Antoine Palévody über Diskrepanzen zwischen Handwerk und Reflexion sowie seine Schwierigkeiten mit dem «Übersetzerimage» Von der Theorie zur Praxis (und umgekehrt)

Ich bin immer etwas verlegen, wenn man mich als Übersetzer bezeichnet. Bisher habe ich mehr Zeit damit verbracht, «Student» zu sein, als «Übersetzer». Was berechtigt mich zu diesem Titel? Die Tatsache, dass ich ein, zwei Stücke übersetzt habe?

Meine übersetzerische Haltung hat sich sehr stark ausgehend vom Umgang mit Theorie entwickelt. Als ich kurz vor dem Abitur mit dem Übersetzen von Theaterstücken beginnen wollte, las ich sofort zahlreiche Texte zum Thema Theaterübersetzung (von Jean-Michel Déprats, Jean-Louis Besson, Antoine Vitez…). Später, während meines Masterstudiums in Theaterwissenschaft, untersuchte ich den Stellenwert theaterübersetzerischer Diskurse. All dies unabhängig von meiner persönlichen Praxis. Mein Studium hat mir beigebracht, wie man über das Übersetzen spricht. Mittlerweile ist mir durchaus bewusst, dass, zu lernen, wie man übersetzt, eine ganz andere Angelegenheit ist.

Man muss dazu sagen, dass meine theoretischen Überlegungen relativ weit von meiner persönlichen Erfahrung als Übersetzer entfernt waren. Für meine Masterarbeit unterstellte ich der Theaterübersetzung ein enormes ästhetisches und politisches Potenzial, das auf der Idee beruhte, dass eine Übersetzung sich auf der Bühne ganz bewusst als Übersetzung zeigen und ihre Fremdheit behaupten sollte, um «die morschen Schranken der eigenen Sprache» (Walter Benjamin, « Die Aufgabe des Übersetzers ») zu durchbrechen. Ich träumte davon, auf der Bühne die Lücken und Abweichungen hervortreten zu sehen, die zwischen einem Original und seiner Übersetzung bestehen bleiben, und live der Zerstörung eines Textes durch seine Übersetzung beizuwohnen (ein Prozess, den beispielsweise die Literaturwissenschaftlerin Tiphaine Samoyault in ihrem Essay « Traduction et violence » [Übersetzung und Gewalt] beschreibt).

Parallel dazu habe ich – abgesehen von den Arbeiten, die ich für mich behalten habe – zwei Texte von Jens Raschke übersetzt. « Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute » ist meine erste vollständige Übersetzung (begleitet und ermutigt von Laurent Muhleisen), und ich muss zugeben, dass ich vor allem damit beschäftigt war, das so gut wie möglich hinzukriegen. Mich auf die unterschiedlichen Stimmen der Figuren einzustellen. Der berühmte «Rhythmus», über den ich so viel gelesen hatte, wurde zu einem konkreten Problem, zu einer Bastelarbeit: Wie gibt man den Schwung eines «jetzt» wieder, das der Erzählung ihren Rhythmus verleiht? Wie geht man mit der Schwerfälligkeit der Adverbien im Französischen um? Es waren weitaus weniger ethische und politische Herausforderungen, die mich beschäftigten, als vielmehr das bloße Herstellen von Sätzen, das Zurechtstutzen von Repliken, das Ausprobieren von Kombinationen. Die Übersetzungsarbeit zwang mich, eine weitaus bescheidenere, stärker handwerkliche Haltung einzunehmen. Ich fand mich in einer widersprüchlichen Position wieder: Während ich mich an der Universität über gewagte, sperrige Übersetzungen freute, denen der kommunikative Aspekt vollkommen gleichgültig war, versuchte ich in einem anderen Winkel meines Computers schlicht und einfach, einem Text eine Form zu verleihen.

Heute glaube ich, dass das Schreiben über das Übersetzen immer mehr oder weniger ein Versuch ist, eine Tätigkeit als spektakulär zu präsentieren, die es nicht ist: Übersetzen ist langsam, mühselig, unbefriedigend und manchmal enttäuschend – eine Feststellung, die man nur selten mit derart brutaler Offenheit ausgedrückt liest oder hört. Manche Texte erwecken den Eindruck, Übersetzerinnen und Übersetzer würden niemals Wörterbücher benutzen. Die Unmöglichkeit, die Widersprüche und unversöhnlichen Kräfte, die die Theorie oft ins Feld führt, erlebt man in der Wirklichkeit in der Banalität und in der Frustration des Scheiterns. Manche intuitiven Entscheidungen, manche Tricks entziehen sich den theoretischen Imperativen oder dürfen schlicht und einfach nicht eingestanden werden.  Umgekehrt glaube ich, dass man wunderbar in der Lage sein kann, die Rhetorik der Übersetzungsdiskurse zu beherrschen, mit den Gegensätzen zwischen Bedeutung und Form zu spielen, über den Rhythmus, den Atem und den gestischen Aspekt der Sprache zu sprechen, ohne jemals mit tatsächlicher übersetzerischer Arbeit konfrontiert worden zu sein.

Trotz allem bin ich immer noch davon überzeugt, dass eine gewisse Respektlosigkeit der Theorie gegenüber der Praxis notwendig ist, da sie es erlaubt, philosophische, ethische und politische Fragen aufzuwerfen. Es gibt Texte, die weniger wegen ihrer Treue zur Erfahrung wichtig sind als vielmehr, weil sie den Wunsch zu übersetzen schärfen und diesem Wunsch bestimmte Ansprüche verleihen. Es geht daher selbstverständlich nicht darum, die Theorie zu disqualifizieren (zumal diese natürlich keineswegs die homogene Einheit ist, als die ich sie hier beschreibe). Übersetzen und das Nachdenken darüber sind zwei verschiedene, mehr oder weniger voneinander getrennte Tätigkeiten, die jeweils ihre eigenen Herausforderungen mit sich bringen. In meinem persönlichen Fall habe ich den Eindruck, dass sich das schwierige Nebeneinander dieser beiden Ansätze als produktiv erwiesen hat, da mich der eine aus der Ferne zur Ordnung rief, wenn ich mich dem anderen widmete. Einerseits konfrontierte ich meine intuitiven Lösungsversuche mit meinen theoretischen Vorannahmen, wobei letztere mich manchmal zu gewagteren Entscheidungen ermutigten; andererseits mahnte mich die Erinnerung an die Praxis, bestimmte Schreibimpulse zu mäßigen.

Raschkes Texte haben mir beigebracht, mit dieser Diskrepanz umzugehen. Zum Beispiel, ganz konkret zu erkennen, wie Rhythmus Bedeutung hervorbringt. Dieser Gedanke ist in der Theorie relativ einfach zu handhaben und führt (wie im Falle des Sprachtheoretikers, Lyrikers und Übersetzers Henri Meschonnic) schnell zu starken ethischen und politischen Implikationen. Doch habe ich ihn erst später wirklich empirisch erfasst, als ich an einer Stelle in Raschkes « Schlafen Fische? » hängen blieb («Er schaute nur ganz starr auf die Straße. Ganz starr.») und merkte, dass die Lösung darin lag, dass die Wiederholung den gesamten Subtext der Beziehung der Figur zu ihrem Vater enthielt. (Schließlich fand ich: «Il ne fixait que la route. Rien que la route.» – « Er starrte nur auf die Straße. Auf nichts als die Straße. »)

Ich befinde mich noch immer ganz am Anfang meiner Tätigkeit und versuche, mir eine Legitimität aufzubauen und zu der Verantwortung zu stehen, Übersetzer zu sein. Ich kenne meine Schwächen. Wenn ich die Texte höre, die ich übersetzt habe, erinnere ich mich an mein Zögern bei ungelösten Stellen – und daran, dass eben eine Lösung gefunden werden musste. Strategisch betrachtet habe ich jedoch das Gefühl, dass es manchmal besser ist, sich zu verstellen und ein wenig mit dem Bild zu verschmelzen, das man im Allgmeinen von Übersetzer:innen hat. Denn es ist einfach, eine Übersetzung zu diskreditieren. In solchen Fällen kann die Theorie eine gewisse Hilfestellung bieten :  zum Beispiel, indem sie Argumente gegen « den Gedanken, dass ein guter Text für die Bühne ein Text wäre, der auf den « Mund des Schauspielers zugeschnitten » ist, ein Text « der fließt » »¹ liefert, gegen den Vorwand der Spielbarkeit, der auf einer Verwechslung zwischen Rhythmus als Effizienz und Rhythmus als tatsächlichem künstlerischen Mittel beruht und dazu verleitet, die Unebenheiten des Originals glattzubügeln. Eine weitere Ambivalenz der Position des Übersetzers, die vielleicht nicht nur auf Unerfahrenheit zurückzuführen ist, ist die Diskrepanz zwischen der ständig erlebten Unsicherheit in der Einsamkeit und der Notwendigkeit, die eigenen Entscheidungen nach außen hin zu verteidigen. Auch hier scheint es, als sei es ratsam, die Werkstattrealität ein wenig zu verbergen oder sich eigens ein Bild für die Öffentlichkeit zuzulegen.

Meiner Meinung nach ist es gerade die Banalität seiner Schwierigkeit, die das Übersetzen ebenso spannend wie frustrierend macht. Nichts versteht sich von selbst. Bei jedem neuen Text stelle ich aufs Neue fest, dass die am schwierigsten zu übersetzenden Sätze oft diejenigen sind, die mir beim Lesen so eindeutig erschienen, dass sie mir gar nicht auffielen. Ich fange nicht an zu übersetzen, weil ich mich dafür kompetent fühle. Erst am Ende des Prozesses, nach vielen Durchläufen, bei denen ich mich selbst korrigiere und korrigieren lasse, stelle ich fest, dass ich es geworden bin. Übersetzen ist ein Recht, das man sich anmaßt. Und anschließend arbeitet man daran, dem eigenen Anspruch gerecht zu werden.

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

¹ Besson Jean-Louis, « Pour une poétique de la traduction théâtrale », Critique, vol. 699-700, n° 8, 2005, p. 710-711.

 

Der Theaterwissenschaftler und Theaterübersetzer Antoine Palévody (Foto: Elise Martin)

Antoine Palévody wurde 1999 in Toulouse geboren. Er studierte Literatur- und Theaterwissenschaft in einer classe préparatoire und anschließend an der ENS de Lyon, wo er derzeit im Bereich Theaterwissenschaft forscht. Er begann 2017 mit dem Übersetzen von Theaterstücken, nachdem er an dem deutsch-französischen Theaterübersetzungsworkshop Transfert Théâtral teilgenommen hatte. Er hat unter anderem Stücke von Jens Raschke übersetzt.

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