
Ein Gespräch mit Franziska Muche und Alexander Schröder über das szenische Leseformat «Ambigú» Weg vom stummen Schreibtisch

Im Berliner Theater unterm Dach veranstalten die Übersetzerin Franziska Muche und der Regisseur Alexander Schröder seit mehreren Jahren das Format «Ambigú«. In spielerischen, interaktiven Lesungen werden bislang unbekannte Theatertexte auf ihr Potenzial getestet – was für übersetzte Texte oft einem «Crash-Test» gleichkommt. Am kommenden Samstag, den 5. April präsentiert die Reihe das Stück «Die Sintflut danach» der Quebecer Dramatikerin Sarah Berthiaume. Frank Weigand sprach mit den Ambigú-Macher*innen über die Geschichte und den besonderen Reiz des ungewöhnlichen szenischen Formats.
Frank Weigand: Seit über zehn Jahren gibt es die szenische Lesereihe Ambigú in Berlin. Seit 2022 findet sie im Theater unterm Dach statt. Was ist das genau für ein Format – und wie seid Ihr dazu gekommen?
Franziska Muche: Thorsten Schlenger und ich haben dieses Spiel gemeinsam mit David Maß 2013 in der Alten Kantine Wedding entwickelt, wo die Lesungen von 2013 bis 2016 stattfanden. Ambigú-Lesungen sind Kaltstartlesungen – d.h. die Lesenden kennen den Text vorher nicht. Wir wollten aber über das reine Lesen hinausgehen und die Möglichkeiten der Texte erkunden. So kamen wir auf das spielerische Format. Es ist der Art nachempfunden, wie Thorsten Schlenger als Regisseur seine Leseproben gestaltet, um die Bedeutsamkeit des Textes gleich zu Anfang des Probenprozesses zu entschärfen und den Schwerpunkt hin zum Spielen zu verschieben. Thorsten ist auch unser Gastgeber im Theater unterm Dach, das er mittlerweile leitet. Alexander wiederum war bei der allerersten Lesung und auch bei vielen weiteren als Schauspieler dabei und hat das Format von Anfang an mitentwickelt und geprägt.
Alexander Schröder: Konkret ist Ambigú ein System, um spielerisch Texte zu untersuchen. Sowohl das Publikum als auch die Lesenden auf der Bühne sind ermuntert, den Lesefluss zu unterbrechen und eine von elf Karten auszuspielen. Die Spielkarten entsprechen Regieanweisungen bzw. Improvisationsimpulsen. So können sowohl formale Möglichkeiten ausprobiert werden, wie zum Beispiel Tempo und Laustärke, als auch inhaltliche, wie die innere Haltung, der Charakter der Beziehung, oder auch die Situation, in der sich die Rollen befinden.
Franziska: Es ging uns mit Ambigú auch darum, ein Format zu schaffen, mit dem wenig gespielte Stücke und Theaterübersetzungen ohne das Budget einer Inszenierung öffentlich gemacht und sinnlich geprüft werden können, indem sie gesprochen, gehört, ausprobiert werden.

Ihr leitet diese Reihe gemeinsam. Gibt es eine bestimmte Kompetenzverteilung – oder wechselt das von Fall zu Fall?
Franziska: Alexander ist der erste Ansprechpartner bei Dramaturgie und Besetzung, ich kümmere mich um Produktion, Öffentlichkeitsarbeit und Moderation und Verdolmetschung der Gespräche.
Alexander: Bei jeder Ambigú-Veranstaltung sind die Gewichtungen zwischen uns leicht anders. Bei der Sintflut danach habe ich vorher 25 Stücke gelesen, alles deutsche Übersetzungen von französischsprachigen Stücken aus Quebec. Meine vier Favoriten hat dann wiederum Franziska gelesen, und daraus Die Sintflut danach als besonders geeignetes Stück ausgesucht. Dieses gemeinsame Vorgehen spiegelt sich auch bei Besetzungs-Überlegungen, Erstellen der Strichfassung und der Abendspielleitung.
Franziska: Ja, dieses gemeinsame Vorgehen ist für uns sehr wichtig – einerseits kann eine Ambigú-Lesung so auch stattfinden, wenn eine*r ausfällt, andererseits entsteht ein gemeinsamer Resonanzraum, der sehr wertvoll ist.

Welche Qualitäten muss ein Text besitzen, um «Ambigú-fähig» zu sein? Was sind da Eure Auswahlkriterien?
Alexander: Stücke, die zu Unrecht keine Aufführungen erleben, bekommen bei Ambigú eine Bühne. Die Sintflut danach, im französischen Raum ein Kassenschlager, hat es ja unsinnigerweise noch nicht auf eine deutsche Bühne geschafft. Wenn wir es schaffen, ein bisschen Steigbügelhalter zu spielen, haben wir ein Ziel erreicht.
Franziska: Natürlich sind wir auch zunächst vor allem mit unseren Partnern verbunden – neben dem Theater unterm Dach in diesem Fall die Antenne du Québec in Berlin, die die Lesungen im Frühjahr 2024 und 2025 finanziert hat; oder in anderen Fällen das Instituto Cervantes Berlin. Es ist dann immer ein Stück aus dem entsprechenden Sprachraum. Eine Liste an Auswahlkriterien haben wir nicht – aber wir wissen im Nachhinein immer sehr gut, warum wir uns für ein bestimmtes Stück entscheiden. Oft geht die Wahl auch auf Initiative der Übersetzerin und des Übersetzers zurück, die ein bestimmtes Stück auf die Bühne bringen wollen.

Euer Format lebt ja auch von der Teilnahme des Publikums. Funktioniert das immer gut? Könnt ihr euch an ein tollstes – und an ein schlimmstes Erlebnis erinnern? Und: Welche Art von Zuschauer*innen kommen zu «Ambigú»? Fach- und Theaterleute oder auch «normales» Publikum?
Alexander: Unser Publikum ist gemischt. Wir haben ganz verschiedene Menschen im Publikum. Mit ganz unterschiedlichen Wünschen oder Ideen. Mit jeder neuen Interpretation bekommt man eine Ahnung davon wie unterschiedlich die Inszenierungen sein könnten. Ein Text, der nur eine Interpretation zulässt, ist nicht für Ambigú geeignet – das konnten wir in der Vergangenheit überprüfen.
Franziska: Im besten Fall entstehen verschiedene Ansätze, die alle ihre Gültigkeit haben. Es geht auch darum die Phantasie anzuregen, was alles möglich ist. Im schlimmsten Fall wird es eine Nummernrevue, eine Art Improtheater mit ein bisschen Text, dessen roter Faden verloren geht. Damit das nicht passiert, übernimmt immer eine*r von uns die Spielleitung
Alexander: Sich auf ein tollstes oder schlimmstes Erlebnis festzulegen ist schwer.
Franziska: Ein ganz besonderer Moment ist einmal bei einer Lesung für Kinder entstanden: Die Spielanweisung eines Jungen aus dem Publikum lautete «den Text rückwärts lesen und jedes dritte Wort wiederholen». Es war das Ende des Stücks, mit ganz knappen Dialogen. Der Effekt war umwerfend, wie eine Art Geheimsprache mit einer großen Dringlichkeit, die man dennoch gut verstand.

Die Texte die Ihr verwendet, sind zumeist Übersetzungen. Als Übersetzer finde ich das großartig, denn einerseits ist eine «Kaltstart-Lesung» ein Crash-Test, bei dem sehr klar wird, was an einer Übersetzung funktioniert und was nicht. Andererseits wird durch euer Format auch ein bisschen für ein Laienpublikum plastisch, was eigentlich Theaterübersetzung bedeutet. Verfolgt ihr also auch eine pädagogische Absicht mit dem Projekt?
Alexander: Ja. Die lustvolle Erfahrung, wie unterschiedlich ein und derselbe Satz erlebt werden kann, ist pädagogisch sinnvoll. Es erweitert den Horizont.
Franziska: Ich bin selbst Theaterübersetzerin, oft wurden auch von mir übersetzte Texte bei Ambigú gelesen, was immer auch Auswirkungen auf meine Übersetzung hatte. Darüber hinaus führen wir im Anschluss ein Gespräch mit Autor*in und Übersetzer*in und machen so Menschen und Arbeit hinter dem Text sichtbar.

Euer letzter und euer nächster Text – «Der Gestank der Welt» von Caroline Belisle und «Die Sintflut danach» von Sarah Berthiaume sind zufälligerweise beides Übersetzungen von mir. Warum habt ihr ausgerechnet diese beiden Stücke ausgewählt?
Alexander: Bei den zur Auswahl stehenden Stücken gab es politischere Stücke als Der Gestank der Welt oder Die Sintflut danach. Bei Themen wie Flucht, Krieg, Vergewaltigung, Abtreibung oder auch Klimakatastrophe ist die Unbeschwertheit im Ausprobieren verschiedener Lesarten oft nicht so leicht möglich.
Franziska: Das ist richtig – gleichzeitig hatten wir schon wunderbare Lesungen von sehr politischen Stücken, zum Beispiel über Gewaltstrukturen in Mexiko.
Alexander: Letzten Endes geht es darum, ob die Stücke uns ansprechen und wir beim Lesen eine Phantasie für Ambigú entwickeln. Das war bei Der Gestank der Welt oder auch Die Sintflut danach sehr deutlich der Fall.

Es gibt «Ambigú» nun schon ziemlich lang. Gibt es Veränderungen im Format – oder neue Wege, die ihr damit gerne noch beschreiten würdet?
Franziska: Ambigú wurde bereits vor zehn Jahren in Zusammenarbeit mit Stefan Kreissig für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen weiterentwickelt, und kommt regelmäßig mit Schulklassen im Kunsthaus Danziger Straße oder auch Uniseminaren zum Einsatz.
Alexander: Vor einem guten Jahr hat Ambigú Eingang bei den Szenischen Schreiber*innen an der Universität der Künste gefunden. Hier wurde die Spielmöglichkeit dazugenommen, eine gerade gelesene Szene aus der Erinnerung nachzuspielen. Was blieb hängen? Oft mit dem Ergebnis, dass die Szenen nur noch ein Bruchteil so lang sind, und nur die zentrale Botschaft vermittelt wird, oder was dafür gehalten wird. Für die werdenden Autor*innen ist Ambigú ein großer Gewinn. Sie können ihre Texte noch im Entstehen überprüfen und ändern. Ambigú schärft auch das Bewusstsein darüber, was erspielt werden kann, und keinen Text braucht.
Franziska: Parallel dazu haben wir Ambigú auch zur spielerischen Überprüfung von Übersetzungen weiterentwickelt, ich habe damit z.B. im letzten Jahr bei einem Seminar an der Uni Rostock gearbeitet. Letztlich geht es immer um das Prinzip des Ausprobierens, des lustvollen und spielerischen gemeinsamen Erkundens.
Alexander: Es hilft auch atmosphärisch unter den Schreibenden und Übersetzenden, die eigenen Texte so unheilig behandelt zu sehen. Es unterstreicht den Werkstatt-Charakter. Die Fülle an Möglichkeiten wird gemeinsam spielerisch erfahren, und nicht allein am stummen Schreibtisch.
Ambigú-Lesung: DIE SINTFLUT DANACH von Sarah Berthiaume
aus dem Quebecfranzösischen von Frank Weigand
Spielleitung und Konzept: Franziska Muche und Alexander Schröder
Aufführung: Samstag 5.4. 2025, 19.30, Theater unterm Dach, Berlin
Weitere Informationen und Reservierung hier.

Franziska Muche übersetzt zeitgenössische Theatertexte aus dem Spanischen und, zusammen mit Pilar Sánchez Molina, auch ins Spanische, und übertitelt Gastspiele. 2020 wurde sie mit einem Exzellenzstipendium des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet. 2021 und 2022 gab sie mit Carola Heinrich zwei Anthologiebände zur spanischsprachigen Dramatik im Neofelis-Verlag heraus. Seit 2021 hält sie Vorträge und Seminare zur Theaterübersetzung an Hochschulen. Sie gründete 2013 zusammen mit Thorsten Schlenger die Reihe szenischer Lesungen Ambigú, zunächst in der Alten Kantine Wedding. Seit 2022 leitet sie Ambigú gemeinsam mit Alexander Schröder im Theater unterm Dach. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Alexander Schröder ist Schauspieler, Regisseur und Dozent. 1985 wird er Regieassistent an der Schaubühne am Lehniner Platz Berlin, wo er u.a. Inszenierungen von Peter Stein und Andrzej Wajda betreut. Ab 1988 macht er seine Schauspielausbildung an der HdK Berlin und erhält 1992 sein erstes festes Engagement als Schauspieler erneut an der – mittlerweile von Andrea Breth – geleiteten Schaubühne. Hier arbeitet er mit Luc Bondy, Klaus Michael Grüber und anderen. Von 1994-2001 ist er am Staatsschauspiel Dresden engagiert, wo er auch Regie führt und seine Leidenschaft für die Ausbildung von Schauspielern entdeckt. Seit 2001 arbeitet er frei, u.a. an der UdK Berlin als Gastprofessor für Szenischen Unterricht.
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