Der Autor Jayrôme Robinet über die Textauswahl von SCÈNE 24 Texte, die Räume öffnen

Szene aus der Inszenierung von Marthe Degailles Science-Fiction-Stück «Betelgeuse» durch die Autorin (Foto: Domitille Savatier)

Am 5. Dezember erscheint der neueste Band der Anthologie SCÈNE – neue französische Theatertexte. Die 24. Ausgabe widmet sich Fragen von Geschlechtskonstruktion und genderbasierter, struktureller Gewalt. Acht Texte von Autor*innen aus Frankreich, Belgien, der Schweiz und Québec machen das Private zum Politischen – oft aus einer queeren Perspektive. In seinem Vorwort für das Buch setzt sich Jayrôme Robinet durchaus kritisch mit den Stücken auseinander –  und verneigt sich vor ihren Übersetzer*innen. Wir veröffentlichen seinen Essay mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

 

Achtung, das Buch, das Sie in Händen halten, wird Sie verändern. Es wird neue Bereiche Ihres Gehirns aktivieren und Ihnen radikale und umfassende Einsichten ermöglichen. Peter Brook hat auf die Bedeutung der Spiegelneuronen im Theater hingewiesen, jener Neuronen, die sowohl aktiviert werden, wenn man eine Handlung ausführt, als auch, wenn man dieselbe Handlung von jemand anderem ausgeführt beobachtet. Wie wir wissen, ist das Theater eine Emotionsmaschine. Die Bühne ist ein Ort der Begegnung, der Konfrontation und der Komplementarität. Das Theater ist außerdem ein Spiegel, so groß wie eine Epoche. Was also verrät uns diese Anthologie über die Zeit, in der wir leben? Und inwiefern wird sie Sie verändern?

Queere Figuren tauchen in der deutschen Theaterlandschaft selten auf, «und wenn doch, nur extrem stereotypisiert und auf ihre Identität fixiert, die als Problem erscheint oder mit Leiden verbunden ist», schreiben Jenny Schrödl und Elke Wittrock[1]. Diese Anthologie beweist das Gegenteil.

Achtung, dies ist keine Anthologie queerer Texte, hätte Marcel Duchamp gesagt. Wirklich nicht? Die von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand ausgewählten Texte öffnen sprachliche und physische Räume, sie inszenieren nicht identifizierte oder nicht kategorisierbare Körper, erforschen Weiblichkeiten und Männlichkeiten in ihrer ganzen Komplexität und Ambivalenz.

José Esteban Muñoz hätte vielleicht gesagt, Sie werden hier Bestrebungen der Desidentifikation finden, eine Möglichkeit, sich mit der herrschenden Ideologie zu konfrontieren, ohne sich mit ihr zu identifizieren oder sich dagegen aufzulehnen. Ein dritter Weg, eine Utopie, die in der queeren Ästhetik von wesentlicher Bedeutung ist und der Fantasie, dem Spekulativen und den Darstellungen möglicher Zukünfte einen zentralen Platz einräumt. In diesen Texten sind einige Identitäten hybrid, beweglich. Und außerdem – ein Zeichen unserer Zeit? – ist der Sex allgegenwärtig, ebenso wie seine Verflechtungen mit geschlechtsspezifischer Gewalt. Neben toxischen Männlichkeiten sparen einige Autorinnen wie Marina Skalova und Marthe Degaille auch die toxischen Weiblichkeiten nicht aus, was so selten vorkommt, das es zu begrüßen ist.

Szene aus der Inszenierung von Antoinette Rychners Text «Arlette» von Pascale Güdel (Foto: Samuel Rubio)

Arlette von Antoinette Rychner (übersetzt von Franziska Baur) taucht tief in intime Familiengeheimnisse ein. Arlette Biscuit (ja, Biscuit, den man wie die Proustsche Madeleine in den Tee tunkt) holt ihre Schwester ab, um ihren Vater am Sterbebett zu besuchen. Die Schwester jedoch sucht nach dem passenden Outfit für dessen erneute Hochzeit…  Es folgt ein Labyrinth von Situationen, in denen die Figuren Metamorphosen durchlaufen und Arlette die Erinnerung an Menschen, an Orte, an ihre eigene Nacktheit und ihren kahlen Schädel (ist sie wieder zum Säugling geworden?) verliert. Dieser Gedächtnisverlust könnte auch als Verdrängung bezeichnet werden. «In Arlettes Innerem steht VERLUST in Großbuchstaben». Auch viel Sex, roher und angedeuteter, und ein Inzest, den man erahnen kann. Schließlich begegnet Arlette Biscuit ihrem Vater und erlangt ihr Gedächtnis zurück.  Arlette ist ein traumartiges Stück, dessen Sprache den Akzent von Neuchâtel frei nachzeichnet. Eine Sprache, so kraftvoll wie Jehan Rictus’ Les Soliloques du pauvre, auch wenn Antoinette Rychner keineswegs beabsichtigt, mit dem Finger auf irgendeine soziale Schicht zu zeigen. Aber der sprachliche Augenschmaus bleibt.

Szene aus dem Stück «Norman c’est comme normal, à une lettre près» von Marie Henry, inszeniert von Clément Thirion (Foto: Hichem Dahès)

Norman ist (fast) normal von Marie Henry (Übersetzung: Ela zum Winkel) ist eine Neubearbeitung ihres Textes Pink Boys and Old Ladies[2]. Erzählt wird die Geschichte von einem kleinen Jungen, der die Farbe Rosa liebt und alles, was glitzert. Einem Jungen, der wahnsinnig gern Kleider trägt und von seinem Vater, der beschließt, ebenfalls eines zu tragen, um ihn zur Schule zu begleiten und den Spötter*innen das Maul zu stopfen. Inspiriert von einer wahren Geschichte, hinterfragt der Text den Umgang mit Normen und vor allem mit dem Geschlechtsausdruck. Denn das Tragen eines Rocks wäre für den kleinen Norman kein Problem, würde die Gesellschaft dem Kleid nicht die performative Macht zuschreiben, Weiblichkeit zu erzeugen. «Rock: Kleidungsstück für Frauen und Mädchen», so definiert es der Duden. Bereits als Kind feiert Norman instinktiv die semantische Erweiterung des Rocks. Darüber hinaus befreit Normans Emanzipation sein Umfeld, so auch seine Schwester, «die es tatsächlich bis ganz nach unten in ihr tiefstes Inneres geschafft hat».  Bis es in jener kleinen, fernen, aber nicht allzu fernen Gegend ganz «banal banal» geworden ist, «einen Vater und seinen Sohn im Kleid zu sehen».  Der besagte Vater, der in der Realität Nils Pickert heißt, ist selbst Autor und kann stolz auf die schönen Dinge sein, die er in Gang gebracht hat.

Illegal von Marie-Ève Milot und Marie-Claude St-Laurent (übersetzt von Sonja Finck und Frank Weigand) ist ein echter Pageturner. Stellen Sie sich eine nahe Zukunft vor, in der ein Gesetz vorgibt, Schwangerschaftsabbrüche sicherer zu machen, in Wirklichkeit jedoch nur die Anzahl der illegalen Abtreibungen ansteigen lässt. Mit überraschenden, einer hervorragenden Netflix-Serie würdigen Wendungen führt uns das Stück mitten hinein in den Kampf um körperliche Selbstbestimmung. «Die Leute dürfen frei entscheiden, ob sie nach dem Tod ihre Organe spenden. Jede Leiche hat mehr Rechte als ich», sagt Louise, nachdem ihr das Komitee das Recht auf Abtreibung verweigert hat.  Dabei scheuen sich Milot und St-Laurent nicht, mit brutaler Ehrlichkeit und Empathie auch die Argumente der Abtreibungsgegner*innen darzulegen. Das Thema ist hochaktuell. Im Jahr 2022 hob der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten das Urteil «Roe v. Wade» auf, so dass die Gesetzgebung über das Recht auf Abtreibung wieder in die Zuständigkeit der Bundesstaaten fällt – und ebnete damit den Weg für ihr Verbot. In Deutschland ist ein Schwangerschaftsabbruch nach §218 des Strafgesetzbuchs strafbar. Und in rund 20 Ländern ist Abtreibung nach wie vor verboten.

 

Die Autorin Marina Skalova (Foto: Michaela Di Savino) und ihre Übersetzerin Annina Haab (Foto: privat)

 

In Erinnerst du die Sätze (aus dem Französischen von Annina Haab) stellt Marina Skalova ein Kaleidoskop aus beweglichen Fragmenten zusammen, die von der Gewalt des Frau-Seins erzählen, einer strukturellen Gewalt, die in sexuellem Missbrauch und in der symbolischen Gewalt der Sprache verankert ist.  Ein Kind, das dem ihm zugewiesenen Geschlecht entkommen will. Eine Jugendliche, deren erste sexuelle Erfahrungen Übergriffe sind. Eine Frau, die während der Entbindung zum Opfer gynäkologischer Gewalt wird. Erinnerst du die Sätze skizziert eine Genealogie der Gewalt und der unheimlichen Grauzonen, die den Lebensweg von Menschen begleiten, denen Weiblichkeit zugewiesen wird.  Wie bereits erwähnt, spart Marina Skalova auch die von Frauen begangene Gewalt nicht aus, «Frauen so gründlich kaputtgemacht/dass sie der Gewalt gegen Kinder zustimmten/ häufig gegen ihre eigenen Kinder».  In einer Mischung aus Französisch und Russisch verfasst, ist dieses Stück – vielleicht mehr noch als ein Kaleidoskop – ein mehrschichtiges Palimpsest. Die Stimme der Erzählerin wird von den Sätzen überdeckt, die sie gehört hat, welche wiederum von Presseartikeln und Zitaten aus Archivmaterial, von Erfahrungsberichten, die die Autorin gesammelt hat und von theoretischen oder juristischen Texten überdeckt werden.

«Gloria Gloria» von Marcos Caramés-Blanco, inszeniert von Sarah Delaby-Rochette (Foto: Marie Charbonnier)

Gloria Gloria von Marcos Caramés-Blanco (vierhändig übersetzt von Sula Textor und Pauline Fois) stellt vierundzwanzig Stunden im Leben einer trans Frau dar. Gloria unterwirft sich ihrem Freund José, für den sie kocht, für den sie das Geld nach Hause bringt, den sie aber dennoch ausgiebig beschimpft. Gloria raucht viel, hört alte Hits im Radio und arbeitet ansonsten als Haushaltshilfe für eine ältere Dame, der sie den Hintern abwischen muss. Und eines Tages läuft alles aus dem Ruder. Gloria geht auf die Barrikaden und erinnert dabei an den rebellischen Geist von Thelma und Louise. « (…) während du wie sonst (…) den Tisch abräumst, den Abwasch machst, lächelst, zu José ins Bett gehst, lächelst, Geschlechtsverkehr mit ihm hast, wenn er will, lächelst, schläfst, um 5 Uhr 30 aufstehst, weiterlächelst, während du die Scheiße wegwischst. Dafür ist es jetzt nämlich zu spät.» Glorias Geschichte wird aus der Perspektive ihrer besten Freundin Rita erzählt. Obwohl der Text Gloria niemals explizit als trans Frau bezeichnet, lässt sich das geübte Auge nicht täuschen. Es ist erfreulich, dass Glorias Transidentität weder benannt noch problematisiert wird – auch wenn das Leben, das Gloria führt, offensichtlich auf ihre Transidentität zurückzuführen ist, ebenso wie die Gewalt, die ihr angetan wird und die sie erduldet. Gloria fällt nicht aus den vier Archetypen weiblicher trans Figuren heraus, die im Kino bis vor Kurzem noch gang und gäbe waren: entweder Mörderin oder Ermordete, entweder extravagant oder einsam und unglücklich. Das Kino ist in dieser Hinsicht inzwischen diverser geworden, und auch im Theater ist dies nur eine Frage der Zeit. Dennoch hat der Text von Marcos Caramés-Blanco eine große Kraft.

Die Autorin und Regisseurin Marthe Degaille (Foto: Marie Valentine Gillard)

In Marthe Degailles Beteigeuze (Übersetzung: Yasmine Salimi) wird eine andere Rita inszeniert, eine «postverbale» Rita. Es handelt sich um eine riesige Quantencomputerin. In dieser «nicht gemischtgeschlechtlichen philosophischen Science-Fiction-Komödie»[3] befinden sich vier Wissenschaftlerinnen, Zelda, Céleste, Molly und Claude, im Herzen von Rita in einem Labor für multidisziplinäre In-vitro-Experimente der Revolte. Und dann ist da noch der rote Riesenstern Beteigeuze, der im Sterben liegt und jeden Moment explodieren kann. Hier werden Humor und Science Fiction eingesetzt, um menschliche Gewalt zu thematisieren. Auch Degaille spart die in den Beziehungen zwischen Frauen präsente Gewalt nicht aus, «diese dumpfe, koloniale, rassistische, heteropatriarchale und sonstige Gewalt, die durch uns spricht und uns dazu bringt, ständig das Gleiche zu reproduzieren»[4].

Immer Frühlings Erwachen von David Paquet (übersetzt von Frank Weigand) unterzieht Frank Wedekinds Klassiker einer Neubetrachtung, um die modernen Herausforderungen von Identität und Sexualität zu erforschen.  Moritz, Wendla, Melchior, Martha, Ilse und Otto stoßen sich an dem Schweigen, das ihre sexuelle Erziehung umgibt. Melchior masturbiert leidenschaftlich seit ihrem elften Lebensjahr, Otto geilt sich an Jeff Bezos auf, Wendla bekommt zu ihrem vierzehnten Geburtstag ein abgrundtief hässliches Kleid, das sie vor Vergewaltigungen schützen soll… Mit präzisem Wortwitz fängt dieser Text treffend, humorvoll und einfühlsam die Leiden und emotionalen Achterbahnfahrten der Jugend ein. Ohne zu vergessen, wie Ilse sagt: «Es gibt nur erste Male».

Penthesile:a:s – Amazonenkampf von MarDi (Marie Dilasser) (gemeinsam übersetzt von Dorothea Arnold und Fanny Bouquet) schließlich schreibt den Mythos der Amazonen für die feministischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts um. Penthesile:a:s und Achill:e:s stehen einander auf dem Schlachtfeld gegenüber und weben und entwirren  traditionelle Geschlechterrollen.  Wir erleben ein Zerbröckeln der Sprache, das sich auch in der willkürlichen Verwendung bestimmter Satzzeichen wie dem Punkt äußert. Penthesile:a:s ist ein Manifest an der Schnittstelle von Heinrich von Kleist, Monique Wittig und Adrienne Mayor. Es ist eine Hommage – oder «Femmage» – an die Guerillères.

Szene aus David Paquets Wedekind-Adaption «L’éveil du printemps», inszeniert von Olivier Arteau (Foto: Stéphane Bourgeois)

Dieses Vorwort wäre unvollständig ohne eine Würdigung der deutschen Übersetzer*innen dieser Werke. Geschlechternormen in Frage zu stellen impliziert, die traditionellen, häufig binären Geschlechtskonzepte herauszufordern, was tiefgreifende Auswirkungen auf die Sprache als Spiegel gesellschaftlicher Strukturen und kultureller Normen hat. Im Französischen werden die grammatikalischen Formen massiv gegendert, und die inklusive Sprache steckt noch in den Kinderschuhen. Die Übersetzer*innen haben alle Möglichkeiten der deutschen Sprache genutzt, die flexibler und somit auch kreativer ist als das Französische. Ihre Übersetzungen sind ein wahrer Leckerbissen.

Jayrôme Robinet

(aus dem Französischen von Frank Weigand)

 

 

[1] Jenny Schrödl / Eike Wittrock (Hrsg.): Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre. Neofelis, 2022

[2] Auf Deutsch erschienen in der von Charlotte Bomy und Lisa Wegener herausgegebenen Anthologie Surf durch undefiniertes Gelände. Internationale queere Dramatik. Neofelis, 2022

[3] https://www.habemuspapam.be/wp-content/uploads/2022/10/BETELGEUSE-Marthe-Degaille-Dossier-_compressed-4-2.pdf

[4] https://www.habemuspapam.be/wp-content/uploads/2022/10/BETELGEUSE-Marthe-Degaille-Dossier-_compressed-4-2.pdf

 

 


Die Anthologie SCÈNE 24 erscheint am 5. Dezember 2024 im Verlag Theater der Zeit.

Die Buchvorstellung findet am 5. Dezember um 19 Uhr 30 im Hans Otto Theater Potsdam statt. Informationen und Reservierungen hier.


 

Der Schriftsteller, Übersetzer und Spoken-Wordkünstler Jayrôme Robinet (Foto: Ali Ghandtschi)

Jayrôme Robinet geboren 1977 in Frankreich, ist Schriftsteller, Übersetzer und Spoken-Word-Künstler. Zuletzt erschien sein Roman «Sonne in Scherben» (Hanser Berlin 2024). Er leitet derzeit die Geschäftsstelle des PEN Berlin.

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