Wer sagt, dass die Liebe nicht andauert? André und Madeleine leben seit über 50 Jahren zusammen und sind schließlich eins geworden, tief verankert in Zärtlichkeit und in der gemeinsam verbrachten Zeit. Sie sind untrennbar, jeder wird zur Stütze des anderen. Aber die Zeit und das Alter werden immer mehr zu einem Unwetter, die Zukunft ist ungewiss. Sich dieses Umstandes bewusst, verbringen die beiden Töchter Anne und Elise das Wochenende bei Ihnen, um zu helfen eine neue Organisation zu finden. Aber alle Beteiligten sehen die Zukunft verschieden. Vor dem Entschwinden ist ein Traumreise, die um die finalen Fragen des Lebens kreist: «Was passiert wenn ich vor ihr gehe? Und umgekehrt? Wer kümmert sich um mich? Könnte ich den Verlust überstehen? Ist es Zeit auch zu gehen?» All diese Fragen lassen ein Labyrinth von Unsicherheiten entstehen, in welchem sich André und Madeleine bis hin zum Zweifel ihrer wirklichen Existenz verlieren. Der einzige Ausweg: Liebe, die darin besteht, mit dem anderen das Gefühl zu teilen sterblich zu sein.
«Mitten im stärksten Sturm gibt es stets einen Vogel, der uns Zuversicht schenkt. Es ist der unbekannte Vogel. Der, der vor dem Entschwinden singt.» Dieses kurze Gedicht von Réné Char aus seiner Sammlung «Die Frühaufsteher» ist der emotionale Schlüssel für das Stück von Florian Zeller. Emotionaler Schlüssel, da es weder logische, narrative, noch reale gibt. Die Wahrheit bleibt für das Publikum und für die Figuren unergründlich. Der Autor führt uns dahin, wo etwas vielleicht wahr ist oder vielleicht falsch. Aber nicht, um uns irrezuleiten und uns zu zwingen, die Unwahrscheinlichkeit unserer eigenen Gewissheiten zu erkennen, sondern um sein Stück von jedem Wunsch nach Wahrscheinlichkeit zu lösen und uns zu einem gewissen Loslassen zu bewegen. Akzeptieren, nicht verstehen; weitergehen, ohne sich an einem konkreten Geländer festzuhalten: Es ist das Ziel dieses sich der Realität entziehenden Schreibens, unser tiefstes Mitgefühl zu erwecken. Natürlich würde das nicht funktionieren, wenn dabei die Realität nicht missachtet und all dies nur in einem leeren und metaphysischen Raum geschehen würde. Die Stärke des Textes von Florian Zeller besteht darin, dass er die Realität durch Realität auflöst. Was kommt dabei heraus? Ein Konzentrat aus Gefühl, Sehnsucht, Trauer, aber auch aus Licht, Leben. Vor dem Entschwinden ist eine überwältigende Hymne an die Liebe – sogar über ihr unvermeidliches Ende hinaus.