Ein Minidrama von Julie Tirard über die Tücken der Übersetzung des Wortes »sister« ins Französische Make your point, Schwester!

von Julie Tirard

Die Übersetzerin Julie Tirard (Foto: Chloé Desnoyers)

Die Übersetzerin sitzt auf der Terrasse eines Cafés, zwei Theatertexte ausgedruckt zu ihrer Linken, ein Schreibheft zu ihrer Rechten – zahlreiche durchgestrichene Passagen. Nacheinander treten unterschiedliche Gesprächspartner*innen auf.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Eine neue Übersetzung?

DIE ÜBERSETZERIN: Ja, Theater.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Ein feministisches Stück, nehme ich an?

DIE ÜBERSETZERIN: Du kennst mich gut.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Cool! Aus welcher Sprache? Ich sehe da zwei Texte …

DIE ÜBERSETZERIN: Aus dem Englischen. Das da ist die deutsche Übersetzung.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Wenn du etwas im Englischen nicht verstehst, übersetzt du dann aus dem Deutschen?

DIE ÜBERSETZERIN: Nein, wenn ich jetzt anfange, eine Übersetzung zu übersetzen, dann wird das ein ziemliches Meta-Ding. Und außerdem vermeidet man diese Art von Praxis mittlerweile. Aber wenn ich keine französische Entsprechung für einen Begriff oder einen Ausdruck finde, dann schaue ich nach, wie sich der deutsche Übersetzer aus der Affäre gezogen hat.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Praktisch!

DIE ÜBERSETZERIN: Na ja.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Du siehst nicht überzeugt aus.

DIE ÜBERSETZERIN: Er ist ganz nah am Englischen geblieben. Ganz extrem nah.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Die Sprachen sind einander näher. Wahrscheinlich ist das einfacher für ihn.

DIE ÜBERSETZERIN: Bestimmt. Oder vielleicht übersetzt er einfach grundsätzlich quellsprachennah-

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Quälsprachen-was?

DIE ÜBERSETZERIN: Quellsprachennahes Übersetzen ist der Versuch, eine Spur des Quelltextes, des Ausgangstextes beizubehalten. Im Gegensatz zum zielsprachlich ausgerichteten Übersetzen, das vor allem eine flüssige Lesbarkeit des Textes in der Zielsprache anstrebt.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Ein Beispiel, zum Verständnis?

DIE ÜBERSETZERIN: Come on, sister!

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Sehr witzig! Zum Lernen ist es nie zu spät.

DIE ÜBERSETZERIN: Nein, das ist mein Beispiel: »Come on, sister! Enough with this guy already!« Es fällt mir total schwer, »sister« zu übersetzen.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Was hat er im Deutschen gemacht?

DIE ÜBERSETZERIN: Er hat »Schwester« genommen. Ich persönlich hab das noch nie gehört, außer in Rap-Songs.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Unter Aktivistinnen vielleicht?

DIE MENTORIN: Hey sis! Na, fleißig am Arbeiten?

DIE ÜBERSETZERIN: Ah, großartig! Lass uns das ausprobieren! Kannst du das noch mal sagen, aber diesmal auf Französisch?

DIE MENTORIN: Ähm … Salut meuf, ça bosse dur?

DIE ÜBERSETZERIN:  Ja, für »meuf« war ich eigentlich auch.

DIE MENTORIN: Kontext, please?

DIE ÜBERSETZERIN: Als Übersetzung für »sister«.

DIE MENTORIN: Das heißt?

DIE ÜBERSETZERIN:  Ich probiere es mit »meuf«. Denn: »Gib’s auf, ma sœur, es reicht mit diesem Typen«, du siehst schon, das geht gar nicht … Die französische Entsprechung für »sister« im freundschaftlichen Kontext ist »meuf«, oder?

DIE MENTORIN: Ach.

DIE ÜBERSETZERIN: Nein?

DIE MENTORIN: Dann geht dir völlig die Dimension von Schwesterlichkeit verloren, und das wär schade! »Sœur« ist vielleicht weniger gebräuchlich, aber ich glaube, es ist trotzdem mega wichtig, das beizubehalten, vor allem in einem Text wie diesem. Sagst du nicht selbst ständig, dass wir in einer feministischen Übersetzung nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen haben?

DIE ÜBERSETZERIN: Ja, krass, du hast recht. »Sœur« muss drinnenbleiben. Ich checke das mal in meinem Umfeld. Schließlich bedeutet die Tatsache, dass ich es nicht sage, noch lange nicht, dass niemand es sagt.

Die Übersetzerin tippt auf ihrem Handy herum.

TELEFONJOKER: Hallo, sagt ihr manchmal »sœur« oder »ma sœur« zu euren Freundinnen, so wie ihr auf Englisch »sister« sagen würdet? Wenn nicht, habt ihr das schon mal in diesem Kontext gehört? Danke-Emoji. Küsschen-Emoji.

DIE ÜBERSETZERIN: Und wenn niemand es sagt, dann sagen wir es jetzt eben einfach! Bringen wir mehr Schwesterlichkeit in unsere Freundschaften! NIEDER MIT DEM KAPITALISTISCHEN HETEROPATRIARCHAT.

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Hi!

Die Übersetzerin steigt vom Tisch herab, auf den sie geklettert war, mit erhobener Faust, empowered wie noch nie.

DIE ÜBERSETZERIN: Hallo, danke, dass du dir die Zeit nimmst! Ich habe ein paar Fragen zum Text.

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Ich sehe, du hast die deutsche Übersetzung. Hilft dir das?

DIE ÜBERSETZERIN: Ja, total, sie führt mich auf Wege, die ich sonst vielleicht nicht eingeschlagen hätte, denn verstehst du, ich bin eher zielsprachig-

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Welche Art von Weg?

DIE ÜBERSETZERIN: Entschuldige, ich bin ein bisschen aufgeregt. Das liegt an dem Text, verstehst du, der macht mich ganz, wow. Na gut. Ich finde das zum Beispiel super, dass er »sister« mit »Schwester« übersetzt hat, obwohl das im Deutschen nicht so üblich ist. Aber ich nehme an, es geht um die Dimension von Schwes–

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Echt? Ich höre das ständig. Aber wir sind natürlich auch nicht gleich alt …

DIE ÜBERSETZERIN: Glaubst du, das spielt eine Rolle?

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: »Schwester« war in den 80ern ziemlich üblich. Vielleicht ist es inzwischen aus der Mode gekommen.

DIE DEUTSCHE FREUNDIN: Bei meinen Nichten auf jeden Fall. Wenn die mit ihren Freundinnen reden, kommt in jedem Satz »Digga« oder »Bruder« …

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Und »sœur« funktioniert im Französischen nicht?

FREEZE. *** Wir tauchen in die Innenwelt der Übersetzerin ein ***

TELEFONJOKER: 0% der befragten Personen (Cis weiß und BIPOC im Alter zwischen 14 und 55 Jahren) verwenden im Freundschaftskontext »sœur« oder »ma sœur«.

DIE ZIELSPRACHLICH AUSGERICHTETE ÜBERSETZERIN: Ha! Und wer hatte jetzt recht?

DIE QUELLSPRACHENNAHE ÜBERSETZERIN: Moment mal.

TELEFONJOKER: Einige berichten allerdings, dass sie diese Ausdrücke regelmäßig in französischsprachigen afrikanischen Ländern sowie in bestimmten afrikanischen und arabischsprachigen Communities hören.

DIE QUELLSPRACHENNAHE ÜBERSETZERIN: Bingo! Dann nehmen wir »sœur«!

DIE ULTRAWOKE AKTIVISTIN: ACHTUNG kulturelle Aneignung!

TELEFONJOKER: Mehrere Befragte erwähnen »ma reus« als unmittelbare Entsprechung von »sister« bei jüngeren Leuten.

DIE ULTRAWOKE AKTIVISTIN: »Gib’s auf, ma reus, es reicht mit diesem Typen«, ACHTUNG bürgerliche Aneignung!

TELEFONJOKER: Irgendjemand postet ein Meme von Louis de Funès: »Bonjour ma sœur, merci ma sœur«.

DIE ZIELSPRACHLICH AUSGERICHTETE ÜBERSETZERIN: Les Gendarmes for ever.

TELEFONJOKER: Die Stichprobenauswahl unter sechzehn gibt an, dass sie »frère« als direkte Entsprechung zu »sister« benutzt.

DIE HARDCOREFEMINISTIN: NEIN, das geht gar nicht. Veto, VETO!

*** Ende der kurzen Reise in die Innenwelt *** DE-FREEZE.

DIE ÜBERSETZERIN: Sagen wir, dass der Gebrauch von »sœur« in bestimmten Communities verbreitet ist, aber – noch – keinen Eingang in die Alltagssprache gefunden hat, wie es bei »frère« als direkter Entsprechung von »bro« der Fall ist. Wir würden eher »meuf« sagen. Aber die Stärke des Textes ist ja gerade, wie zutreffend er die Grundlagen hetero-patriarchalischer Beziehungsschemata hinterfragt. »Sœur« ist schön, es ist notwendig, es ist-

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Vorsicht … Natürlich ist eine Übersetzung immer Interpretationssache, aber du, Schwester, projizierst dich gerade selbst hinein! Vielleicht ist ihr Feminismus anders als deiner.

Die Übersetzerin lässt die Faust sinken, steigt wieder vom Tisch.

DIE ÜBERSETZERIN: Dann also erstmal »meuf«. Und ich frage die Autorin, ob sie es lieber aktivistisch oder idiomatisch haben will.

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Ich finde, das ist eine weise Entscheidung. Erinnere dich an unsere Berufsethik: Übersetzen ohne zu verletzen.

DIE ÜBERSETZERIN: Interpretieren ohne zu projizieren.

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Nicht verführen, sondern sich verführen lassen.

DIE ÜBERSETZERIN: Sich vollkommen lösen, um ganz nah dranzubleiben.

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Risiken eingehen, aber wohlüberlegte.

DIE ÜBERSETZERIN: Die Quellen für das Ziel benennen.

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Sich von der Quelle durchdringen lassen.

DIE ÜBERSETZERIN: Und dabei nüchtern bleiben.

DIE ENGLISCHSPRACHIGE KOLLEGIN: Trocken und Spaß dabei!

DIE ÜBERSETZERIN: Yes! Wait, what?

 

Aus dem Französischen von Frank Weigand

Die Übersetzerin Julie Tirard (Foto: Chloé Desnoyers)

Julie Tirard, geboren 1990, ist Autorin und Übersetzerin. Sie war Leiterin des Theaters Art en Scène in Avignon, wo auch ihr erstes Drama aufgeführt wurde, bevor sie sich 2013 als freie Journalistin in Berlin niederließ. Seit 2018 ist sie als Literaturübersetzerin von feministischen Texten aus dem Deutschen und dem Englischen tätig.

In dem Podcast «Übersetzen als Feministin» reflektiert sie über ihre Praxis.

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