africologne (7): Marie Yan über das DIALOGFORUM am dritten Festivaltag Reparieren und rehumanisieren (Teil 1 von 2)

Der kameruner Performer und Choreograf Zora Snake bei seiner Performance vor der Uni Köln (Foto: Kerstin Ortmeier)

von Marie Yan

 

Unsicher, wo wir hinschauen sollen, stehen wir Zuschauer*innen draußen vor der betongrauen brutalistischen Architektur der Kölner Universität. Ein großer Baum erhebt sich über uns. An den Zäunen dahinter hängen Banner, die das Programm von Africa All Around ankündigen. Immer wieder ertönt das Klingeln von Fahrrädern, die an uns vorbeifahren.

Als Zora Snake erscheint, tut er dies mit langsamen Schritten, die, obwohl wir alle regungslos dastehen, mit unserer aufgeregten Erwartungshaltung kontrastieren. Er trägt ein weites, braunes, aus dickem Stoff ausgeschnittenes Gewand und hält einen Stab mit einer Feder in der Hand, den er in die Luft reckt und schüttelt. Er bleibt vor einem Zuschauer stehen, streicht ihm mit der Feder über den Kopf und blickt ihm dabei tief in die Augen. Worauf der unsichere Zuschauer mit einem raschen Neigen des Kopfes antwortet.

Zufällig ist der Mann der künstlerische Leiter des Kulturprogramms des Berliner Humboldt Forums. Einer Institution, die eine große Menge geraubter oder unter Kolonialherrschaft erworbener Kunstwerke besitzt und gegen die mehrfach zum Boykott aufgerufen wurde. Das Thema der dialogFORUM-Diskussion an diesem Nachmittag, die mit dieser Performance eröffnet wird, lautet: «Recognise, restitute, repair» («Anerkennen, Restituieren, Reparieren»), was diesen Moment mit Zora Snake, einem Schwarzen Performancekünstler und Choreografen aus Kamerun, der sich seit Jahren mit den Verheerungen der Kolonialisierung auseinandersetzt, und Jan Linders, dem weißen deutschen Vertreter einer neokolonialen Institution, für mich als Person, die für diese Institution gearbeitet und sie von innen erlebt hat, zu einer ganz besonderen Szene macht.  Die Performance legt auf geniale Art und Weise die Machtspiele offen, die zwei Individuen durchziehen, und das, wie ich später erfahre, zu einem Zeitpunkt, als sie sich tatsächlich gerade kennengelernt hatten und über den Auftrag für ein neues Stück diskutierten.

Zora Snake kniet sich auf einer Matte hin und stellt eine Holzstatuette vor sich, die eine schwangere Gestalt mit erhobenen Armen darstellt. Nachdem er sie mit Wasser übergossen hat, zieht er sein Gewand aus, unter dem ein schwarzer Büroanzug zum Vorschein kommt. Dann taucht er seine Hand in eine Schale voller Ton, mit dem er sich Gesicht und Mund bestreicht, seine Gesichtszüge überzeichnet und ein groteskes Doppelkinn formt. Als er fertig ist, zuckt sein Körper, als wolle er etwas ausstoßen. Ein leises «Oh» dringt heraus, das sich nach und nach in ein Wort verwandelt: «Kapitalismus».

Damit ist der Ton für das gleich beginnende Panel gesetzt. Wir werden uns damit beschäftigen, was Herrschaftsmechanismen im Bereich der Empfindungen anrichten und wie wir sie mit Klarheit betrachten können, in der Hoffnung, dass auch wir Mittel und Wege finden, sie aus unseren Körpern zu vertreiben.

Zora Snake fährt fort, sein Gesicht mit Klebeband und Schnur in ein anderes zu verwandeln, befestigt Zweige und Federn daran und wird zu einer Kreatur, die uns in die Eingangshalle der Universität führt und dann verschwindet. Wir betreten nun alleine einen Vorlesungssaal, in dem gerade die Redner*innen Platz nehmen. Dr. Ndongo Samba Sylla, Leiter des africologneDIALOGFORUMs, stellt die einzelnen Teilnehmer*innen vor. Dann beginnen ein Panel und eine Diskussionsrunde, die so intensiv und vollgepackt sind, dass wir mindestens um eine Stunde überziehen, und deren Energie ich nun zu beschreiben versuchen werde.

Die Panelteilnehmer*innen Zora Snake, Dr. Ndongo Samba Sylla, Mireille Fanon Mendès-France, Dr. Amzat Boukari-Yabara und Dr. Koulsy Lamko. (Foto: Kerstin Ortmeier)

WAS IST ANERKENNUNG WIRKLICH WERT?

Mireille Fanon Mendès-France, Anwältin, Antirassismus-Aktivistin und UN-Expertin für Menschen afrikanischer Abstammung, erinnert an die Aufmerksamkeit, die in diesem Jahr dem Todestag von Toussaint Louverture (1743-1803), dem Anführer der Revolution, die zur Unabhängigkeit des damals unter französischer Herrschaft stehenden Haiti führte, zuteil wurde. Ein Vertreter der französischen Regierung eröffnete eine Gedenkveranstaltung mit den Worten: «Wir feiern den 220. Jahrestag des Todes von Toussaint Louverture und den 338. Jahrestag des Code Noir.» Und übersah dabei vollkommen, wie empörend es ist, das Auferlegen von Ketten zugleich mit einem Mann zu feiern, der sie für ein ganzes Volk und gemeinsam mit ihm gebrochen hat.
Eine rhetorische Strategie, die auf höchster staatlicher Ebene verfolgt wurde, so auch von Präsident Emmanuel Macron, der Toussaint Louverture später als «einen Sklaven, einen Franzosen, der von einem weißen Mann befreit wurde» bezeichnete.

Beide Ereignisse sind, wie es Mireille Fanon Mendès-France formuliert, Ausdruck der «Undurchlässigkeit Frankreichs für jeglichen dekolonialen Ansatz». In der Tat ist diese Undurchlässigkeit nicht lediglich auf Unsensibilität zurückzuführen, sie ist auch der raffinierte Trick eines «Blicks von oben», der alle Ereignisse und historischen Persönlichkeiten zum Ruhme des «roman de la nation» verflacht. Sie ist das Ergebnis einer bewussten Abwendung von den Realitäten, die der Umgang mit dem kolonialen Erbe tatsächlich bedeutet. Ein Blick von oben, der laut Mireille Fanon Mendès-France beispielhaft war, als die Vereinten Nationen zum Auftakt des Jahrzehnts für Menschen afrikanischer Herkunft (2014-2024) den Vorschlag ihrer Arbeitsgruppe ablehnten, ihr die Richtung «Reparation, Gerechtigkeit und Entwicklung» zu geben, und sich stattdessen für «Anerkennung, Gerechtigkeit und Entwicklung» entschieden.

Die Anerkennung bewegt sich somit für das internationale und nationale Recht in bereits bestehenden Rahmen, die es doch eigentlich zu durchbrechen gilt. Was ist Anerkennung also wirklich wert? Keinen roten Heller: «Wir müssen die gesamte koloniale Matrix dekonstruieren, um eine neue Menschheit zu schaffen. Wenn wir das Paradigma der weißen Vorherrschaft abschütteln wollen, müssen wir Reparationszahlungen und die Rückgabe der kolonialen Schulden fordern.»¹

 

¹Alle Zitate in den letzten beiden Abschnitten dieses Textes stammen von Mireille Fanon Mendès-France.

 

Im zweiten Teil, der morgen erscheint:

RESTITUTION IS REPARATION

UNDER RACIAL CAPITALISM REPAIR IS ENDLESS

 

Aus dem Englischen von Frank Weigand

Marie Yan (c) Yan Ho

Marie Yan ist eine mehrsprachige Autorin und Dramaturgin. Sie schreibt auf Französisch und Englisch, spricht Deutsch, lernt Kantonesisch. Die Welten, die sie entwirft, stützen sich auf dokumentarisches Material und spekulative Fiktion. Sie hat über Grenzen (Ich muss rüber, Auftrag des Theaters Eskişehir, 2019), Verschwörungstheorien (La Théorie, Festival Impatience, Paris, 2021), die drohende Klima-Katastrophe und das Anwachsen des Autoritarismus (A Tidal Home, Hong-Kong, 2021) geschrieben. Ihr laufendes Projekt Minotaurus oder das Kind im Labyrinth, nach Dürrenmatt, beschäftigt sich mit der Inhaftierung von Minderjährigen in Frankreich in Zusammenarbeit mit Theatergruppe Lou Pantail. Für ihr erstes Stück The Fog wurde sie mit dem Mary Leishman Preis ausgezeichnet, für ihren demnächst erscheinenden Essay Hong Kong: Struggling home erhielt sie ein Grenzgänger-Stipendium. Sie arbeitet zwischen Frankreich und Deutschland.

Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

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