Der Dramatiker Akın Emanuel Şipal im Gespräch mit Catherine Mazellier-Lajarrige Die Sprachräume lüften

Catherine Mazellier-Lajarrige: Ihr Stück Mutter Vater Land wurde vom deutschsprachigen Eurodram-Komitee ausgewählt, das ja die Übersetzung der Auswahl in andere Sprachen fördert. Welchen Stellenwert hat für Sie die Übersetzungsarbeit, die auch Ihre eigene Familiengeschichte prägt?

Akın Şipal: Das Übersetzen hat einen hohen Stellenwert für mich. Mein Großvater war Übersetzer, er hat einen Großteil seines Lebens der Übertragung deutscher Literatur ins Türkische gewidmet. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass mein Großvater einer «wichtigen» Tätigkeit nachgeht, sein Schreibtisch, seine Bibliothek, sein asketischer Alltag, der auf konzentriertes Arbeiten ausgelegt war. Das alles hat starke Eindrücke bei mir hinterlassen und hing für mich immer mit dieser beinahe heiligen Tätigkeit des Übersetzens zusammen. Das hat mit Sicherheit auch damit zu tun, dass die Türkei ein stark an Europa orientiertes, man könnte auch sagen eurozentristisches Literaturland ist. In türkischen Buchhandlungen findet man neben türkischsprachiger Literatur vor allem Übersetzungen englischer, französischer, russischer, spanischer und deutscher Literatur. Dementsprechend groß ist die Anerkennung, die Übersetzer:innen entgegengebracht wird, die aus diesen genannten Sprachen ins Türkische übersetzen. Womit ich nicht sagen will, die Lebens- oder Arbeitsbedingungen türkischer Übersetzer:innen seien optimal. Die wenigsten können davon leben, für die meisten Übersetzer:innen ist es ein Luxus, den man sich leisten können muss. Vor allem aber verblendet das Übersetzen Horizonte, es ist eine ungeheuer positive Arbeit, so empfinde ich das zumindest als Nicht-Übersetzer. Das Übersetzen ermöglicht entferntere Bezüge, es lüftet sozusagen Sprachräume. Für die Literaturgeschichte der Türkei bzw. des osmanischen Reiches zum Beispiel spielt das Übersetzen eine wichtige Rolle, da es sich um eine polyglotte Gesellschaft handelte. Mein Respekt vor dem Übersetzen ist jedenfalls so groß, dass ich mir eher zutraue zu schreiben, als zu übersetzen.

Das Thema der Generationen und der Weitergabe eines immateriellen Erbes von einer Generation zur nächsten spielt in «Mutter Vater Land», das eine Familiengeschichte über vier Generationen aufrollt, eine große Rolle. Ist das Generationenthema für Sie ein wichtiges Thema?

Ja, absolut. Es gibt Erzählungen oder Erfahrungen, die so starke Fliehkräfte haben, dass sie uns unweigerlich beeinflussen und die Familie ist vielleicht das kleinste System, in dem solche Kräfte sichtbar werden. Es ist eben nicht nur wichtig, was man tut, es ist auch wichtig, was sich transportiert, der Transport von Verhaltensmustern oder Ängsten zum Beispiel ist teilweise unabhängig von dem, was wir tun. Eine Person, die Gewalt erfahren hat, muss nicht selber gewalttätig werden, um Gewalterfahrungen zu vererben. Diese Person kann sogar besonders achtsam sein, gewaltfrei kommunizieren und nur das Beste für alle wollen und trotzdem dieses Thema transportieren. Das interessiert mich: Das, was man nicht gestalten kann, was man nicht durchblicken kann. Die Unreinheit und die Unklarheit faszinieren mich, es transportiert sich ja nicht nur ein Thema, sondern ein Zusammenhang von Themen, und wenn wir uns für sie interessieren, bedeutet das ja nicht, dass wir sie verstehen, und vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen, sondern nur zu spüren, zu beobachten und zu interpretieren. Ich spüre jedenfalls diese Wucht von Themen oder Erzählungen in Familien; wir legen vielleicht eine Schicht Individualismus und die Erzählung persönlicher Selbstverwirklichung darüber, aber wie oft verwirklichen wir letztlich Themen, die wir uns nicht ausgesucht haben? Vielleicht ist das aber auch nur Autosuggestion. Dann ist vielleicht Autosuggestion mein Familienthema.

Wurden Sie in Ihrem künstlerischen Werdegang von bestimmten Leitfiguren beeinflusst, und wie ist diese Vermittlung erfolgt?

Ja. Mit elf oder zwölf Jahren habe ich in der Stadtbibliothek Ken Burns Dokumentation über den amerikanischen Bürgerkrieg und Fritz Langs «Die Nibelungen» auf Videokassette ausgeliehen und rauf und runtergeschaut. Ich weiß nicht, was genau es war, was mich daran so fasziniert hat, aber ich habe beides als unglaublich unterhaltsam empfunden. Das Historische hat diese beruhigende, aber stimulierende Qualität: Es ist längst geschehen, erzählerisch, dann auch noch ästhetisiert, schwarz-weiß, es ist durch und durch vermittelt, auf Videokassette sowieso (das Rauschen, die Bildfehler). Kurzum: Das sind prägende Seherfahrungen, die ich gemacht habe, an die ich mich bewusst erinnere und die einfach mit meinem Interesse für Geschichte korrespondieren. Den Bibliotheksausweis hat mir mein Vater gemacht. Er ist ein großer Freund von Bibliotheken und liebt Fernleihen. Ansonsten sind da natürlich etliche Leitfiguren: Harold Brodkey, sein Stil, seine Themen, Lucia Berlin, ihre Leichtigkeit und Tiefe, Tomris Uyar, ihre Dichte, Céline, die Kraft der «Reise» und auch «Tod auf Kredit», Oğuz Atays Einfallsreichtum, George Perec, dieses Katzenhaft-Mathematische seines Schreibens, die Kraft der Stücke von Sivan Ben Yishai … das ist jetzt einfach aus dem Stegreif gesagt, die Adjektive könnte man vermutlich alle untereinander tauschen, jedenfalls sind es Autor*innen, die mich nachhaltig beeindrucken. Ich könnte jetzt hier noch eine lange Liste anfertigen. Vielleicht zum Abschluss noch zwei: Pasolini und Brasch, beides Autoren und Filmemacher, auf beide komme ich immer wieder zurück. Pasolinis Werk ist einfach unerschöpflich, für mich ist das eine Grubenlampe; wenn ich nicht weiß wohin, orientiere ich mich daran. Brasch, abgesehen von der Kraft seiner Gedichte, seiner subversiven Energie, scheint unter Erwartungen und Projektionen gelitten zu haben. Unter Erwartungen und Projektionen leiden, da erkenne ich mich auf jeden Fall wieder.

Ihr Stück rehabilitiert ein vergessenes Werk, das Ihres Großvaters. Was könnte erklären, dass die türkische Kultur immer noch partiell rezipiert wird? Hängt es mit einem klischeehaften Fremdbild oder einer eurozentrischen Perspektive zusammen?

Hierfür gibt es viele mögliche Erklärungen. In Deutschland zirkuliert in der Breite kein tieferes Wissen über die Türkei und ihre Geschichte. Es ist wie im Schwarzen Meer, 150 Meter unter der Wasseroberfläche gibt es kein Leben mehr. Die Türkei selbst leidet unter den Nachwehen ihres eigenen Eurozentrismus, unter ihrem eigenen Modernismus, der mit Sicherheit auch ein europäisches Erbe ist. Das osmanische Reich war nicht das Paradies auf Erden, aber Nationalismus ist nun wirklich keine osmanische Erfindung, es gibt aber eine türkische Interpretation dieses europäischen Themas. Die Türkei hat sozusagen an der europäischen Geschichte mitgeschrieben. Ich finde, es hilft ohnehin, die Türkei als ein auch europäisches Land zu begreifen. Wenn man aber das eigene kulturelle Erbe so unterdrückt und geringschätzt, wie das die türkische Republik mit der Kultur der Osmanen über viele Jahrzehnte getan hat, dann kommt dieses Erbe zumindest teilweise entstellt, sozusagen als zähnefletschender Bumerang zurück, wie man jetzt an geschichtsklitternden Osmanen-Telenovelas sehen kann. Das Interesse an der Türkei in Deutschland hält sich jedenfalls in Grenzen und natürlich sind da die ganzen historischen Zerrbilder, die sich tief eingeschrieben haben und ihr Übriges tun. Dazu kommt noch, dass Übersetzungen aus dem Türkischen ins Deutsche nicht selten etwas fad und holprig klingen, obwohl Übersetzer:innen nicht selten hervorragende Arbeit leisten. Gibt es hier also so eine Art einseitiger Inkompatibilität? Denn die Übersetzungen aus dem Deutschen ins Türkische lese ich als weniger problematisch. Ich versuche dazu mehr zu erfahren, aber das ist gar nicht so einfach. Gibt es ein grundsätzliches Problem der Übertragung von Literatur agglutinierender Sprachen in indogermanische Sprachen? Ich lese oft türkische Texte im Original als verdichtet, kompakt, musikalisch, im Deutschen werden sie dann breit, umständlich, arhythmisch und manchmal seltsam blumig. Ich hoffe einfach, dass ich mit diesem Eindruck falsch liege.

Wie kann Sprache an solchen Fremdbildern rütteln oder sie unterminieren?

Sprache verrät etwas über Schichtzugehörigkeit, Milieu, sie ist Teil unseres Selbstverständnisses: Beiläufig vermitteln wir Zugehörigkeit oder Unzugehörigkeit. Das ist irgendwie doof, es nervt, wenn meine Sprache mich verrät (wenn ich zum Beispiel einen deutschen Akzent habe, aber als Ureinwohner Istanbuls durchgehen möchte), genauso gut kann ich die Sprache verwenden um mich aufzuwerten, eine Zugehörigkeit herzustellen, wo keine ist. Ich könnte meinen deutschen Akzent zum Beispiel übertreiben und umgestalten, einen höheren, nasaleren Ton anschlagen und damit den Ton der Istanbuler High Society nachahmen und hoffen, dass ich vielleicht mit der Behauptung durchkomme, ich sei der Sohn einer Istanbuler Diplomatin, in Istanbul geboren, aber in Washington aufgewachsen oder so. Habitus, Mimesis. Solche Begriffe kommen mir da in den Kopf. Aber die Projektion ist manchmal dann eben doch stärker als die Realität. Mein Deutschlehrer musste erst von meinen Eltern überzeugt werden, dass ich nicht beim Deutsch-als-Zweitsprache-Kurs teilnehmen muss. Er hatte nicht gehört, dass ich perfekt Deutsch spreche, er hat es erst hören können, als meine Eltern sagten: «Wir sind hier, um unsere Irritation zu bekunden…» Wenn meine Eltern zufälligerweise nicht perfekt Deutsch gesprochen hätten, hätte ich meinen Deutschlehrer also erstmal von der Realität überzeugen müssen, die jede unvoreingenommene Person sofort in der Lage gewesen wäre wahrzunehmen.

Das von außen aufgezwungene «Bild des Türken» sorgt selbst in der Familie für Spannungen und Widersprüche. Ermöglicht eine Dezentrierung, hier z.B. der Blick türkischer Intellektueller auf die deutsche Sprache und Kultur, ein besseres Verständnis der eigenen Geschichte?

Gute Frage. Im Stück sehen wir eine türkisch-deutsche Künstler:innen-Familie, das allein ist eine Irritation, weil — das ist zumindest eine These des Stücks — das «Bild des Türken» der Gegenbegriff zum deutschen Selbstverständnis als Dichter und Denker ist. Ob türkische Intellektuelle uns Deutschen behilflich sein könnten, uns selbst zu verstehen? Vielleicht dahingehend, dass die Kultur der Türkei und ihre Geschichte unweigerlich ein Teil von Deutschland geworden ist. Also ja. Dann ist da aber auch noch diese Desillusionierung und Müdigkeit in mir, die sagt: Nein. Man kann diese Themen bearbeiten, man kann es auch lassen. Es ist ein tragischer Gegenstand, deswegen eignet er sich fürs Theater. «Das Bild des Türken» gibt es, es ist ein tradiertes Angstbild, das noch heute nachwirkt, aber es geht hier um etwas anderes: um Verlust und den Wunsch nach Anerkennung. Wenn ich darüber nachdenke, warum ich dieses Stück geschrieben habe, komme ich immer zu unterschiedlichen Antworten. Jetzt denke ich: Ich wollte kein besseres Verständnis ermöglichen, ich musste diese Figuren von der Leine lassen. In den Figuren wirken diverse gesellschaftlichen Umbrüche, Konflikte und Erzählungen, sie transportieren sich sozusagen über die Figuren, sie lasten auf ihnen. Darum geht es vielleicht: Die Kraft dieser Erzählungen zu beweisen. Zu beweisen: Es wirken Kräfte auf uns ein, die ganze Zeit. Ganz klar. Es ist ein Stück über meine eigene Unfreiheit: Ich möchte nicht über diese Themen schreiben, aber die Figuren, die zu mir sprechen, leiden unter diesen Kräften.

Die Zeitsprünge und das assoziative Verfahren erlauben Ihnen große Freiheit in der dramatischen Strukturierung des Stückes. Nährt sich diese Schreibweise von Ihrer Filmerfahrung und hängt sie mit Ihrem Interesse für die Spannung zwischen Dokumentarischem und Fiktion zusammen?

Ich weiß nicht, inwiefern das mit meinem Interesse für die Spannung zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem zusammenhängt. Es ist vor allem, sehr gut beschrieben, eine Struktur, die große Freiheit erlaubt. Ja, vielleicht hat die Fülle an Material, die vielen Erinnerungen, Notizen, Erfindungen, die sich da in kurzer Zeit angehäuft haben, möglich gemacht, das Stück auf diese Art zu verdichten. Es ist vielleicht eine Form, die eher Brückenschläge erlaubt, zwischen Orten, Zeiten, Familien. Es gibt einerseits Sprünge, andererseits werden Parallelen sichtbar. Es ist eine Form, die sinnlich erfahrbar macht, dass viele Kräfte zeitgleich wirken und sich durchwirken und es ist eine offene Form, sie ist nicht hermetisch. So atmet das Stück, die Figuren kommen zur Geltung, sie müssen keinen Anfang, Mittelteil oder Schluss mit sich mitschleppen. Sie sind unfrei, aber in gewisser Weise frei in der Geschichte und in der Zeit.

©Akın Emanuel Şipal, Catherine Mazellier-Lajarrige (Eurodram)

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03. August 2022 auf der Website von eurodram. Redaktionelle Änderungen und Kürzungen behalten wir uns vor.

Der Dramatiker Akın Emanuel Şipal Foto: Anna Christina Schütz

Akın Emanuel Şipal, 1991 in Essen geboren, studierte Film an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Für sein erstes Theaterstück, «Vor Wien», gewann er den bundesweiten Wettbewerb »In Zukunft« 2012, für «Santa Monica» erhielt er den Förderpreis Literatur der Kulturbehörde Hamburg. Şipal ist als Drehbuchautor an diversen Kurz- und Langfilmen beteiligt, die auf Festivals wie Festival des Films du Monde de Montreal (Prix du Jury für «The Bicycle»), Shanghai International Film Festival oder Cairo International Film Festival zu sehen sind. In der Spielzeit 2016/17 war Şipal Hausautor am Nationaltheater Mannheim. Von 2017 bis 2019 war er Hausautor am Theater Bremen.

Die Übersetzerin und Dozentin Catherine Mazellier-Lajarrige Foto: Jacques Lajarrige

Dr. Catherine Mazellier-Lajarrige, Mitglied im deutschsprachigen Komitee von Eurodram, ist Germanistik-Dozentin an der Universität Toulouse-Jean Jaurès und Übersetzerin (u.a. von Gegenwartsdramatik aus dem deutschsprachigen Raum). Sie leitet die zweisprachige Theaterreihe Nouvelles Scènes beim Verlag PUM.

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