africologne (6): Marie Yan über «Bikutsi 3000» von Blick Bassy Erzählung für die nächsten tausend Jahre

Eine der Protagonistinnen aus «Bikutsi 3000» (Foto: d.r.)

von Marie Yan

 

Seit meinem gestrigen Artikel über die Eröffnung des africologneFESTIVALs habe ich die Sprache gewechselt und beschäftige mich diesmal mit der Produktion Bikutsi 3000 des multidisziplinären Künstlers Blick Bassy. Bikutsi – ein traditioneller Musik- und Tanzstil des Beti-Volkes, der in Kameruns Hauptstadt Yaoundé durch die Entwicklung der Bars seit den 1940er und 50er Jahren populär wurde. 3000, wie das Jahr 3000 auf Erden – wenn bis dahin noch der gregorianische Kalender gilt.

Die Sonne geht unter, als ich mich zur Europapremiere von Bikutsi 3000 auf den Weg ins Theater mache. Köln, durch das der Rhein fließt, hat wie andere Städte auch ein rechtes und ein linkes Ufer. Auf die rechte Seite des Flusses versucht die Stadt gerade, kulturelle Aktivitäten zu verlagern, dorthin, wo, wie mir mein Gastgeber während des Festivals erzählt, bisher die Stadtteile lagen, die vom städtischen Kulturangebot am wenigsten erreicht wurden. Die Tanzfaktur, zu der ich jetzt gehe, befindet sich, wie das Depot des Schauspielhauses, das ich gestern besucht habe, erneut in einer Art wenig einladendem Industriegebiet, in dem allerdings eine Lagerhalle zum Veranstaltungsort umgebaut wurde.

Wenige Minuten nach meiner Ankunft sitze ich mit dem Rücken an das Sperrholzgeländer der Zuschauertribüne gelehnt und die Vorstellung beginnt. Eine Projektion im Bühnenhintergrund verkündet: «Diese Erzählung enthält wahre historische Ereignisse». Der paradoxe Effekt einer solchen Ankündigung ist natürlich, dass alles die Färbung eines «Was wäre, wenn…?» annimmt. Von da an kann das Publikum, wenn ihm die Referenzen einer Schlüsselerzählung[1] fehlen, nicht anders, als sich auf den doppelten Status einer Erzählung zu verlassen, in der das Historische und das Imaginäre zusammen die Fiktion als mögliche Zukunft aufscheinen lassen. In diesem Moment kommt mir wie ein Echo die Definition des Afrofuturismus in den Sinn, die der Schriftsteller und Forscher DK Nnuro vorschlägt: «Eine Einladung, durch das Portal der Schwarzen Möglichkeiten in vertraute und fremde Bereiche zu gelangen.»[2]

In Blick Bassys Universum sind Geschichte und Erzählung seit langem miteinander verwoben. In einer zeitlichen Geste des Vermittlers und Erfinders laden seine künstlerischen Arbeiten sowohl dazu ein, die Aufmerksamkeit auf bedeutende Episoden in der Geschichte Kameruns zu richten, als auch eine Zukunft zu betrachten, die durch den Widerhall der Stimmen, die er zu Gehör zu bringen versucht, verändert wird. Erzähler*innen-Stimmen, Sänger*innen-Stimmen.  Binda Ngazolo zum Beispiel, die er 2019 auf seinem Youtube-Kanal dazu einlud, anlässlich der Veröffentlichung seines Albums 1958 die Geschichte seines Landes zu erzählen – ausgehend von dem Jahr (1958), in dem die französische Armee Um Nyobè, den Anführer des antikapitalistischen Unabhängigkeitskampfes  ermordete, dem er das Album widmet und dessen Aura er damit fortschreibt. Oder auch die Stimmen der Bevölkerungsgruppen, die er trifft, um Zeugnisse über den Kamerunkrieg zu sammeln, den Frankreich von 1945 bis 1971 führte – heute leitet er gemeinsam mit der Historikerin Karine Ramondy eine Erinnerungskommission. Und heute Abend die afrofuturistische Erzählung von Bikutsi 3000, die einen Bogen von mehreren Jahrtausenden nachzeichnet, ausgehend von einer utopischen Idee: Was wäre, wenn im Jahr 1885, als Bismarck die europäischen Imperialmächte zur Berliner Konferenz einlud, die Königin Ngo Ngyaga und die Nkolmesseng-Frauen der Mbog-Schwesternschaft den Widerstand aller Völker von Mintaba mittels heiliger Tänze organisiert hätten? Gleichermaßen visionär und prophetisch, musste, muss und müsste – die Zeit verzerrt sich, da sich Geschichte und Erzählung vermischen – dieser Widerstand zur vollständigen Emanzipation von Mintaba, dem Kontinent-Land führen.

Eine Stimme trägt uns durch die gesamte Geschichte hindurch, die Stimme von Hermine Yollo, die majestätisch auf drei Stoffbahnen im Bühnenhintergrund wie auf eine Leinwand projiziert wird. Gemeinsam mit ihr durchschreiten wir nacheinander jedes der fünf Gebiete, die damit beauftragt sind, eine Tänzerinnenarmee aufzustellen: Nkolmesseng, das heutige Kamerun, Okahandja (Namibia), Konkomba (Togo), Maji-Maji (Tansania), Umugezi (Burundi- Ruanda).

Die Dramaturgie von Bikutsi 3000 bedient sich der Wiederholung, die durch die Verstreuung der Widerstandsbibeln vorgegeben wird, die geschrieben wurden, um die Kolonisatoren durch den Tanz zu bekämpfen. Die Aufführung wird rhythmisiert durch die Ankunft in einem neuen Territorium, die Vorstellung seines Regierungssystems, einige für seine spezifische Persönlichkeit wesentliche Elemente und schließlich die Ernennung einer Tanz-Kapitänin und den Tanz selbst. Jede Choreographie, die gemeinsam von den Tänzerinnen und Choreographinnen Germaine Marie Louise Katia Eyi, Beatrice Annette Ntsoli Bouillong, Marie Philomène Celeste O’Konor und Isis Jobrelle Abanda entwickelt wurde, entfaltet ein unterschiedliches Universum: Die erste, die vom Bikutsi geprägt ist, bei der sich Aufschwünge aus dem Becken und dann aus dem Brustkorb mit fest im Boden verankerten Positionen abwechseln, oder die zweite, die der blinden Kapitänin Mahahero, deren Gesten sich zum Himmel strecken und deren Schwerpunkt höher liegt, in einer dem Mond zugewandten Okahandja-Zivilisation. Eine Mischung aus Archivbildern aus dem Musée du Quai Branly, dem ersten Auftraggeber der Produktion, und großformatigen Porträts der Königinnen, die zwar gefilmt, aber in zeichentrickartigen Texturen wiedergegeben sind, ermöglicht es, von einem geografischen Raum zum nächsten zu navigieren. Die Kostüme der Anführerinnen der Tänzerinnenarmeen, die sich bei jedem Auftritt leicht unterscheiden, unterstreichen dies noch.

Die Wiederholung dieses Alternierens, eine leicht statische Inszenierung, ein wenig wie eine Filminstallation, die von einer Live-Performance besucht wird – eine Charakteristik, die vielleicht auf ihre ursprüngliche museale Inspiration zurückzuführen ist – lässt schließlich ausreichend Zeit, um die außergewöhnlichen Einfälle der afrofuturistischen Vorstellungswelt des Stücks zu genießen und zu verstehen.

Ich denke zum Beispiel an das Zirkulieren der Widerstandsbibeln, die «auf See ausgesetzt» wurden und dann Jahre oder Jahrzehnte später von den Frauen, für die sie bestimmt waren, erwartet, empfangen oder zufällig gefunden wurden. Denkt man über dieses Zirkulieren nach, erscheint es wie eine melancholische und zugleich den Optimismus der Erzählungen tragende Anspielung auf die Weitergabe lebenswichtigen Wissens. Ohnehin spielt das gesamte Stück auf die Schaffung und Bewahrung von Wissen an, sei es durch einen Monat, der in Okahandja der Beobachtung der Gestirne gewidmet ist, oder durch die Tanzschule der Kapitänin Aaliya in Maji-Maji. «Die Tradition ist der Mittelpunkt jeder Emanzipation», sagt Blick Bassy nach der Aufführung.

Andererseits vollzieht sich die Feier der Frauen als bedeutende politische, künstlerische und spirituelle Persönlichkeiten in dem Stück mit Pinselstrichen, die nichts dem Zufall überlassen. Sie zeugt von dem Willen, dieses Stück nach Kamerun und anderswohin zu bringen, um, wie eine der Tänzerinnen sagt, zum Nachdenken über die Stellung der Frau und zum Streben nach mehr Gleichberechtigung anzuregen. Eine bedeutende dekoloniale Geste, hat doch die Kolonisierung Kameruns dazu beigetragen, die Frauen aus den Machtpositionen zu verdrängen, sowohl durch die Militarisierung der Gesellschaft als auch durch die Reproduktion der Struktur eines zentralisierten Staates.[3]

Das Stück wird mit standing ovations belohnt, so eindeutig strahlend ist seine Energie, die vollkommenene Begegnung zwischen Musik und Tanz, und seine zukunftstiftende Aussage.  Auf dem Heimweg vertiefe ich mich in das soeben erst erschienene Album Mádibá – «Wasser» auf Bassa –, um das Eintauchen in das Universum von Bikutsi 3000 noch ein wenig zu verlängern.

[1] Ich lade die Leser*innen und zukünftigen Zuschauer*innen ein, falls sie sie nicht bereits wiedererkennen, nach all den Namen zu suchen, die das Stück durchziehen und es für eine umfangreiche Symbolik von Geografien und Geschichten öffnen, die vom Regisseur gewollt ist und sich über reale Grenzen hinwegsetzt, einen utopischen Panafrikanismus und eine gegenwärtige Geschichte beschwört: wie die Armee der Bamenda-Tänzerinnen, in Anspielung auf die Stadt in Kamerun, die Schauplatz eines separatistischen Konflikts zur Errichtung eines englischsprachigen Staates ist und zugleich auch eine der am meisten vom Anstieg des Meeresspiegels bedrohten Städte.
[2]»An invitation into a portal of Black possibilities within familiar and unfamiliar realms», in opening of the online event «Afrofuturism as Expression: Literature, Dance, and Black Abstraction» by the University of Iowa, 20 september 2021.
[3] Siehe Genre et commandement territorial au Cameroun, Ibrahim Mouich, Cahier d’études africaines, 186 | 2007, p. 391-408.

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

Marie Yan (Foto: Yan Ho)

Marie Yan ist eine mehrsprachige Autorin und Dramaturgin. Sie schreibt auf Französisch und Englisch, spricht Deutsch, lernt Kantonesisch. Die Welten, die sie entwirft, stützen sich auf dokumentarisches Material und spekulative Fiktion. Sie hat über Grenzen (Ich muss rüber, Auftrag des Theaters Eskişehir, 2019), Verschwörungstheorien (La Théorie, Festival Impatience, Paris, 2021), die drohende Klima-Katastrophe und das Anwachsen des Autoritarismus (A Tidal Home, Hong-Kong, 2021) geschrieben. Ihr laufendes Projekt Minotaurus oder das Kind im Labyrinth, nach Dürrenmatt, beschäftigt sich mit der Inhaftierung von Minderjährigen in Frankreich in Zusammenarbeit mit Theatergruppe Lou Pantail. Für ihr erstes Stück The Fog wurde sie mit dem Mary Leishman Preis ausgezeichnet, für ihren demnächst erscheinenden Essay Hong Kong: Struggling home erhielt sie ein Grenzgänger-Stipendium. Sie arbeitet zwischen Frankreich und Deutschland.

Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

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