Auf der Jahreskonferenz 2011 wurde viel gestritten. Die dg befand sich in einem generationellen Umbruch und die Teilnehmenden waren, nicht zuletzt durch das gewählte Konferenzthema, gezwungen, über ihre eigene Rolle zu reflektieren und sich über ihre Privilegien bewusst zu werden. Denn ja, 2011 war die dg auch das (und ist es trotz großer Bemühungen um Öffnung in alle Richtung möglicherweise immer noch): ein homogener bis elitärer «Haufen» überwiegend weißer, privilegierter, bildungsbürgerlicher Theatermenschen mit akademischem Hintergrund, die Alphatiere unter ihnen fast alle männlich. Mit Beiträgen von Gästen wie dem Migrations- und Rassismusforscher Mark Terkessidis und der damaligen künstlerischen Leiterin des Ballhaus Naunynstrasse, Shermin Langhoff, war Reibung damals vorprogrammiert.
2011. Das war noch mitten in der Eurokrise, kurz vor der Aufdeckung der NSU-Mordserie, zu Beginn des Arabischen Frühlings, des Syrienkriegs, das Jahr von Fukushima, es war vor der NSA-Affäre, vor dem russischen Einmarsch auf der Krim, vor der Radikalisierung von Ländern wie Ungarn, Polen, der Türkei, der amerikanische Präsident hieß noch Barack Obama, die AfD war noch nicht gegründet, es war eine Zeit, bevor Hunderttausende in Deutschland Schutz vor Krieg und Gewalt suchten. Die Attentate und Amokläufe in München, Halle und Hanau waren noch nicht geschehen, ebenso wenig die Amokfahrten von Nizza und Berlin, die MeToo-Debatte hatte es noch nicht gegeben, gleichgeschlechtliche Paare durften noch nicht heiraten, nichtbinäre Geschlechteridentitäten waren offiziell noch nicht anerkannt, es war eine Zeit vor Corona und Ukraine-Krieg, vor dem Afghanistandesaster 2021 und vor dem derzeitigen zivilen, von Frauen angeführten Aufstand im Iran. Das Berliner Stadtschloss, heute Humboldt-Forum, war noch nicht wieder aufgebaut. Dank vieler postkolonialer Initiativen, meist von BIPOC getragen, gab es jedoch bereits eine erste Debatte um Deutschlands Kolonialverbrechen. Am Theater war es die Zeit vor den großen Blackfacing-Debatten, vor #actout, vor dem ensemblenetzwerk (u. a.), vor Pro Quote Bühne, den burning issues, den Bühnenmüttern – und Lisa Jopt war noch nicht Präsidentin der GDBA.
Haben Sie sich beim Lesen der letzten Zeilen gewundert, wie schnell die Zeit vergeht, wie viel von dem, was alles passiert ist, schon gar nicht mehr präsent ist, fast vergessen wurde? Häufig ist es gerade das Jahrzehnt, das hinter uns liegt, das für uns zu einer Art blind spot wird – dabei ist zentral, den Weg im Blick zu haben, der uns dort hingeführt hat, wo wir heute stehen. Das Thema «Archive» tauchte daher beim Symposium «Primeurs Plus» nicht zufällig immer wieder auf: Aidan Lavender brachte das Projekt des Deutschen Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music ins Gespräch mit ein, Lavender hat darüber eine Magisterarbeit verfasst. Das DMSUBM, das Schallplatten, Magazine, Autogramme, Erinnerungsstücke und ähnliches beherbergt ist ein lebendiger Ort der Vermittlung und Diskussion von Schwarzer Geschichte. Dort kann man unter anderem über die Biografie der Sängerin und Friedensaktivistin Fasia Jansen einiges erfahren, mit der sich wiederum Aline Benecke in ihrer künstlerischen Arbeit auseinandergesetzt hat. Benecke gründete einen diasporischen Community-Chor, der Jansens Lieder nachsang, um so an Person und Werk zu erinnern. Archive sind für Beneckes oft rechercheintensive Arbeit von großer Bedeutung. Hier lassen sich Fotos, biografisches Material, Geschichten abseits offizieller Geschichtsschreibung entdecken. Archive erfüllen die Funktion des historischen Gedächtnisses. Wie wichtig das gerade für marginalisierte Gruppen und soziale Bewegungen ist, zeigt sich z. B. am Beispiel des Feminismus: Zwischen einzelnen Generationen geht sehr viel Wissen verloren. Deswegen ist Künstlerinnen wie Eva Doumbia und Marine Bachelot Nguyen der Kontakt zu Schulen und zur jungen Generation besonders wichtig.
Eine weitere zentrale Institution ist vor diesem Hintergrund das deutsche Bildungssystem, insbesondere natürlich die Schule. Ohne das näher darauf eingegangen wurde, schimmerte deren Rolle im Symposium immer wieder durch – als Ort, an dem viele der Teilnehmenden Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, aber auch als Ort der strukturellen Wertungen und Setzungen, die das Denken einer ganzen Gesellschaft mitbeeinflussen. Da ist einerseits der eindimensionale Geschichtsunterricht, der historische Abläufe aus zu wenigen Perspektiven beleuchtet und in dem der deutsche Kolonialismus und seine Zusammenhänge mit heutigem Alltagsrassismus eine klaffende Lücke darstellen. Dringenden Reformbedarf gibt es aber auch in der Hierarchisierung von Sprachkenntnissen, die das System vornimmt. Bis vor nicht allzu langer Zeit, darauf weisen mehrere der bi- oder trilingualen Teilnehmenden hin, u. a. Frederik Hahn aka «Torch», wurde Mehrsprachigkeit in Schulen als Defizit, nicht als Potential betrachtet.
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