africologne (10): eine Performance im Museum Die «Katastrophale Kosmogonie» des Zora Snake

Der Performancekünstler Zora Snake im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln (Foto: Marie Yan)

von Marie Yan

 

URSPRÜNGE

Eine Musikerin in einer weißen Tunika (Maddly Mendy-Sylva) führt uns zu den Klängen einer Querflöte in den zweiten Stock des Museums. Wir schlängeln uns zwischen den Vitrinen hindurch, in denen die Kunstwerke ausgestellt sind. Unter ihnen sticht eine Silhouette hervor: eine Gestalt mit goldener Haut und einer Maske aus schwarzem Stoff mit weißen Streifen, zwei Stoffbahnen, die ihr über Brust und Rücken reichen, und großen runden Ohren. Wir erkennen den Performer Zora Snake wieder, der sich in einem Schaukasten eingeschlossen hat. Mittels bedruckter A4-Blätter teilt er uns mit: «Please take off your masks I can’t see you / Apparently I’ve been robbed / In the silence of corpses / I’ve seen a lot of blood / Capitalism / Destruction […]». [1]

Als Zora Snake aus dem Schaukasten tritt und seine Maske abnimmt, kniet er vor einer Statuette nieder, die ein wenig erhöht ausgestellt ist und hält ihr eine Flasche Rotwein hin. Sie stellt einen Würdenträger aus der Bangoua-Region (im Südwesten Kameruns) dar und wurde im Jahr 1900 während einer Militäroffensive von Leutnant Kurt Strümpell erbeutet. 1966 gelangte sie in die Bestände des Museums und gehört zu den Objekten, für die dieses einen Restitutionsprozess eingeleitet hat. So überlagern sich die ursprüngliche Gewalt der Kolonisierung und die Offenheit der Performance; Zora Snakes «katastrophale Kosmogonie»[2] setzt sich in Bewegung. Ein Mythos, der sowohl von der zugefügten Zerstörung als auch von einer ungleichen Beziehung mit vielen Masken erzählt.

SALZ UND KATASTROPHE

Bald folgen wir ihm erneut, diesmal in die riesige Halle des Rautenstrauch-Joest-Museums, die ganz aus Glas, Metall und weißem Stein besteht und in der sich ein imposantes Bambus-Silo auf Stelzen erhebt, das ursprünglich aus Indonesien stammt. Zora Snake, der sich in der Mitte niedergelassen hat, wiederholt einige Gesten, die ich ihn schon vor zwei Tagen in einer anderen Performance mit denselben Elementen ausführen sah. «Man muss das Ritual entmystifizieren», erklärte er 2019 in einem Interview im Linden-Museum in Stuttgart. Damals präsentierte er dort die Performance Les séquelles de la colonisation, partie 2 Patrimoine africain et ses conflits en Europe («Die Nachwirkungen der Kolonialisierung, Teil 2 Afrikanisches Kulturerbe und seine Konflikte in Europa»).

Anschließend besteht seine erste Handlung darin, einen Sack mit mehreren Kilo Salz zu öffnen, das er über die Flagge der Europäischen Union schüttet. Kurz darauf schlägt er mit beiden Fäusten auf den Haufen ein und verstreut das Salz erst um sich herum, in Raum, den wir durch unsere Anwesenheit eingrenzen. Millionen von Salzkörnern spüren alle Wunden der Haut auf und hindern sie daran, sich wieder zu schließen. Ich verstehe diese Handlung als Metapher für die vielfachen Heimsuchungen durch die Erinnerung. In einem Museum mit Tausenden von Objekten, die in einem kolonialen Kontext erworben wurden, spüren diese Salzkörner die Bruchstellen auf und bringen sie zum Vorschein. Die Erinnerung an eine gemeinsame Empfindung ruft die gemeinsame Erinnerung an die katastrophale Begegnung und ihre Fortsetzung in den neokolonialen Beziehungen wirtschaftlicher Unterdrückung wach, in denen das Salz eine tragende Rolle spielt. [3] Das Salz behauptet sich als lebendige Instanz der Kosmogonie, genau wie das Gold, das den Körper des Performers bedeckt.

SITUATIONEN

Nach dem Salz kommt die Erde. Zora Snake liegt auf dem Bauch und hält eine künstliche Blume in den Händen, die von seinen Assistentinnen nach und nach mit Erde bedeckt wird. Ein durchdringender Geruch. Während dieses Vorgangs beobachte ich die zahlreichen Symmetrien, die Linien, die die Performance zeichnet. Nicht nur jedes einzelne Element, sondern auch ihre Anordnung sagen etwas über den Raum aus, in dem sich die katastrophale Kosmogonie entfaltet.

«Ich stelle Europa in den Mittelpunkt der Verantwortung», sagt Zora Snake über L’Opéra du Villageois wie auch über seine anderen Performances. Mikro- und Makrogeografien sowie Geopolitiken fügen sich ineinander. Die Europäische Union, Deutschland und Frankreich, Dschang – Sonkeng, sein Heimatdorf im Südwesten Kameruns, wo die Performance entstand, Köln, das Museum. In Letzterem sind der Körper des Performers, die Statuette und die rituellen Gegenstände, die sie begleiten, der Thron von Sultan Ibrahim Njoya aus dem Königreich Bamoun, unter einer Glasglocke aufgereiht. Der Thron, der der «unaussprechliche Ausdruck all dessen ist, was der Körper erleiden musste». Zora Snake ist nun verschwunden, begraben. Eine Zuschauerin oder ein Zuschauer kommt und leert die zu Beginn der Performance präsentierte Rotweinflasche auf den Erdhügel.

Diesen aufmerksamen Umgang mit dem Ort, mit der Anordnung jedes einzelnen Elements der Performance, lese ich als den Willen, die Weitergabe eines Erbes sichtbar zu machen, das der Performer verkörpert. Er beruft sich dabei auf die Tradition der Bamileke. Ein Erbe, das der Tod nicht besiegt hat, obwohl er noch immer in dem Chaos lauert, das die Kolonialisierung hinterlassen hat. Und wir werden spiegelbildlich zu Erb*innen, die aufgerufen sind, uns in unseren eigenen Geschichten zu verorten. Endpunkt dieser katastrophalen Kosmogonie, in der wir gemeinsam gefangen sind. «They took the work, not the spirit»[4] Zuvor ließ die Erklärung des Performers auf einem neuen A4-Blatt wenig Zweifel an dem, was er vermitteln wollte, doch geht die Vielzahl der Bilder schließlich darüber hinaus.

Zuvor hatte mich diese Erklärung des Künstlers auf einem neuen A4-Blatt stutzig gemacht Mehrere Formulierungen, deren Interpretation klar, doch deren Ausdruck mehr oder weniger verschlüsselt ist, durchziehen die Performance. Welche Funktion hat diese Ästhetik einer expliziten paradoxen Poesie? Die Antwort liegt vielleicht in dieser katastrophalen Kosmogonie. Diese Formelulierungen werden zu Ankerpunkten der mythologischen Forschung, da sie, wie mir scheint, aufgrund ihrer kurzen und eindringlichen Formulierungen dazu bestimmt sind, wiederholt und weitergegeben zu werden.

Zora Snake erhebt sich bald wieder aus seinem vergänglichen Grab und verbeugt sich und L’Opéra du Villageois schließt mit dem riesigen Raum des Foyers, der den tosenden Applaus beinahe verschluckt.

 

[1]Nehmt bitte eure Masken ab, ich kann euch nicht sehen / Anscheinend wurde ich bestohlen / In der Stille der Leichen / Ich habe viel Blut gesehen / Kapitalismus / Zerstörung […]».
[2] Die folgenden Zitate stammen aus dem Gespräch mit dem Künstler.
[3] Senegal zum Beispiel, ein Land, das wie Kamerun von Frankreich kolonialisiert wurde, exportiert massiv das im Inland produzierte Salz und kann es nicht mehr für den Eigenbedarf verwenden. Der größte Salzproduzent des Landes, Salins du Sine Saloum, befindet sich im Besitz eines Franzosen und gilt als repräsentativ für «die französische Kontrolle über die [senegalesische] Wirtschaft». Sene.news vom 5. April 2018
[4] «Sie haben das Werk genommen, nicht den Geist.»

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

Marie Yan (Foto: Yan Ho)

Marie Yan ist eine mehrsprachige Autorin und Dramaturgin. Sie schreibt auf Französisch und Englisch, spricht Deutsch, lernt Kantonesisch. Die Welten, die sie entwirft, stützen sich auf dokumentarisches Material und spekulative Fiktion. Sie hat über Grenzen (Ich muss rüber, Auftrag des Theaters Eskişehir, 2019), Verschwörungstheorien (La Théorie, Festival Impatience, Paris, 2021), die drohende Klima-Katastrophe und das Anwachsen des Autoritarismus (A Tidal Home, Hong-Kong, 2021) geschrieben. Ihr laufendes Projekt Minotaurus oder das Kind im Labyrinth, nach Dürrenmatt, beschäftigt sich mit der Inhaftierung von Minderjährigen in Frankreich in Zusammenarbeit mit Theatergruppe Lou Pantail. Für ihr erstes Stück The Fog wurde sie mit dem Mary Leishman Preis ausgezeichnet, für ihren demnächst erscheinenden Essay Hong Kong: Struggling home erhielt sie ein Grenzgänger-Stipendium. Sie arbeitet zwischen Frankreich und Deutschland.

www.marieyan.com

@_marie_yan (IG)

 

Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

Noch keine Kommentare / Diskutieren Sie mit!

Wir freuen uns auf Ihre Kommentare. Da wir die Diskussionen moderieren, kann es sein, dass Kommentare nicht sofort erscheinen. Mehr zu den Diskussionsregeln erfahren Sie hier.

Kommentar erstellen

Bitte geben Sie Ihren Namen und Ihre E-Mail-Adresse an, um einen Kommentar zu verfassen.