André Hansen über seine erste Theaterübersetzung: Marine Bachelot Nguyens «Schatten und Lippen» Zwiespältige Sichtbarkeit
In Marine Bachelot Nguyens Stück «Schatten und Lippen» («Les ombres et les lèvres») führt eine Erzählerin durch die Szenen. Die gebürtige Französin plant eine Recherchereise nach Vietnam, um dort die queere Community kennenzulernen. Kurz vor ihrem Aufbruch verstirbt die Großmutter, die wegen der kommunistischen Revolution nach Frankreich geflohen war. Ihre Asche reist mit der Enkelin zurück in die frühere Heimat. Im Stück überlagern und verdichten sich journalistische und poetische, persönliche und politische Elemente.
Die Erzählerin verbindet die Erlebnisse in Vietnam mit Erinnerungen an Frankreich. So entsteht etwa eine Parallele zwischen der Pride-Parade in Saigon, die den Straßenverkehr nicht stören darf und sich deshalb auf den Gehweg beschränkt, und der französischen «Manif pour tous», dem konservativen Protest gegen die Eheöffnung für alle Paare.
Eine Kernbotschaft lautet: Queerfeindlichkeit, wie sie heute in Vietnam auftritt, wurde aus dem Westen importiert. In traumartigen historischen Rückblenden zeigt sich die Vielfalt vietnamesischer Geschlechterrollen, Geschlechtszuweisungen und Ausdrucksformen von Begehren. Die intrakulturelle Auseinandersetzung mit Geschlechtlichkeit wurde durch koloniale Gewalt gestört. Die Kontinuitäten des Kolonialismus zeigen sich aber auch an unerwarteter Stelle: Westliche NGOs, die sich für queere Menschen einsetzen wollen, prägen Standards für Queerness und stehen im Widerspruch zum ursprünglich antibürgerlichen Impuls alles Queeren.¹
Das Spiel mit Sichtbarkeiten ist eine zentrale Strategie in diesem Stück. Die porträtierten Personen kommen selbst zu Wort und berichten von ihren Erfahrungen, Wünschen, Sorgen. Die Erzählerin gibt zwar aufgrund ihrer Perspektive einen Rahmen vor, lässt die Beobachteten aber zu Wort kommen.
Im Kontrast dazu steht ein objektifizierender wissenschaftlicher Blick. Während die Kolonisatoren das Sexualverhalten der Einheimischen pathologisieren oder darin eine rassistisch begründete Minderwertigkeit sehen, entsteht zwar Sichtbarkeit, aber nur zum Zweck der Therapie oder Konversion. Auf der einen Seite kann Sichtbarkeit Emanzipation und Anerkennung bedeuten, auf der anderen dient sie der Disziplinierung und Überwachung des «Perversen».²
«Schatten und Lippen» ist meine erste Arbeit im Theaterbereich. Die traditionellen Maßstäbe für Theaterübersetzungen sind laut Charlotte Bomy und Lisa Wegener, die den Band «Surf durch undefiniertes Gelände» und damit auch diese Übersetzung herausgegeben haben, die Spielbarkeit, der Sprachgestus und die Wirkungsäquivalenz. Diese müssten aber um das Kriterium der «Sprachpolitik» erweitert werden.³
Besonders schwer kann ich das Konzept der Wirkungsäquivalenz fassen, denn die Wirkung des Originals lässt sich wohl kaum objektiv einschätzen, und auch die Wirkung des Zieltextes ist nicht messbar. Schließlich haben Menschen ganz unterschiedliche kulturelle und subkulturelle Prägungen, auch wenn sie eine Sprache sprechen.
Vor jeder Übersetzung gebe ich mir deshalb einen meist unausgesprochenen Übersetzungsauftrag, der auf vier Faktoren beruht: der mutmaßlichen Intention der Autor*in, dem anzusprechenden Publikum, den Vorgaben der Auftraggeber*in und meinem persönlichen Stil. Je nach Projekt verschiebt sich die Gewichtung dieser Stimmen. Mit dem Original muss die Übersetzung zwar kompatibel sein, aber der Zielkontext entscheidet zwingend über die Übersetzungsstrategie.⁴
Dass Übersetzen demnach deutlich mehr ist als das bloße Wiedergeben einer im Ausgangstext verborgenen Intention, lässt sich im weitesten Sinne «sprachpolitisch» nutzen. Wenn Queering das Destabilisieren fester Identitätsvorstellungen bedeutet,⁵ wenn queere Sprache ein trojanisches Pferd ist, das die heteronormative Sprache unterwandert,⁶ dann müsste der politische Auftrag des queeren Übersetzens darin bestehen, die im Zielpublikum vermuteten Sprach- und Denkmuster aufzutrennen.
Was habe ich konkret gemacht? Begriffe wie «transphobie» oder «misogynie» habe ich mit «Transfeindlichkeit» und «Frauenfeindlichkeit» übersetzt, um das Phänomen des Hasses nicht auf die psychische Sphäre des hassenden Individuums zu beschränken, sondern seine soziale Manifestation sichtbar zu machen.
Im Bericht eines trans Manns heißt es:
Et puis un jour, je vais à la banque, et une guichetière me dit : «Bonjour Monsieur.» «Bonjour Monsieur» ! Là je me suis senti… merveilleusement bien.⁷
[…] und eines Tages gehe ich zur Bank und eine Frau am Schalter sagt: «Guten Tag, der Herr.» «Guten Tag, der Herr», da habe ich mich … herrlich gefühlt.»⁸
Im Französischen gibt es keinen semantischen Anklang zwischen «merveilleusement» und «Monsieur». Das von mir eingefügte Wortspiel mit dem Adjektiv «herrlich» kann als Aneignung und Destabilisierung dieses potenziell patriarchalischen Ausdrucks verstanden werden.
Eine andere Stelle führt besonders eindringlich zum Thema der Sichtbarkeit zurück. Die personifizierte «Stimme der Partei» spricht auf Französisch von «femmes prostituées». Die Betonung, dass es sich um «prostituierte Frauen» handelt, nicht nur um «Prostituierte», wie es in einer glättenden Fassung der Fall wäre, ist vor dem Hintergrund der AIDS-Epidemie entscheidend. Die Partei warnt ausdrücklich vor Geschlechtsverkehr mit weiblichen Prostituierten. Männer, die Sex mit Männern haben, sind daraufhin der Ansicht, dass sie sich nicht anstecken können. Sie werden von der Partei ausgeblendet und nicht einmal gesundheitspolitisch erfasst.
Sichtbarkeit ist zwiespältig. Wer unsichtbar ist, unterliegt womöglich weniger Vorschriften, erhält aber auch keinen Schutz. Die Forderung nach mehr Sichtbarkeit für «queere Körper und queere Biografien»⁹ steht also unter dem Vorbehalt, dass Sichtbarkeit allein nicht reicht, sondern der Blick die Gesehenen auch respektiert, mit allen ihren Fehlern, in allen ihren menschlichen Facetten.
¹Vgl. Moe Meyer (2004). Reclaiming the Discourse of Camp. In: Harry M. Benshoff & Sean Griffin (Hrsg.). Queer Cinema: The Film Reader. London: Routledge, S. 137–150, hier: S. 138.
²Vgl. Andrea Brighenti (2010). Visibility in Social Theory and Social Research. Basingstoke/Hampshire/New York: Palgrave Macmillan, S. 148.
³Vgl. Charlotte Bomy & Lisa Wegener (2022). Queer in Translation. In: dies. (Hrsg.). Surf durch undefiniertes Gelände. Internationale queere Dramatik. Berlin: Neofelis, S. 7–29, hier: S. 10.
⁴Vgl. Christiane Nord (2018). Translating as a Purposeful Activity. Functionalist Approaches Explained (2. Auflage). New York: Routledge, S. 85–86.
⁵Vgl. Brian James Baer & Klaus Kaindl (2018). Introduction: Queer(ing) Translation. In: dies. (Hrsg.). Queering Translation, Translating the Queer. Theory, Practice, Activism. New York: Routledge, S. 1–10, hier: S. 3.
⁶Vgl. Keith Harvey (2000). Translating Camp talk: Gay identities and cultural transfer. In: Lawrence Venuti (Hrsg.).The Translation Studies Reader. London: Routledge, S. 446–467, hier: S. 456.
⁷Marine Bachelot Nguyen (2017). Les ombres et les lèvres. Paris: Lansman, S. 37–38.
⁸ Marine Bachelot Nguyen (2022). Schatten und Lippen (übersetzt von André Hansen). In: Charlotte Bomy & Lisa Wegener (Hrsg.). Surf durch undefiniertes Gelände. Internationale queere Dramatik. Berlin: Neofelis, S. 30–79, hier: S. 58.
⁹Bomy & Wegener (2022), S. 9.
André Hansen, Jahrgang 1985, studierte Romanistik und Komparatistik in Mainz, Dijon und Bologna. Er übersetzt hauptsächlich Belletristik und Sachbücher, etwa von Nicolas Mathieu, Mahir Guven, Charlotte Casiraghi und Thomas Piketty. 2020 wurde er mit dem Förderpreis des Straelener Übersetzerpreises der Kunststiftung NRW ausgezeichnet. «Schatten und Lippen» ist seine erste Theaterübersetzung.
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