
Eine Lektüre der gesellschaftskritischen Bücher des neuen Kulturstaatsministers Wolfram lesen – ein Selbstversuch

Seit dem 6. Mai 2025 ist der Publizist, Verleger und Medienunternehmer Wolfram Weimer Staatsminister für Kultur und Medien in der neuen schwarz-roten Regierung. Um sich ein Bild von der Gedankenwelt des frischgebackenen Politikers zu machen, hat die Übersetzerin und Dramaturgin Miriam Denger einen kritischen Streifzug durch 20 Jahre Textproduktion des bekennenden Konservativen unternommen. Zwischen Döner-rants, Mauerfall-Romantik und unverhohlenem Selbst-Recycling stieß sie dabei auch auf perspektivische Unschärfen und Geschichtsrevisionismus.
Von Miriam Denger
«Kultur und Medien, der Mann kann beides» jubelt Friedrich Merz, als er mit Wolfram Weimer seinen künftigen Staatsminister erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Weimer strahlt dazu brav in die Kamera. Natürlich ist er als langjähriger Verleger und Journalist mit der Medienwelt vertraut, mit dem Kulturmilieu dagegen verbindet ihn wenig bis nichts. Entsprechend ablehnend fallen die Reaktionen aus diesen Kreisen aus. Nicht nur wegen der fehlenden Erfahrung des neuen Staatsministers (an Respektlosigkeiten à la «Kultur kann doch jeder» sind Künstler:innen ja traurigerweise gewöhnt), sondern vor allem aufgrund von Aussagen aus Weimers früheren Publikationen und Texten, die reaktionäre und rassistische Denkmuster erkennen lassen, mithin ein Weltbild, das mit einer «offenen, diversen und kritischen Kulturlandschaft», wie 70.000 Unterzeichnende einer von Theaterleuten initiierten Anti-Weimer-Petition sie fordern, schlicht unvereinbar scheint. Ein Kulturkampf, noch vor Amtsantritt. Doch Weimers beinahe schon symbolische Besetzung durch Merz wirft die Frage auf, wie weit rechts auf der politischen Skala ein (parteiloser) Staatsminister eigentlich stehen darf?
Weimer ist nicht nur Journalist und Herausgeber von Blättern wie Focus, Die Welt, Cicero oder The European, sondern hat als Autor in den letzten 20 Jahren auch mehrere von Kritik und Publikum eher wenig beachtete Bücher geschrieben, die derzeit insofern eine kleine Aufmerksamkeits-Renaissance erleben, als sie von Journalist:innen auf der Suche nach skandalträchtigen Zitaten für ihre Beiträge durchkämmt werden. Der erste dieser Beiträge stammt erstaunlicherweise von Jürgen Kaube, Herausgeber der FAZ, der Weimers Texte in der Luft zerreißt und in Bezug auf dessen Eignung zum Staatsminister zu einem klaren Urteil gelangt: Weimer sei «der falsche Mann am falschen Platz».[1]

Presto Manifesto!
Wenn selbst die konservative FAZ sich so gegen Weimer stellt, dann ist es Zeit für einen Selbstversuch! Fünf Werke von Wolfram Weimer dienen als Grundlage für einen eigenen Eindruck, allen voran «Das Konservative Manifest» (2018) sowie «Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit» (2009), ergänzt von «Land unter» (2012), «Credo» (2006) und «Sehnsucht nach Gott» (2021). Wie sich praktischerweise herausstellt, überschneiden sich die darin enthaltenen Text oftmals großflächig in Form ganzer Kapitel. Offenbar verwendet Weimer seine Texte gerne mehrfach (oder rechnet nicht damit, dass ein:e Leser:in zu mehr als einem seiner Bücher greifen könnte). So entsteht der Eindruck eines großen Textbaukastens, aus dem er sich bedienen und je nach Oberthema die Klötzchen neu zusammensetzen kann. Das Ergebnis passt nicht immer so ganz, denn unterschiedliche Fragmente werden von unterschiedlichen thematischen Kontexten nun mal unterschiedlich aufgeladen und wirken auf Text und Rezeption unterschiedlich zurück. Kurz gesagt, Weimer zitiert sich häufig selbst, reißt seine Texte auf diese Weise aber auch (selbst) aus einigen relevanten Zusammenhängen heraus, und nimmt damit in Kauf, dass sie im Endergebnis leichter missverstanden werden.
Ein unvollständige Auswahl solcher «Bauklötzchen» aus Weimers Setzkasten werde ich im Folgenden etwas näher beleuchten, um exemplarisch prägnante Sprach- und Denkmuster des Staatsministers aufzuzeigen und dem ein oder anderen inhaltlichen Bogen zu folgen.
Es geht dabei nicht darum, unbedingt die skandalträchtigsten sprachlichen Entgleisungen zu finden – weil die ohnehin längst im Netz kursieren.

«Der Konservative»
Was es bedeutet, in der heutigen Zeit konservativ zu sein, ist für Weimer eine sehr zentrale Frage, der er gleich zwei seiner Bücher gewidmet hat: «Das konservative Manifest. Zehn Gebote der neuen Bürgerlichkeit» (2018) und «Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit. Warum die Krise uns konservativ macht» (2009) – ein sehr typischer Untertitel für den Autor Weimer, der seine Schrifterzeugnisse gerne als Pamphlete, Streitschriften, Breviers, «kämpferische Fibeln», «Fin de Siècle-Anklageschriften» und dergleichen mehr verstanden wissen möchte. Auch die rhetorische Strategie des «übergriffigen Wir», auf das ich im weiteren Verlauf noch näher eingehen werde, hat es bereits in diesen Untertitel geschafft. Krise macht konservativ? Nichts weiter als eine Behauptung, doch eine, in die Weimer «uns» alle einschließt, was zur Folge hat, dass wir die Behauptung leichter schlucken und uns schneller mit ihr identifizieren.[2]
Das «Manifest» verspricht Orientierung in Sachen Konservatismus. Die Leserin erfährt: «Der Konservative ist Patriot, der Konservative steht zum gefühlten Vaterland wie zur Muttersprache, der Konservative fühlt das Abendland als Heimat». «Der Konservative» schätzt Werte, er hält Rechtstreue für ein hohes Gut, Fleiß, Sparsamkeit und Privateigentum sind für ihn Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs. Eine immer wieder in den Text eingestreute Aufzählung von mindestens 30 solcher Charakteristika, die den Konservativen auszeichnen. So weit, so Klischee. Aber lernt man ihn, diesen Konservativen, durch all diese Zuschreibungen besser kennen? Nicht so richtig. Auch die Erkenntnis, dass sein Leben «aus dem kommt, was immer gilt, und nicht aus dem, was gestern war,» (Weimer, 2018) hilft da nur wenig weiter – Weimers «Grundmotto der hohen Bürgerlichkeit», das er sich übrigens beim französischen Monarchisten und Revolutionsgegner Antoine de Rivarol, na ja, sagen wir mal: ausgeliehen hat – ohne Rivarol namentlich zu erwähnen… [3]

Lichtungen[4]
Das Nachwort von «Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit» hält eine Art Lektüreschlüssel für die gesamte Weimer-Lektüre bereit, nämlich einen Kommentar Weimers zur Verortung des Neoliberalismus in seinem eigenen politischen Koordinatensystem. Es sei nämlich «ein langgehegter Irrtum der Linken» gewesen, zu glauben, «Konservative und Neoliberale seien aus einem Holz», stattdessen behauptet Weimer, «dass Neoliberale den Linken (…) tatsächlich näher sind als den Konservativen». Im Umkehrschluss sitzt Weimer nun seinerseits dem pauschalisierenden Irrtum auf, Linke und Neoliberale seien mehr oder weniger austauschbar, wirft kurzerhand beide in einen Topf und macht die Linke und ihre «Ideologie» (ideologisch sind immer nur die anderen) verantwortlich für so ziemlich jeden gesellschaftlichen Missstand, den er in seinen Texten anprangert. Weimer braucht diesen «Phantomlinken» als Feindbild, um seinen «Konservativen» in Abgrenzung dazu zu entwerfen. Ist das Irrtum oder Absicht?
Enno Stahl, Autor eines sehr empfehlenswerten Buchs zur «Sprache der Neuen Rechten» stellt für seinen Untersuchungsgegenstand fest:
«Wenn die Rechten von «Linken» sprechen, das ist eigenartig, meinen sie damit eigentlich immer sämtliche Demokraten: Liberale, Bürgerlich-Konservative, Sozialdemokraten, ökologisch Orientierte und wirklich Linke, eventuell sogar die NPD; konkret richtet sich dieser Begriff gegen alle, die nicht ihrer Meinung sind.»[5]
Sprachlich geht Weimer mit den Linken nicht zimperlich um, Beschimpfungen wie «Besserwisser», und «Bevormunder» ziehen sich durchs gesamte «Manifest», auch das «Gutmenschentum» verwendet er früh in herabsetzender Weise, ja, Weimer kann sich seitenweise über das echauffieren, was er für «linke Ideologie» hält:
«Es dämmert (…) eine Tugendrepublik herauf, in der Hohepriester des Gutmenschentums uns mit ihren Geboten umstellen: (…) Mit Quoten und Verboten kommen sie daher, die Verbraucher- und Familienschützer, die Gleichstellungsbeauftragten und Integrationsberater. Sie tragen Menschen teure Bildungspakete hinterher, die gar keine haben wollen, denn sie wissen alles besser. Sie sind Profiteure des Freiheitsentzugs, jene Armutsbekämpfer, Präventionsräte und Klimaretter, Lobbyisten der Gewissheitsindustrie, die ihr Geschäft mit der Besserwisserei so verfolgen, dass sie ihre Nachfrage mit Problemstudien immer selbst erzeugen. Ihre Absicht, das Land in eine gigantische Besserungsanstalt zu verwandeln, folgt einer ganz eigenen Logik, denn dann haben sie als Besserungs-Pädagogen ihr Auskommen.» (Weimer, 2012, 2018 und 2021).
Nicht soziale Schieflagen also sind das Problem, sondern profitgierige Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen, die diese Probleme überhaupt erst erzeugen und am Laufen halten, weil sie Geld daran verdienen.
Dass Menschen nicht unbedingt des Geldes wegen soziale Berufe ergreifen, in denen man im Übrigen eher verarmt als reich wird, dass das nichts mit «Besserwisserei» zu tun hat, sondern womöglich tatsächlich mit so etwas wie Nächstenliebe (sollte das etwa nur ein anderer Begriff für Gutmenschentum im ursprünglichen Sinne sein…?), christlich oder anderweitig – geschenkt.

Das übergriffige «Wir»
Das Jahr 1989 und das Jahrzehnt der 90er haben für «uns» besondere Bedeutung. Einleitend zu «Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit» (2009) schildert Weimer 20 Jahre später «unsere» Erlebnisse aus jener Zeit. Ein Text, der unter einer Unschärfe leidet, wie sie für viele von seinen Texten charakteristisch ist: «Wir», schreibt Weimer, «wollten keine Generation mehr sein» und konsequent weiter, «wir Maueröffner» haben uns in der «Anything-Goes-Nische der Roaring Nineties» prächtig amüsiert, «wir» haben das liberale Zeitalter, und Bill Clintons Spaßgesellschaft in vollen Zügen genossen. Wir «alle waren Teil eines gutgelaunten Globalisierungs-Get-Togethers. Wir zogen die Krawatten aus, setzten die Sonnenbrillen auf und schalteten die Handys und Laptops ein. Die Weltwirtschaft schien ein spielerisches Monopoly, bei dem es viele Gewinner gab. Vor allem uns. Wir waren die wohlhabendste Generation, die es je gegeben hatte. (…) Die Freiheit schien uns Selbstzweck (…)». Es gab viele Gewinner. Vor allem uns. Was wohl aus den Verlierern geworden ist?
Mit dem 11. September, wir Leser:innen haben es geahnt, ist die Party dann vorbei. Ein prägender Moment, auch für uns, denn bis dahin hatten wir geglaubt, die ganze Welt wollte so leben wie wir, und allen anderen ginge es dabei auch in erster Linie um Spaß und Selbstverwirklichung. Weit gefehlt:
«Die Anschläge wurden für uns zum einem Fanal für Werte und Glaube, Identität statt Promiskuität, für Tradition statt Machbarkeiten. (…) Die Feinfühligen unter uns erkannten, dass wir 89er der Macht von Religion, Kultur und Tradition mit unserem Freiheitsspiel wenig entgegenzusetzen hatten. Wir begriffen, dass unsere Freiheit von etwas zehrte, was sie selber gering schätzte: die abendländische Tradition.» (Weimer, 2009)
Weimer verallgemeinert seine Erfahrungen und seine Perspektive so, als hätten «wir alle» die 90er Jahre genau so erlebt wie er. Aber sind wir polyglott durch die Welt gejettet, um uns selbst zu verwirklichen? Waren wir wirklich «wohlhabend wie noch nie» und «in ständiger Feierlaune»? Was ist z.B. mit denjenigen Ostdeutschen, die in kürzester Zeit eine Entwertung ihrer gesamten Lebenserfahrung verkraften mussten, was mit den Opfern rassistischer Gewalt in jenen «Baseballschlägerjahren»? Die 1990er, das waren auch die Gründungsjahre des NSU, es waren die Jahre der Ausschreitungen und Anschläge in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Lübeck, Mölln und Solingen, bei denen Menschen (Deutsche) andere Menschen («Ausländer:innen») anzündeten und auch weltweit waren es alles andere als friedliche Jahre.
Ist Weimer, damals immerhin schon ein Mittzwanziger (und als solcher beinahe schon ein bisschen zu alt für diese Form von Coming-of-Age-Mauerfallromantik, und auch kein «89er» mehr oder gar selbst ein «Maueröffner» – hier schmückt er sich mit den fremden Federn dieses vereinnahmenden «Wir»), denn wirklich erst am 11. September 2001 aus seiner westeuropäischen, privilegierten, weißen, jugendlich-männlichen Bubble aufgewacht? Es fällt schwer, das zu glauben. (Natürlich sei ihm gegönnt, dass er damals offenbar eine ziemlich gute Zeit hatte, auch wenn anklingt, dass sie ihm selbst rückblickend wohl irgendwie gottlos und oberflächlich erschienen ist).

Sündenfälle
Eine der mittlerweile medial am häufigsten zitierte Äußerungen aus Weimers Werken ist sein rant gegen Multikulturalismus (inkl. «Dönerbudenmasochismus», also folgendem Narrativ: Um sich selbst für ihre historische Schuld am Holocaust zu strafen, wehren die Deutschen sich nicht gegen die wachsende Zahl an Dönerbuden in ihren Innenstädten, also die wachsende Zahl an Muslimen im Land … ), der Text dazu ist unter der Überschrift «Kulturkampf 3» in «Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit» (Weimer, 2009) zu finden.
Während Weimer in diesem Text also den «inneren Multikulturalismus» kritisiert, lobt er hingegen «Die Idee des äußeren Multikulturalismus», denn von ihr lebe «ganz Europa». Das klingt harmlos, doch hinter dieser Aufspaltung verbirgt sich nichts anderes als das in neurechten Kreisen so populäre Konzept des sogenannten «Ethnopluralismus»[6] (ein Begriff, der harmlos und positiv klingen soll und verschleiert, worum es eigentlich geht) einem, so nennt es Weimer,
«tradierten Multikulturalismus der Vaterländer, nicht des Schmelztiegels, einer, der vom Baltikum bis nach Portugal auf abendländisch-christlichem Boden steht. In diesem Multikulturalismus ergeben sehr unterschiedliche Steine ein großes, schönes Mosaik. Der andere, innerstaatliche Multikulturalismus, der uns aus muslimischen Problemgebieten einen Kulturgewinn vorgaukeln will, der ist ein Stein in sich selbst. Seine dunkle Farbe macht kein Mosaik, sie macht blind.»
Ethnopluralismus ist letztlich jedoch ein neorassistisches Konzept, bei dem allein «das Blut», also Herkunft und Ethnie, über Zugehörigkeit entscheiden. Der «Schmelztiegel» dagegen und mit ihm jede Form von Vermischung, die eine wie auch immer geartete, angenommene «Reinheit» bedrohen, wird abgelehnt, Identität wird als etwas Ethnisch-Nationales gedacht, als statisch und unveränderlich – und auch die Kultur ist in diesem Denkmodell nichts Dynamisches, sondern dient der Bestätigung der Identität eines ethnisch homogenen Volks. Auch sie, die Kultur, soll sich nicht vermischen!
«Welteroberung,» das ist in Weimers Augen eine «zivilisatorische Leistung» – er meint damit den europäischen Kolonialismus, der sich – leider …? – nach 1945 erledigt hatte. Mithin scheint dies bei Weimer eigentlich die tragischste Konsequenz des 2. Weltkriegs überhaupt zu sein: dass der Krieg nämlich «für das koloniale Selbstbewusstsein wie ein Verbrennungsofen der europäischen Ansprüche – machtpolitischer, wirtschaftlicher, kultureller und moralischer Natur» gewirkt hat. Moment, hat er das wirklich geschrieben? «Verbrennungsofen»? Hat er. Eine im Zusammenhang mit 2. Weltkrieg und Shoa, vorsichtig ausgedrückt, doch eher unglückliche Wortwahl. Rutscht das jemandem wie Weimer wirklich einfach eben so mal raus? (Man möchte es fast glauben, einfach, weil jede andere Erklärung schlicht zu plump wäre).

Gesagtes und Nicht-Gesagtes
Für Weimers Texte gilt, dass das Nichtgesagte mindestens ebenso aufschlussreich ist wie das Gesagte. Die «dunkle Seite» der europäischen Kolonialisierung der Welt, schreibt Weimer, würde in Schulen zu Unrecht nur als «Sündenfall» dargestellt (Weimer 2012 und 2018). In diesem Wort, «Sündenfall», bringt er unter – ohne sie wirklich nennen zu müssen: Sklaverei, Genozid, unvorstellbares Leid und unsagbare Gräueltaten, die von Europäern an indigenen Bevölkerungsgruppen begangen wurden, das Ausbeuten und Ausbluten ganzer Kontinente, die gewaltsame Zerstörung zahlloser Kulturen. Aber davon findet sich bei ihm eben kein Wort, außer dieses eine: «Sündenfall» und «dunkle Seite».
Ähnlich verfährt er mit dem zweiten Weltkrieg, bei Weimer meist «die Katastrophe von 1993 (sic) – 1945» oder auch «der monströse Abgrund des Nationalsozialismus» (beides Weimer, 2018). Kein Wort darüber, worin diese Katastrophe eigentlich konkret bestand, wer ihr zum Opfer fiel und wer die Täter waren. Stattdessen beklagt er, wie die Deutschen in diesem Abgrund ihre «Vaterlandsgefühle» und ihr «Herkunftsbewusstsein» verloren hätten, wie diese Gefühle nach 1945 «systematisch bekämpft und zerstört worden sind, als habe es die Welt vor 1933 und ihre geistigen Traditionen nie gegeben» …
Was also ist das Fazit des Selbstversuchs der Weimer-Lektüre? Tatsächlich muss man ihn aufgrund seiner Texte sehr weit rechts einordnen, auch wenn es sich meist um Polemiken handelt, die natürlich zuspitzen und vereinfachen wollen. Der mediale Begleitzirkus lässt bereits nach und lenkt seinen Blick auf andere Themen. Und das darf nicht passieren: Es lohnt sich, die Texte von Konservativen, Bürgerlichen, Rechten und Rechtsextremen zu lesen, denn man muss wissen, mit wem man es zu tun hat. Auch wenn es mit der heißen Nadel gestrickte, handwerklich schlecht gemachte Bücher sind, muss man sie ernst nehmen. Auch gegenüber der Weimerschen Form von Geschichtsrevisionismus und Rassismus darf es keine vorauseilende Beschwichtigung geben, nur weil der Mann Kulturstaatsminister ist und symbolisch als erste Amtshandlung «eine Null-Toleranz-Politik gegen Antisemitismus» verkündet hat.
Mehrfach musste ich bei der Weimer-Lektüre an Thilo Sarrazin denken, der 2010 (also ein Jahr nach Weimers «Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit») mit «Deutschland schafft sich ab» einen Bestseller landete und den Diskurs des Sagbaren weit nach rechts verschoben hat. Ich habe das Buch nie gelesen, jetzt werde ich es nachholen (es ist 2025 in einer kommentierten Fassung des Autors neu erschienen), um mit denen auf Augenhöhe diskutieren zu können, die es in diesen Tagen vielleicht ebenfalls zum ersten Mal lesen und seinen Inhalt für «völlig normal» halten.
[1] «Die Personalie Wolfram Weimer. Sorgen um die Fortdauer des eigenen Bluts?» Ein Kommentar von Jürgen Kaube. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.04.2025.
[2] Lesende können dieser in Weimers (und ähnlichen) Texten konstant auftauchenden «Wir-Falle» entkommen, indem sie sich konsequent Ich-bezogene Gegenfragen stellen, z.B.: Machen Krisen mich wirklich konservativer? oder: Gehöre ich zu denen, die in einer Krise nach rechts rücken? Die mögliche Bandbreite unterschiedlicher Antworten verdeutlicht den manipulativen Gehalt der Ausgangsaussage.
[3] Auch Florentin Schumacher hat in der «Zeit» («Wolfram Weimer. Texte anderer Leute?» Vom 5. Mai 2025) bereits darauf hingewiesen, dass Weimer es mit Quellenangaben häufig nicht so genau nimmt. Das ist noch eine ziemliche Untertreibung – allein im Rahmen meiner beschränkten Recherche bin ich auf mehrere Stellen gestoßen, die Weimer von anderen Autoren übernommen, aber nicht als Zitat gekennzeichnet hat. Erstaunlich, dass niemand deswegen seinen Rücktritt fordert, wie es zweifellos bei anderen abschreibenden Politikern der Fall gewesen wäre und war.
[4] Eine echte Orientierungshilfe in der Verwirrung um das politische Rechts/Links-Modell im Wandel der Zeit ist der kurze Beitrag der Autorin und Journalistin Sieglinde Geisel im Deutschlandfunk vom 4. Juni 2018: «Zwei Begriffe mit unklarem Inhalt. Linke Politik, rechte Politik».
[5] Stahl, Enno: Die Sprache der Neuen Rechten: Populistische Rhetorik und Strategien, Stuttgart, 2019, S. 119.
[6] Die Bundeszentrale für politische Bildung bietet auf ihrer Seite zum Thema Rechtsextremismus u.a. ein umfangreiches Glossar zu vielen Begriffen und Konzepten, dort lassen sich Erklärungen und Hintergründe zum hier nur angerissenen «Ethnopluralismus» finden.

Miriam Denger ist freie Übersetzerin (aus dem Spanischen) und Dramaturgin. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft und Romanistik in Gießen und Pamplona. Nach einer theaterpädagogischen Zusatzausbildung in Berlin arbeitete sie einige Jahre als Dramaturgin und Theaterpädagogin fest an verschiedenen Häusern, u. a. in Meiningen und Konstanz. Auch als Übersetzerin begleitet sie Proben und Stückentwicklungen vor Ort und übertitelt Gastspiele für internationale Festivals. Das kubanische Theater und das Werk des Dramatikers Rogelio Orizondo ist dabei einer der Schwerpunkte ihrer übersetzerischen Arbeit. Sie lebt bei Landau in der Pfalz.
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