Zwei Rückblicke: Drei Tage «Primeurs Plus» und eine immer noch notwendige Debatte WIR?

von Miriam Denger

Screenshot: Leyla-Claire Rabih, Frederik «Torch» Hahn und Guy Régis Jr im Gespräch bei «Primeurs Plus» (Foto: Corinna Popp)

«Wer ist WIR? – Theater in der interkulturellen Gesellschaft» lautete 2011 das Motto der Jahreskonferenz der dramaturgischen gesellschaft, einem «Klassentreffen» für Dramaturg*innen. Das jeweilige Jahresthema, meist gesellschaftlich aktuell, wird in Form von Vorträgen, Diskussionsrunden und Workshops intensiv bearbeitet. Damit fungiert die Konferenz auch als Themen-Verstärker mit hoher Reichweite in die deutschsprachige Theaterlandschaft hinein. Ein hier gehaltener Vortrag, eine hier vorgestellte Idee erreicht in der Regel ganz direkt die Köpfe von 200 Theatermacher*innen, nicht wenige von ihnen in leitender Position, die sie ihrerseits in ihre Häuser, Dramaturgien und Zirkel tragen. Eine Art think tank also, mit einem nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Fragestellungen, mit denen sich die Theater in den darauffolgenden Spielzeiten auseinandersetzen werden.

2011 also war das die Frage, wie der mit öffentlichen Geldern geförderte Kulturbetrieb, wie Kultur- und Kunstinstitutionen, insbesondere die Stadttheater, beschaffen sein sollten, um im Einwanderungsland Deutschland allen Menschen gleiche Chancen, den gleichen Zugang  und die gleiche Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Wer ist wir, wen meinen Theatermacher*innen, wenn sie von «unserer Stadt», von «unserem Publikum» sprechen, und wer sind diese Fragestellenden selbst?

2022, rund eine Dekade später, beim festivalbegleitenden Online-Symposium Primeurs Plus, bei dem an drei Tagen in insgesamt sechs Gesprächen 21 Diskutierende (und Publikum) zusammenkommen, um über Fragen der Übersetzung, der dekolonialen Theaterarbeit, über widerständige Strategien und Praktiken zu sprechen, tauchen viele dieser Fragen in ganz ähnlicher Weise erneut auf: Welche normierende Macht haben Institutionen, hat das Theater, warum tun sich so viele Kulturinstitutionen immer noch so schwer mit Öffnungsprozessen, wieviel Rassismus steckt nach wie vor sowohl im Theateralltag als auch in den Strukturen?

Screenshot: Melmun Bajarchuu, Nine Fumi Yamamoto-Masson und Aidan Lavender im Gespräch bei «Primeurs Plus» (Foto: Melmun Bajarchuu)

Was hat sich in den letzten zehn Jahren verändert und wie?

Bei Primeurs Plus wurde mehrfach die Rolle von Institutionen in den Blick genommen und hinterfragt. Dabei ging es um das Theater selbst als Institution einerseits, aber auch um Institutionen, die für Kulturförderung zuständig sind und die Ressourcen zuteilen – und nicht zuletzt um Institutionen, die Grundlagen schaffen, indem sie z. B. für Theaterberufe ausbilden. Der Migrations- und Rassismusforscher Mark Terkessidis stellte auf der Konferenz von 2011 fest, wie wenige Dramaturg*innen am deutschen Theater einen Migrationshintergrund hatten, einfach weil diese einerseits oft nicht gezielt gesucht würden, andererseits weil sie oft instrumentalisiert würden, etwa um spezifische Publikumsgruppen anzusprechen. Damals dachten einige Dramaturg*innen zum ersten Mal überhaupt über «nicht zu unterschätzende Wirkung nicht rein deutschstämmiger Ensembles» nach.

2022 lässt sich konstatieren, dass die Sensibilität für das Thema stark gewachsen ist und viel stärker ins Zentrum der Debatte gerückt ist. Und tatsächlich sind Ensembles an Stadttheater heute in vieler Hinsicht diverser geworden, auch die dramaturgischen Abteilungen von Theatern, es gibt sogar Intendantinnen of color – doch die Normalität sind sie längst noch nicht. Zumindest aber an den Schauspielschulen bewegt sich etwas, wie Christopher-Fares Köhler bei «Primeurs plus» zutreffend festgestellt hat, also bei Institutionen, die auswählen, welche Menschen überhaupt als Schauspieler*in auf den Markt dürfen und welche nicht. Dennoch: Diverse Ensembles sind nach wie vor alles andere als selbstverständlich, und selbst da wo BIPOC fest dazugehören, wird ihre Besetzung nur selten nach schauspielerischer Leistung diskutiert. (Shermin Langhoff stellte 2011 fest, dass man in Deutschland erst vor kurzem entdeckt hätte, dass Gretchen und Siegfried auch von schwarzhaarigen Menschen gespielt werden könnten). Und, was bei «Primeur Plus» nicht im Mittelpunkt stand, in vielen Städten sind BIPOC als Schauspieler*innen nicht «nur» verbal, sondern auch körperlich rassistischen Angriffen ausgesetzt, und nur in wenigen prominenteren Fällen erfährt eine breitere Öffentlichkeit davon durch die Medien.

Screenshot: Symposiumsteilnehmer*innen und Dolmetscherinnen (Foto: Corinna Popp)

Auf der Jahreskonferenz 2011 wurde viel gestritten. Die dg befand sich in einem generationellen Umbruch und die Teilnehmenden waren, nicht zuletzt durch das gewählte Konferenzthema, gezwungen, über ihre eigene Rolle zu reflektieren und sich über ihre Privilegien bewusst zu werden. Denn ja, 2011 war die dg auch das (und ist es trotz großer Bemühungen um Öffnung in alle Richtung möglicherweise immer noch): ein homogener bis elitärer «Haufen» überwiegend weißer, privilegierter, bildungsbürgerlicher Theatermenschen mit akademischem Hintergrund, die Alphatiere unter ihnen fast alle männlich. Mit Beiträgen von Gästen wie dem Migrations- und Rassismusforscher Mark Terkessidis und der damaligen künstlerischen Leiterin des Ballhaus Naunynstrasse, Shermin Langhoff, war Reibung damals vorprogrammiert.

2011. Das war noch mitten in der Eurokrise, kurz vor der Aufdeckung der NSU-Mordserie, zu Beginn des Arabischen Frühlings, des Syrienkriegs, das Jahr von Fukushima, es war vor der NSA-Affäre, vor dem russischen Einmarsch auf der Krim, vor der Radikalisierung von Ländern wie Ungarn, Polen, der Türkei, der amerikanische Präsident hieß noch Barack Obama, die AfD war noch nicht gegründet, es war eine Zeit, bevor Hunderttausende in Deutschland Schutz vor Krieg und Gewalt suchten. Die Attentate und Amokläufe in München, Halle und Hanau waren noch nicht geschehen, ebenso wenig die Amokfahrten von Nizza und Berlin, die MeToo-Debatte hatte es noch nicht gegeben, gleichgeschlechtliche Paare durften noch nicht heiraten, nichtbinäre Geschlechteridentitäten waren offiziell noch nicht anerkannt, es war eine Zeit vor Corona und Ukraine-Krieg, vor dem Afghanistandesaster 2021 und vor dem derzeitigen zivilen, von Frauen angeführten Aufstand im Iran. Das Berliner Stadtschloss, heute Humboldt-Forum, war noch nicht wieder aufgebaut. Dank vieler postkolonialer Initiativen, meist von BIPOC getragen, gab es jedoch bereits eine erste Debatte um Deutschlands Kolonialverbrechen. Am Theater war es die Zeit vor den großen Blackfacing-Debatten, vor #actout, vor dem ensemblenetzwerk (u. a.), vor Pro Quote Bühne, den burning issues, den Bühnenmüttern – und Lisa Jopt war noch nicht Präsidentin der GDBA.

Haben Sie sich beim Lesen der letzten Zeilen gewundert, wie schnell die Zeit vergeht, wie viel von dem, was alles passiert ist, schon gar nicht mehr präsent ist, fast vergessen wurde? Häufig ist es gerade das Jahrzehnt, das hinter uns liegt, das für uns zu einer Art blind spot wird – dabei ist zentral, den Weg im Blick zu haben, der uns dort hingeführt hat, wo wir heute stehen. Das Thema «Archive» tauchte daher beim Symposium «Primeurs Plus» nicht zufällig immer wieder auf: Aidan Lavender brachte das Projekt des Deutschen Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music ins Gespräch mit ein, Lavender hat darüber eine Magisterarbeit verfasst. Das DMSUBM, das Schallplatten, Magazine, Autogramme, Erinnerungsstücke und ähnliches beherbergt ist ein lebendiger Ort der Vermittlung und Diskussion von Schwarzer Geschichte. Dort kann man unter anderem über die Biografie der Sängerin und Friedensaktivistin Fasia Jansen einiges erfahren, mit der sich wiederum Aline Benecke in ihrer künstlerischen Arbeit auseinandergesetzt hat. Benecke gründete einen diasporischen Community-Chor, der Jansens Lieder nachsang, um so an Person und Werk zu erinnern. Archive sind für Beneckes oft rechercheintensive Arbeit von großer Bedeutung. Hier lassen sich Fotos, biografisches Material, Geschichten abseits offizieller Geschichtsschreibung entdecken. Archive erfüllen die Funktion des historischen Gedächtnisses. Wie wichtig das gerade für marginalisierte Gruppen und soziale Bewegungen ist, zeigt sich z. B. am Beispiel des Feminismus: Zwischen einzelnen Generationen geht sehr viel Wissen verloren. Deswegen ist Künstlerinnen wie Eva Doumbia und Marine Bachelot Nguyen der Kontakt zu Schulen und zur jungen Generation besonders wichtig.

Eine weitere zentrale Institution ist vor diesem Hintergrund das deutsche Bildungssystem, insbesondere natürlich die Schule. Ohne das näher darauf eingegangen wurde, schimmerte deren Rolle im Symposium immer wieder durch – als Ort, an dem viele der Teilnehmenden Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, aber auch als Ort der strukturellen Wertungen und Setzungen, die das Denken einer ganzen Gesellschaft mitbeeinflussen. Da ist einerseits der eindimensionale Geschichtsunterricht, der historische Abläufe aus zu wenigen Perspektiven beleuchtet und in dem der deutsche Kolonialismus und seine Zusammenhänge mit heutigem Alltagsrassismus eine klaffende Lücke darstellen. Dringenden Reformbedarf gibt es aber auch in der Hierarchisierung von Sprachkenntnissen, die das System vornimmt. Bis vor nicht allzu langer Zeit, darauf weisen mehrere der bi- oder trilingualen Teilnehmenden hin, u. a. Frederik Hahn aka «Torch», wurde Mehrsprachigkeit in Schulen als Defizit, nicht als Potential betrachtet.

Screenshot: Symposiumsteilnehmer*innen und Dolmetscherinnen (Foto: Corinna Popp)

Terkessidis schrieb 2011: «… gerade die hoch subventionierten städtischen Theater sind immer noch Orte, wo sich bestimmte Leute wie zuhause und andere Leute deplatziert vorkommen»¹ – eine Erfahrung, die ebenfalls einige der Teilnehmenden des Symposium bestätigen. «Für viele Personen mit Migrationshintergrund ist das Theater weiterhin ein Raum, der auf ihrer cognitive map der Stadt gar nicht auftaucht. Es scheint per se den »Deutschen« zu gehören… Ohne Beziehung zu einem Ort kann man aber auch nichts zu seiner Veränderung beitragen»². Zweifellos sind die Theater in den letzten Jahren in dieser Frage einen großen Schritt vorangekommen, gerade in der Auseinandersetzung mit den demografischen Entwicklungen sein 2015, aber es bleibt weiterhin viel «Beziehungsarbeit» zu leisten, es muss nicht nur eine verbale sondern eine tatsächliche Öffnung stattfinden und «Öffnung bedeutet in diesem Fall, den Ort auf der Karte bestimmter Leute einzuzeichnen. Dazu reicht es allerdings nicht, gemäß einer unausgesprochenen Quote mal etwas für »die Iraner«, »die Türken« oder »die Inder« auf die Bühne zu bringen. Notwendig ist vielmehr eine konsequente, konzeptuelle Veränderung in Bezug auf das Ensemble, das Publikum und auch die inhaltliche Agenda: Um wessen Vorlieben, Perspektiven und Probleme soll es im Theater gehen?»³

Es geht also 2011 wie 2022 darum öffentliche Räume und Institutionen weiter zu erobern, weiter zu besetzen, weiter von innen heraus an ihrer Veränderung zu arbeiten, soziale Netzwerke und digitale Räume für sich zu nutzen, politische Forderungen zu formulieren und ins Handeln zu kommen. Gatekeeper-Funktionen müssen in ihrem Einfluss noch sehr viel genauer untersucht werden, etwa Theaterverlage, die einen großen Einfluss darauf haben, welche und wessen Geschichten auf deutschen Bühnen erzählt werden. Auch Übersetzer*innen, die Stücke aus ihren jeweiligen Bezugsländern durch Vorschläge ins Spiel bringen, spielen hier eine wichtige Rolle, die sie genau reflektieren sollten, ebenso wie Dramaturg*innen und Schauspiel*leitungen. In Glücksfällen wie «Pisten«, dessen Weg auf die Bühne im Symposium intensiv nachgezeichnet wurde, arbeiten all diese Instanzen zusammen, um ein Stück zu inszenieren, das nicht nur erstmals eine Schwarze Protagonistin auf die Stadttheaterbühne einer bestimmten Stadt bringt, sondern auch ein wichtiges und schmerzhaftes Kapitel deutscher Kolonialvergangenheit aufgreift und aus einer Schwarzen Perspektive erzählt. Diesen Weg in einem intensiven Gespräch aller Beteiligten so lebendig und interessant darzustellen und aus allen Perspektiven zu beleuchten, ist einer der Verdienste des Symposiums Primeur Plus.

Darüber hinaus bestand dessen Funktion darin, den Austausch von Theatermacher*innen zu ermöglichen, die an ähnlichen Themen arbeiten, die Strategien im Umgang mit Institutionen vorstellten, von ihrer Arbeit sprechen, sich vernetzen und Utopien äußern konnten. Damit wurde auch klar, dass es weiterhin solche Räume braucht und viele Debatten auch vor einem noch größeren Publikum ausgetragen werden müssten. Weitergeführt werden muss die Auseinandersetzung mit Themen wie «wer für wen sprechen darf», welche Machtkonstellationen auch durch Sprache geschaffen werden, u. a. unbedingt auch in der sowohl in Deutschland als auch in Frankreich weitgehend weißen Übersetzer*innenzunft – hier hat erst kürzlich die Debatte um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht «The hill we climb» einige größere Steine ins Rollen gebracht.

Die vielleicht wichtigste Erkenntnis des Symposiums «Primeurs Plus» ist nicht neu, kann aber nicht oft genug wiederholt werden: Geschichte und Geschichten von Minderheiten sind universell, gehen uns alle an, sind unsere Geschichte, sind WIR.

 

¹Terkessidis, Mark. Interkultur: 2589 (edition suhrkamp) (German Edition) (S.185-186). Suhrkamp Verlag. Kindle-Version.
²ebda.
³ebda.

Die Dramaturgin und Übersetzerin Miriam Denger (Foto: Ilja Mess)

Miriam Denger ist freie Übersetzerin (aus dem Spanischen) und Dramaturgin. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft und Romanistik in Gießen und Pamplona. Nach einer theaterpädagogischen Zusatzausbildung in Berlin arbeitete sie einige Jahre als Dramaturgin und Theaterpädagogin fest an verschiedenen Häusern, u. a. in Meiningen und Konstanz. Auch als Übersetzerin begleitet sie Proben und Stückentwicklungen vor Ort und übertitelt Gastspiele für internationale Festivals. Das kubanische Theater und das Werk des Dramatikers Rogelio Orizondo ist dabei einer der Schwerpunkte ihrer übersetzerischen Arbeit. Sie lebt bei Landau in der Pfalz.

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