertig macht, läuft im Fernsehen ein Interview mit Marine Le Pen, in dem diese sagt: «Unser Land ist kein Hotel.» Wie Gloria über die fremdenfeindliche Haltung, die Le Pen mit diesem Satz anstachelt, denkt, wissen wir nicht. Aber der Satz trifft bei ihr einen Nerv, sie spricht mit vage ironischem Unterton gegen den Fernseher an und schaltet ihn schließlich ab, mit einem Kommentar, den wir in einer ersten Fassung so übersetzt hatten:

«GLORIA. – So tschau Marine bye bye, ein vergammelter alter Zeltplatz ist das hier vielleicht, höchstens, schön zum draußen in der Natur übernachten auf dem Boden ohne Matratze mitten im Dreck so was ja, ein Hotel Frankreich ein Hotel die ist gut diese Marine die ist lustig das ist doch kein Hotel echt jetzt wir sind doch hier verdammt nochmal nicht im Vier-Sterne-Hotel.»

Pauline, 13. März 2023, 11:39:
Hier hängt noch etwas, finde ich. Das ist auf Französisch sehr ironisch/auf Deutsch eher zustimmend, der Ton scheint mir noch zu ernst.
und 11:41:
Das «non sans blague», das im Original nach «unser Land ist kein Hotel» steht, ist eine rhetorische Frage. Im Prinzip ist «echt jetzt» dafür richtig, aber ich bin nicht sicher, ob man das dann mit der richtigen Bedeutung liest, liegt vielleicht auch am Rest des Satzes. Das geht in Richtung «Wirklich? Ernsthaft?…» Aber vielleicht ist es einfacher, wenn wir da drüber sprechen. 😉

Und tatsächlich war das Problem dann schnell gelöst, als wir uns die Stelle mehrfach gegenseitig vorgelesen hatten, immer mit einer leichten Verschiebung in der Betonung:

«GLORIA. – So tschau Marine bye bye, ein vergammelter alter Zeltplatz ist das hier, höchstens, schön zum draußen in der Natur übernachten auf dem Boden ohne Matratze mitten im Dreck so was ja, ein Hotel Frankreich ein Hotel die ist gut diese Marine die ist lustig kein Hotel ach was wirklich nein im Vier-Sterne-Hotel sind wir ja wohl nicht, schon klar.»

Entscheidend bei der Übersetzung von Glorias Kommentar zu Le Pens Hotel-Vergleich ist nicht zuletzt, dass dem ironischen Unterton etwas Vages bleibt, das gar nicht so genau einzuordnen ist. Glorias Aussage hat ‚Spiel‘, es ist nicht ganz klar, was ihr dabei durch den Kopf geht; sie erklärt sich nicht, denn es hört ihr ja ohnehin niemand zu. In diesen feinen Spielräumen liegt in Gloria Gloria eine enorme Kraft. Je unauffälliger diese Bedeutungsspielräume sind, desto leichter kann es passieren, dass sie beim Übersetzen verloren gehen, dass man sie übersieht und die Übersetzung zu schlüssig, zu genau, zu sehr auf eine mögliche Intonation und Intentionalität festgelegt ist. Es gibt aber auch Momente im Stück, in denen solche Ambivalenzen selbst in den Vordergrund treten. Zum Beispiel in einer Szene, in der Gloria Paule widerwillig dabei hilft, ein Bad zu nehmen:

PAULE. −      UND SEIEN SIE DOCH BITTE VORSICHTIG MIT DEM EINGESTECKTEN FÖHN DA DIREKT NEBEN DER BADEWANNE GLORIA.

GLORIA. –    UND SEIEN SIE DOCH BITTE VORSICHTIG MIT DEM EINGESTECKTEN FÖHN DA DIREKT NEBEN DER BADEWANNE MADAME…. Pause HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! HA! –

PAULE. –      Gloria ich will hier raus.

GLORIA. –    Madame ich will hier raus.

PAULE. –      Aber wo denn raus du redest ja völligen Blödsinn hör auf Gloria stop stop stop.

GLORIA. –    STOP.

lange Pause

RITA. – Du beugst dich langsam vor, um sie hochzuheben.
[…]
RITA. – Du greifst nach einem Handtuch, der Föhn landet im Wasser.

Dieser letzte Satz, der auf Französisch ganz schlicht und unauffällig daherkommt, stellt einen zentralen dramaturgischen Wendepunkt im Stück dar: «En attrapant une serviette, tu fais tomber le sèche-cheveux dans la baignoire.» Hier kommt es natürlich darauf an, dass die Ungewissheit darüber, ob Gloria vorsätzlich handelt, erhalten bleibt.

Um sicherzugehen, haben wir in diesem Fall Rat bei unserer Übersetzerkollegin Merle gesucht, die – ohne Kenntnis des Stücks – unvoreingenommen die Wirkung verschiedener Übersetzungsvarianten beurteilen konnte. Folgende Lösungen standen dann zur Debatte:

Sula, 01.04.2023, 14:41:
Du greifst nach einem Handtuch und der Föhn fällt ins Wasser./
Du greifst nach einem Handtuch, dabei stößt du den Föhn ins Wasser./
Als du nach einem Handtuch greifst, stößt du den Föhn in die Wanne.
Mir scheint, alle drei funktionieren ganz gut. Bei der zweiten Lösung im Kommentar sind wir vielleicht am nächsten am Original. ‚Stoßen‘ kann da ja auch versehentlich sein.

Pauline, 10.05.2023, 10:06:
Ich finde die letzte Lösung am besten, ist zwar nicht so hübsch, aber ich denke in diesem Satz ist es sehr wichtig, dass wir die Pronomen beibehalten, auf Französisch hätte man nämlich auch sagen können: ‚le sèche-cheveux tombe‘, aber da steht «TU fais tomber». Wahrscheinlich ist es ein Versehen, klar, aber sie hat ihn produziert. Oder?

Diese zwei Aspekte galt es also gegeneinander abzuwägen – die Frage des Pronomens und die Offenheit der Aussage. Nach allen Überlegungen blieben wir bei unserer ersten Lösung. Manchmal liegt man mit der ersten Intuition richtig, aber es geht ja vor allem darum, zu verstehen warum, und dafür ist oft ein Umweg nötig.

Auch mit dem ewigen Dilemma «Klang vs. Bedeutung» waren wir konfrontiert. Marcos Caramés-Blanco baut in Gloria Gloria, zwischen Ritas Wiedergabe der Ereignisse, sehr poetische narrative Passagen in kursiver Schrift ein, wo der Rhythmus beim Schreiben offensichtlich eine wesentliche Rolle gespielt hat. Hier haben wir uns bei der Übersetzung also vor allem auf den Klang und die Melodie konzentriert, haben uns gegenseitig korrigiert, hier ein bisschen in diese, dort in jene Richtung gedrängt, bis der Text sein Gleichgewicht gefunden hatte. Manchmal waren wir überrascht, dass uns gerade scheinbar banale Wörter Schwierigkeiten bereiteten, weil sie eine unerwartete, poetische Dimension enthielten, wie zum Beispiel «eau de Javel». Erst bei der Übertragung ins Deutsche wurden wir darauf aufmerksam, dass sich aus dieser scheinbar trivialen Bezeichnung eines Putzmittels eine vielschichtige Klanglichkeit entfaltet. Wie soll man dem bloß auf Deutsch gerecht werden, wo keine Reinigungsmittelmarke auch nur annähernd so verbreitet ist wie «eau de Javel» und wir daher auf das, denkbar unpoetische, Wort «Chlorreiniger» ausweichen mussten (dass es sich gerade um einen solchen handelt, ist inhaltlich nämlich schon entscheidend). Das Wort taucht häufiger auf, mit Reimen, Assonanzen, Alliterationen oder – wie im folgenden Beispiel aus der ersten, noch recht wörtlichen Fassung der Übersetzung – einfach durch den Rhythmus in den Text verwoben:

«elle vide le flacon d’alcool dans la bouteille de javel»
«sie kippt das Fläschchen Alkohol in die Flasche mit dem Reiniger»

Sula, 8. März 2023, 15:18:
oder kürzer: «sie kippt den Alkohol zu dem Chlor/Reiniger»
oder freier: «sie leert das Fläschchen in die Flasche»

Pauline, 13. März 2023, 12:20:
«Hier würde ich mich eher am Rhythmus als am Sinn orientieren, der Parallelismus klingt sehr schön auf Französisch. Vielleicht also: «Fläschchen in die Flasche»? Ich hab das Gefühl, mit unserem hübschen ‚Reiniger‘ kriegen wir keinen so schönen Parallelismus hin.»

Auch bestärkt durch die Rückmeldung des Autors zu inhaltlichen Detailfragen, die wir zu diesen poetischeren Passagen hatten, warfen wir unsere Bedenken bezüglich der inhaltlichen Genauigkeit über Bord und ließen uns auch in der Übersetzung vom Klang und vom Rhythmus leiten. In der Übersetzung lautet diese Zeile deshalb:

«sie leert das Fläschchen in die Flasche»

Aus Alkohol und «eau de javel» wird ein Brandbeschleuniger, und von hier sind es nur ein paar Schritte und Handgriffe bis zur pyromanischen Euphorie, bis alles in Flammen steht. Jetzt gibt es kein Zurück, nur ein nach vorne. Immer weiter, die Straße entlang, im Takt der Musik…

***

Diese erste Erfahrung mit einer Co-Übersetzung hat uns mehrere Dinge deutlich gemacht. Erstens dass der Text von zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und von der Perspektive einer französisch- und einer deutschmuttersprachlichen Person sehr profitiert. Besonders deutlich wurde das, weil eine der größten Herausforderungen bei der Übersetzung von Gloria Gloria darin bestand, die Feinheit und die Ambiguität der Figuren zu erhalten, nichts von ihrer Komplexität zu unterschlagen, und so den Spielraum für die Dramaturgie- und Regiearbeit nicht einzuschränken. Zweitens ist in der Arbeit überraschend deutlich geworden, dass das, was uns dabei half, dieses Gelichgewicht zu erhalten, der direkte mündliche Austausch war, die Möglichkeit, Betonungen zu variieren, sich sprechend voranzutasten, um die Stimmen der Figuren möglichst präzise, in ihrer ganzen Tiefe zu fassen. Und nicht zuletzt hat uns die Arbeit an Gloria Gloria auch gezeigt, wie viel Zeit und geistige Ressourcen es braucht, um dieses Potenzial der Co-Übersetzung auch auszuschöpfen. Gerade bei einem Initiativprojekt mit entsprechend prekärer Finanzierungslage, wo die Arbeit an dem Text zugunsten anderer Projekte auch hin und wieder ruhen muss.

Bleibt nur zu hoffen, dass Gloria Gloria bald auch im deutschsprachigen Raum einen Verlag und damit den Weg auf die Bühnen findet. Wir können es jedenfalls kaum abwarten, unsere Erlebnisse mit dem Text zu teilen!

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Gloria Gloria von Marcos Caramés-Blanco ist im Februar 2023 bei Éditions Théâtrales erschienen und wird im September 2023 am Théâtre de la Villette in einer Inszenierung von Sarah Delaby-Rochette in Paris uraufgeführt.

Die deutsche Übersetzung des Stücks von Pauline Fois und Sula Textor wurde mit einem Initiativstipendium des Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Pauline Fois (Foto: d.r.)

Pauline Fois ist 1994 in Toulouse geboren. Ihr Germanistikstudium hat sie dort angefangen und in Dresden abgeschlossen. Seit vier Jahren übersetzt sie Prosa und Theater aus dem Deutschen. Sie hat Texte von Caren Jeß und Philipp Böhm übertragen. Sie lebt in Leipzig.

Sula Textor (Foto: d.r.)

Sula Textor ist 1992 nahe der deutsch-französischen Grenze geboren. Sie hat Englische Philologie, Europäische Kunstgeschichte und Vergleichende Literatur- und Kunstwissenschaft in Heidelberg, Paris und Potsdam studiert. Seit 2019 übersetzt sie Prosa, Lyrik und Theatertexte aus dem Französischen und Englischen.

Der Autor Maco Caramés-Blanco (Foto: Tuong-Vi Nguyen)

Marcos Caramés-Blanco, 1995 geboren, ist Theaterautor. Sein Studium in Szenischem Schreiben schloss er an der École Nationale Supérieure des Arts et Techniques du Théâtre in Lyon ab. Er ist unter anderem Autor der Stücke Gloria Gloria(Éditions Théâtrales, 2023), Trigger Warning, Ce qui m’a pris, À sec, Bouche cousue (Troisième regard − saison 3, Éditions Théâtrales Jeunesse, 2022) & Alann. 2022 war er Stipendiat des Théâtre National La Colline. Seine Stücke werden von Rémy Barché, Sarah Delaby-Rochette, Maëlle Dequiedt, Isis Fahmy, Jonathan Mallard und Karelle Prugnaud inszeniert. In der Spielzeit 2022−2023 ist Marcos Caramés-Blanco assoziierter Autor bei L’Arc – scène nationale in Le Creusot.

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