Ein Interview mit der Autorin und Übersetzerin Annina Haab „Für mich war es wichtig, so viele Wege wie möglich offen zu lassen“
Anlässlich der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung des Textes «Tu te souviens des phrases» von Marina Skalova in der Theateranthologie SCÈNE im kommenden Oktober sprach Alessa Haug mit Annina Haab über deren Debütroman, Genregrenzen und ihre übersetzerische Arbeit.
Alessa Haug: Als Autorin hast du 2021 deinen Debütroman «Bei den grossen Vögeln» veröffentlicht. Worum geht es in diesem Roman?
Annina Haab: Hm, das finde ich immer so schwierig! Also: In meinem ersten Roman geht es um die Beziehung einer Grossmutter und einer Enkelin; die Grossmutter, Ali, nähert sich immer mehr dem Tod an und die Enkelin versucht, sie festzuhalten, ihr ihre Lebensgeschichte zu entlocken, von der Ali nur wenig preisgeben möchte.
Es geht dabei auch um das Gute Leben, und um eine selbstbestimmte Biographie einer Frau aus der Arbeiterklasse. Um die Bewunderung der Enkelin und die Zuneigung, die beide füreinander empfinden. Es geht ums Loslassen, um Trauerprozesse und dabei immer auch um das Geschichtenerzählen, und was das Erzählen bedeuten kann – für eine Beziehung, für ein Leben.
Was bedeutet es heute für dich, Marina Skalovas Text «Tu te souviens des phrases» zu übersetzen?
Ich habe mich über den Auftrag gefreut. Ich kannte Marina Skalova bereits und thematisch hat mich das Stück auch interessiert, da ich seit mehreren Jahren an meinem zweiten Roman arbeite, der unter anderem verwandte Themen aufgreift. Also im weitesten Sinne das Aufwachsen im Patriarchat, in binären Systemen und als weiblich gelesene Person. Sowie die Formen sexualisierter und patriarchaler Gewalt welche dieses Aufwachsen und Frau*werden beinhaltet. So war es für mich interessant mit Marinas Text zu arbeiten, zu sehen, wo wir ähnliche Meinungen, Positionen, Diagnosen einnehmen oder haben und wo wir uns sehr unterscheiden.
Aber ich denke, wie bei jedem Text, an oder mit dem ich arbeite, interessiert mich insbesondere die Sprache, also eine kritische Auseinandersetzung mit der Sprache, die verwendet wird und was es bedeutet. Da gibt es sehr viel zu entdecken. Ich weiß nicht, ob ich jetzt diese Frage nach der Bedeutung beantwortet habe, aber in kurz, es hat für mich bedeutet, aus meiner eigenen Arbeit herauszutreten, und die Arbeit von Marina möglichst detailgetreu, möglichst offen, möglichst fetzig auch, in eine andere Sprache zu übertragen. Und das hat mir großen Spaß gemacht.
Der Text besteht aus Satzfragmenten, die von anderen gesprochen werden, und aus Sätzen, die von der Erzählerin gesprochen werden. Im Text werden auch unterschiedliche Schriftarten benutzt. Schon auf der ersten Seite des Textes steht, dass es sich um eine «Collage, (ein) dramatisches Gedicht (oder was ihr wollt)» handelt. Es ist also ein Text, der sich keinem Genre zuordnen lässt. Hast du schon einmal einen Text dieses Genres übersetzt, und was sind deiner Meinung nach die Herausforderungen und Schwierigkeiten bei der Übersetzung eines solchen Textes?
Jetzt musste ich ein bisschen schmunzeln, wegen des Genres des Non-Genres. Also ich denke, dass dies auf viele Texte zutrifft, dass sie formal oder nominell einer Gattung zugeordnet werden, aus meiner Position als Autorin denke ich, dass das immer gar nicht so zentral und relevant ist, was da als Gattung draufsteht. Oft ist das ein Label, das in erster Linie vom oder für den sogenannten Markt benötigt wird, während viele Autor*innen es kennen dürften, dass sie etwas schreiben, das sie vielleicht gar nicht zuordnen möchten, und dann sagt ihnen der Verlag, dass da das Wort Roman aber sicherlich mit aufs Cover muss, später bekommen sie dann von der Kritik oder den Lesenden zu hören, dass es sich dabei nicht um einen richtigen Roman handele und so weiter.
Es ist so ein klassisches Dilemma, bei den Texten, die den Kriterien einer Gattung genau entsprechen, müsste die Gattung nicht auf den Umschlag gestempelt werden, und sobald ein fluiderer Text da ist, oder Gattungsgepflogenheiten unterwandert werden, stimmt sie dann eigentlich immer nicht mehr so richtig. So lese ich auch ein bisschen dieses «oder was ihr wollt» als halb resigniertes Händeverwerfen und als halb humoristisches Zwinkern.
Ich selbst störe mich eher am Gattungszwang, und glaube also im Grunde, dass es beim Übersetzten keinen Unterschied macht, da ich den Text ohnehin ganz anders lesen, untersuchen und abklopfen muss, als wenn ich ihn als Leserin oder im Theater rezipiere; als Übersetzerin frage mich ja bei jedem Satz ganz viele Fragen und muss gleichzeitig das große Ganze im Blick behalten, um auf die lange Strecke auch kongruent zu bleiben.
Die Stimme der Erzählerin selbst ist nicht mit den anderen und mit sich selbst im Einklang: Sie ist eine Person, die nicht mit dem Gender übereinstimmt, das ihr bei der Geburt zugewiesen wurde, und indem sie lesbisch ist, gehört sie nicht zur Heteronormativität. Wie soll man verstehen, dass die Person, die spricht, nur die zweite Person Singular benutzt «Du» und nicht die erste Person Singular «Ich» ?
Da bin ich nicht ganz einverstanden. Der Text ist da in meiner Lesart sehr viel offener. Weder bezeichnet die Person sich als lesbisch noch als Agender oder Trans. Das frühkindliche Begehren einer mächtigen weiblichen Figur oder das Begehren, zu den Jungen zu gehören, auf das du referierst, sehe ich viel mehr als Zweifel an binären Kategorien und der intuitiven Auflehnung gegen die damit einhergehenden gewaltvollen Zuschreibungen. Später bezeichnet sich die Figur aber explizit als Frau und wie ich es lese, gibt es ebenfalls einen sehr expliziten Fokus auf heterosexuelle Handlungen. Die Auflehnung gegen Zuschreibung und Gewalt haben außerdem nicht funktioniert.
Das Du ist ja oft ein verkapptes Ich, nicht? Also ich lese hier anders als du eher ein Ich, das zu sich spricht, für mich ist das eine recht augenfällige Angelegenheit, also etwas das symptomatisch ist. Das Du erhöht die Distanz, in der Zuschreibung der Anrede vielleicht auch die Brutalität, es kann einen vorwurfsvollen Ton implizieren, aber auch einen verständnisvollen, andererseits gibt es zumindest noch eine andere Entität, mit der gesprochen werden, oder die angesprochen werden kann, und das heißt, die Figur ist zumindest nicht ganz allein. Es gibt aber eben, gerade wenn es um Gewalt geht, auch die Problematik, Ich zu sagen, sich zum « Opfer » zu machen ; das Du kann da ein Selbstschutz sein…
Ich denke es ist hier tatsächlich sehr viel Verschiedenes möglich mit diesem Du, aber das auszuhandeln würde ich dann einer*m Regisseur *in oder Gruppe überlassen. Für mich war es wichtig, so viele Wege wie möglich offen zu lassen, genauso wie der französische Text nicht alles festlegt. So habe ich es auch gehalten, das gibt die Möglichkeit zu sehr verschiedenen Inszenierungen.
Man hat den Eindruck, die Stimme der Erzählerin kaum zu hören, weil sie oft die Sätze der anderen wiederholt, aber man hört sie trotzdem, wenn sie die sexuellen und gynäkologischen Übergriffe und Vergewaltigungen, die sie erleidet, beschreibt. Es ist, als wollten die Stimmen, die mit ihr sprechen und ihr Dinge befehlen, sie unfähig zum Sprechen machen, aber man kann sie trotzdem hören. Wie kann man dieses gewalttätige und hierarchische Verhältnis zwischen den verschiedenen Stimmen ins Deutsche übersetzen?
Was das Übersetzen betrifft, ist das Übertragen dieses Verhältnisses eigentlich nicht die größte Schwierigkeit, denn so wie ich das sehe, ist die Hierarchie an sich das Gewaltvolle, viele der Sätze, die erinnert sind, sind Vertreter, Konstituens und vielleicht auch Leuchtmarker eines hierarchischen und somit gewaltvollen Systems. Das aber auf Russisch, Französisch und Deutsch im Grunde gleich funktioniert.
Hier ist mir wahrscheinlich schon meine lange vorausgegangene Auseinandersetzung mit der Rolle patriarchaler Gewalt als Stabilisator herrschender Verhältnisse zugutegekommen. Und obwohl die Stimme der Gewalt, wie ich sie nun einfachheitshalber nenne, die mächtigere Position einnimmt, denke ich nicht, dass die Hauptperson/Erzählerin weniger präsent ist, sie ist diejenige, die körperlich präsent ist, diejenige die aus Fleisch und Blut, aus Erinnerungen und Gedanken besteht und vor allem diejenige, die spricht.
Das Sprechen an sich kann hier als Ermächtigung gesehen werden, und während diese Stimme die Sprechposition auswählt und kuratiert, indem sie die Geschichte erzählt, ermächtigt sie sich. – und das in einem Raum in dem ein feministisches Sprechen weiterhin in weiten Teilen unerwünscht bleibt.
Was bleibt am Ende der Lektüre: Hört man die Stimmen der anderen mehr oder ihre Stimme?
Ich denke, unbedingt ihre, alles andere wäre schlicht unaushaltbar.
Wirst du weiterhin feministische Texte übersetzen oder schreiben? Oder hast du andere Projekte?
Aber sicher doch, ich freue mich darauf! Übersetzen und schreiben, hoffe ich, im Moment erst mal die Priorität, meinen zweiten Roman fertig zu stellen und zu publizieren, aber ich habe auch andere Projekte, klar, ich will wieder mehr mit Musik arbeiten und gleichzeitig befinde ich mich in einer Ausbildung als Trainerin für Selbstverteidigung.
Ich wünschte mir natürlich für alles mehr Zeit, also ich hätte gerne jeden Tag noch ein paar Stunden extra. Fände gut, vielleicht mal die Erdrotation ein bisschen zu entschleunigen, das gäbe längere Tage und längere Nächte…
Annina Haabs Übersetzung «Erinnerst du die Sätze» ist Teil der 24. Ausgabe der Theateranthologie «Scène – neue französischsprachige Theaterstücke», die Mitte Oktober im Verlag Theater der Zeit erscheint.
Booklaunch in Anwesenheit der Autor*innen und Übersetzer*innen am 5. Dezember 2024 am Hans-Otto-Theater, Potsdam.
Annina Haab (*1991 in Wädenswil) lebt als Autorin und Übersetzerin in Basel. Studium in literarischem Schreiben und Contemporary Arts Practice. Sie arbeitet mit Texten und Tönen. Kurztexte erschienen in Zeitschriften und Anthologien. Für ihren Roman Bei den grossen Vögeln (Berlin Verlag) wurde Annina Haab vom Deutschen Literaturfonds mit dem Kranichsteiner Literaturförderpreis ausgezeichnet.
Alessa Haug, 2002 in Colmar geboren und aufgewachsen, absolvierte dort das deutsch-französische Abitur (Abi-Bac). Sie studiert deutsch-französische Literatur- und Kulturstudien im Doppelbachelor zwischen der Sorbonne Nouvelle in Paris und der Freien Universität Berlin. Im Rahmen eines einjährigen deutsch-französischen Volontariats war sie bis Ende August 2024 als Kulturassistentin im Bureau du théâtre et de la danse/Institut français d’Allemagne tätig.
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