africologne(5): Marie Yan über den ersten Festivaltag Eröffnen

Eröffnungs-Keynote der Autorin Yvonne Adhiambi Owuor (Foto: Marie Yan)

von Marie Yan

 

Köln-Mülheim, 1. Juni 2023. Nach einem gefühlt endlos langen Marsch durch halbverwaiste Straßen – Ich habe die richtige Haltestelle verpasst – erreiche ich den Innenhof des Depots des Schauspielhauses: ein containerartiges Gebäude auf einer breiten Betonplatte, früher einmal eine Kommissionierungshalle, heute eine dauerhafte Zusatzspielstätte des historischen Stadttheaters. Links vor dem Eingang sind Essensstände aufgebaut, wie in einer Kantine. Auf der rechten Seite sind Tische mit weißen Stoffbahnen bedeckt, auf denen alsbald Sektgläser platziert werden. Leute kommen unter freundlichem Stimmengewirr zusammen. Einige von ihnen sind einander vermutlich bereits begegnet oder haben sich vielleicht im Rahmen der European Conference on African Studies kennengelernt, die schon seit zwei Tagen an der Uni Köln stattfindet. Wir haben uns zum Auftakt des Programms African Futures Cologne 2023 versammelt, zu dem auch das Kunstfestival Africologne gehört.

Ich erwähne diese Details, um die gestaltlose Anspannung zu zerstreuen, mit der ich zu diesem Abend gekommen bin.

Grund für dieses Unbehagen und, geben wir es ruhig zu, für diese Müdigkeit, ist das Eröffnungsstück. Etwas wiederholt sich. Etwas wiederholt sich in der wiederholten Einladung an weiße Künstler*innen, die aus nicht-weißen Geschichten oder Performer*innen Kapital schlagen und dafür angeprangert werden, und das in einer Zeit, in der eine Menge talentierter Leute in ihrer künstlerischen Arbeit im wahrsten Sinne des Wortes ihre Haut aufs Spiel setzen und dafür nicht die größten Theater und die Eröffnungsabende bekommen. Kontroverse ist ein wunderbar verkaufsförderndes Argument, wenn man nur laut genug sagt, dass das eigene Stück das Gegenteil von dem bedeutet, wofür man angegriffen wird[1]. Ich werde den Namen des Künstlers hier nicht nennen. Er steht im Programmheft.

Auf dem Weg zu meinem Platz habe ich einen kürzlich erschienen Artikel von Teju Cole im Ohr, der sich mit der Schönheit und der Existenz von Vermeers Gemälden auseinandersetzt: «Jegliches Kunstwerk ist ein Hinweis auf die materiellen Umstände, unter denen es entstanden ist.»[2] Worauf weist es dann hin, wenn man bewusst ignoriert, dass ein weißer Künstler, der im südafrikanischen Post-Apartheid-Kontext arbeitet, sich notwendigerweise auf einer Seite von W.E.B. Du Bois colour line befinden muss? Diese Eröffnung mit seiner Arbeit, soll sie uns mitteilen, dass all diese ererbten Bedingungen keine Rolle spielen, solange die Kunst zufrieden stellt? Was genau wird hier gefeiert? Und schließlich, frage ich mich: Was soll sie eröffnen? Und was genau wird da eröffnet?

Kurz zuvor hatte ich mit Ehrfurcht der Eingangsrede der Schriftstellerin Yvonne Adhiambi Owuor gelauscht, die verkündete:  «Was für eine Zeit existenzieller und dramatischer Kämpfe der Weltanschauungen und Mythologien. Welch ein Chaos. Welch eine Gelegenheit. Diese Zeit des Wandels ist gekennzeichnet vom widerwilligen Rückzug der alten Mächte aus unserer Welt. Ungewissheit und Zerfall, wenn Systeme und Strukturen nachgeben und die menschlichen Bedürfnisse in ihren komplexen Realitäten und den Möglichkeiten, die sich dabei auftun, nicht mehr schützen oder tragen können. Es ist eine Zeit für neue Metaphern und Archetypen.»

Diesen letzten Satz behalte ich ganz nah bei mir. Eröffnung, wie in «eine neue Jahreszeit der Vorstellungskraft».

Das Stück hat bereits begonnen, auf der Bühne werden rituelle Gesten vollzogen – das Waschen von Samsons Händen und Füßen… – die, wie ich weiß, einem tatsächlichen Initiationsritual nachempfunden sind. Ich habe dies bei einem Interview mit Elvis Sibeko erfahren, der in der Uraufführung von Samson getanzt und das Stück choreographiert hat. Er sagte zu mir: «Wir müssen zusammenarbeiten. Sogar mit unseren Kolonisatoren, denn sie sind ein Teil dieser Zukunft, wir werden dem niemals entkommen.» Er erzählte mir, wie er sich für das Stück «Sprünge vom Volk der Massai, die Sprache der Straße, diese Wut, die wir Kolonisierten haben, diese nervöse, wachsame Körperlichkeit, mit der wir Kugeln ausweichen, diese Wachsamkeit, die von dem kommt, was wir durchgemacht haben, und dann die heilige Sprache der sangoma» ausgeliehen hat.  Er erzählte mir von seiner Initiation als göttlicher Heiler, einer Erfahrung, die den Regisseur extrem interessierte, und dass dieser kreative Prozess es ihm ermöglichte, aus dem zu schöpfen, was für ihn am Persönlichsten und Heiligsten war: «Samson wird mit der Gabe geboren, und die Gabe wurde ihm von den Göttern gegeben, auch ich wurde auch mit einer Gabe geboren: Also steht es eins zu eins. Ich habe die Macht, die Geschichte zu verändern, den Kreislauf der Armut in meiner Familie zu durchbrechen. Ich musste [für meine Initiation] zum Wasser auf dem Berg gehen … genau das hat Samson durchgemacht.» Zur anhaltenden Debatte in der südafrikanischen Kunstszene über das Zeigen verborgener Rituale, das er für sich selbst als Möglichkeit betrachtet, zu erziehen und gleichzeitig zur Wurzel dessen vorzudringen, was das Heilige definiert, sagte er Folgendes: «Ist es wirklich, ist es heilig? Für mich sind es Zeit und Raum, die einen Augenblick heilig machen. Das Theaterstück hat die «Elemente», um heilig zu sein. Es ist eine Einladung. Alles, was ihr anschaut, wurde dem echten, spezifischen heiligen Ritual entnommen. Wir dramatisieren, was das Script sagt.»

Samson entfesselt seine Wut gegen seine Feinde. Ich denke noch einmal nach: Die Entscheidung, Wut auf der Bühne zu inszenieren, erinnert mich an eine andere Produktion namens LWA, die ich vor Kurzem in Frankreich gesehen habe.  Die Eröffnungsszene der Aufführung, unmittelbar nach einem Prolog, ist ein langer Monolog, inspiriert von der Gestalt des François Mackandal, eines Maroon-Sklaven, dem Anführer mehrerer Aufstände in der früheren französischen Kolonie Saint Domingue. In einer ansonsten beeindruckenden Interpretation durch den Schauspieler Jackee Toto gefiel sich die Inszenierung, wie Samson, darin, die von einem Schwarzen Mann verübte Gewalt zu unterstreichen, indem sie den Schauspieler bei der Darstellung des schauerlichen Mordes an Plantagenbesitzern, als der kriegerische Iwa-Geist Ogun in ihm wohnte, gesichtslos mit dem Rücken zum Publikum präsentierte.

Wenn ich Wiederholung sehe, stelle ich mir die Frage nach dem dahinterstehenden Begehren. Woher kommt dieses Begehren danach, sogar mittels Mythen, sogar unter dem Deckmantel, eine gerechtfertigte rasende Wut darzustellen, Schwarze Männer dabei zu zeigen, wie sie morden und nach Rache verlangen? Es fällt mir schwer, zu erkennen, wie dies unsere Vorstellungswelten ändern soll. Die Darstellung der Wut des Schwarzen Mannes ist ein archetypischer Tropus, der die tatsächliche Wirkung ignoriert, die diese Projektion von Wut bis heute auf männliche Schwarze Körper hat, und wie sie ihre Lebensmöglichkeiten beschädigt[3]. Hier scheint sich kein Weg für eine neue Zeit der Vorstellung zu öffnen.

Ich sehe mir die Aufführung an und bin außerstande, etwas anderes zu sehen als einen Zyklus. Begleitet von einer wunderschönen Bühnenmusik des Komponisten Shane Cooper und unterstützt durch eine Ensemblearbeit großartiger Performer*innen, die gerne mehr Anlass zu loben gefunden hätte, in einem Projekt, das  von Anfang an in Schieflage erscheint.

Eröffnung bedeutete für mich heute Abend anstatt einer Feier und einer Begrüßung des Neuen das erneute Öffnen  einer Art Wunde, von etwas bereits Gesehenem, von etwas, das, wie ich hoffe, in den kommenden Tagen des Festivals wieder verheilen wird, damit die Worte von Yvonne Adhiambi Owuor recht behalten.

 

[1]  Ich beziehe mich hier auf die Geschichte der Performance Exhibit B. Ein hervorragender Artikel darüber, wie antirassistische Kritik unrechtmäßigerweise abgetan wurde:  Exhibiting Racism. Exhibit B and the oppositional public, Maxime Cervulle, Études de communication, 48|2017, 37-54.
[2]   «Seeing beyond the beauty of a Vermeer», Teju Cole, New York Times Magazine, 25th May 2023.
[3]   «COVID-19: Violent Policing of Black Men During Lockdown Regulations in South Africa», Malose Langa and Bandile Bertrand Leopeng,Social and Health Sciences, Volume 18, Issue 2, Dec 2020, University of South Africa.

 

Aus dem Englischen von Frank Weigand

Marie Yan ((c) Yan Ho)

Marie Yan ist eine mehrsprachige Autorin und Dramaturgin. Sie schreibt auf Französisch und Englisch, spricht Deutsch, lernt Kantonesisch. Die Welten, die sie entwirft, stützen sich auf dokumentarisches Material und spekulative Fiktion. Sie hat über Grenzen (Ich muss rüber, Stückauftrag des Theaters Eskişehir, 2019), Verschwörungstheorien (La Théorie, Festival Impatience, Paris, 2021), die drohende Klima-Katastrophe und das Anwachsen des Autoritarismus (A Tidal Home, Hong-Kong, 2021) geschrieben. Ihr laufendes Projekt Minotaurus oder das Kind im Labyrinth, nach Dürrenmatt, beschäftigt sich in Zusammenarbeit mit Theatergruppe Lou Pantail mit der Inhaftierung von Minderjährigen in Frankreich. Für ihr erstes Stück The Fog erhielt sie den Mary Leishman Preis. Ihr demnächst erscheinender Essay Hong Kong: Struggling home wurde mit einem Grenzgänger-Stipendium ausgezeichnet. Sie arbeitet zwischen Frankreich und Deutschland.

Der vorliegende Text entstand im Rahmen des Diskursprogramms «Gewalt und Widerstand» des africologneFESTIVAL 2023. Gefördert durch den Deutschen Übersetzerfonds im Rahmen des Programms Neustart Kultur der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und die Kunststiftung NRW.

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