Gedanken zum Übersetzen von dem Dramatiker Kristo Šagor Übersetzt. Übergesetzt.

Szene aus «Ich lieb dich» von Kristo Šagor am Landestheater Tübingen, inszeniert von Gil Hoz-Klemme (Foto: Martin Sigmund)

Als studierter Linguist und in eine Vielzahl von Sprachen übertragener Autor hat der Dramatiker und Regisseur Kristo Šagor ein ganz besonderes Verhältnis zur Übersetzung. Oft hat er am Beispiel seiner eigenen Stücke – in Mexiko, Polen, Estland oder Kanada – erlebt, wie sich etwas «Totes», Unverständliches, in etwas Lebendiges, für Menschen Begreif- und Teilbares verwandelt. Für PLATEFORME lotet er in einem kurzen Text die unterschiedlichen Formen des sprachlichen und kulturellen Transfers aus, die Verwandtschaft zwischen Theater Spielen und Theater Übersetzen, und bescheinigt der Übersetzer*innenzunft, zugleich «Retter und Kidnapper» zu sein.

 

 

von Kristo Šagor

 

Ein Text wird übersetzt. Reisende werden übergesetzt. Ein Problem wird umschifft, Handelsgüter umgeschifft. Fehler sind unterlaufen, Kinder die Treppen runtergelaufen. Die physisch-konkreten Dinge mit ‚ge‘ – die abstrakten ohne.

Wäre es hilfreich, uns vorzustellen, dass Texte eben nicht übersetzt werden, sondern übergesetzt? Von einem Kulturraum in einen anderen. Ganz physisch. Dass die Gedanken in diesen Texten übergesetzt werden, von einer Sprache in die andere? Eben von einem Ufer zum anderen.

Wer eine Reise tut, hat eine Geschichte zu erzählen, heißt es. Was, wenn es die Geschichte selbst ist, die diese Reise tut? Welches Tun hat sie getan? Sich gewandelt. Den gewandelt, der sie hört.

Aber dafür musste sie nicht erst übersetzt werden. Übergesetzt werden. Die, die zuhören, zu verändern, ist, was Geschichten idealerweise immer tun. Sind Übersetzende also Fährleute? Angestellte des Transportwesens? Und ihr Witz und ihre Einfühlung sind die Transportmittel.

Szene aus «Dreier ohne Simone» von Kristo Šagor am Vat Theatre, Tallinn, inszeniert von Leni Linna, übersetzt von Elli Herinmets (Foto: Eelmine Järgmine)

Wir verstehen nur, was anschlussfähig ist zu dem, was wir bereits wissen. Sonst wurzeln wir bedröppelt, der Ochs vorm Berg. Das Ensemble einer Inszenierung anverwandelt sich die Figuren des Theatertextes.

Ich war elektrisiert, als ich dieses Wort das erste Mal las: sich etwas anverwandeln. Der Begriff des Verwandelns anerkennt das Fremde als fremd, erkennt, dass jedes Erfassen und Ausagieren (nur) Deutung, sogar Umdeutung ist. Das Präfix «an» in «anverwandeln» gibt dem Vorgang etwas Zartes, so Vorsichtiges. «An» wie in «anfassen», vielleicht sogar nur wie in «anlehnen». Das ist keine Selbstverständlichkeit, auch Verdauung und Mord sind Verwandlungen.

Vielleicht ist Anverwandlung immer nur zeitlich befristet. (Ja, wir sind sowieso Zeitwesen, tun alles in der Zeit, tun es, indem wir Zeit verbrauchen. Oder indem die Zeit uns verbraucht. Aber) Aufführungen sind ja immer etwa Vorübergehendes, sind anders als ein Text keine Artefakte. Sich der Vergänglichkeit der Aufführungen, sogar Inszenierungen zu stellen ist Sterben Üben.

Und die Spielenden anverwandeln sich die Figuren – hier, jetzt, so. Dasselbe Mitglied des Ensembles würde sich dieselbe Figur zehn Jahre später anders zurechtlegen, vermutlich sogar schon ein paar Wochen später.

Probe zur zweisprachigen Lesung (englisch-québecfranzösisch) von Kristo Šagors Text «Patricks Trick», 2017 an der National Theatre School, Montréal, mit David Walker und Gabriel Favreau, eingerichtet vom Autor selbst (Foto: Frank Weigand)

Auch Übersetzende anverwandeln sich, was ihnen eigentlich fremd ist, – hier, jetzt, so. Finden oder erfinden Ersatz für eine nicht übersetzbare Pointe, eine nicht übersetzbare Andeutung. Und ihre Anverwandlung altert. Gut oder schlecht oder irgendwas dazwischen. Denn das hier, jetzt, so der Lektüre zehn oder gar hundert Jahre später ist ein anderes. All die Haarrisse der Realität sind schwer zu benennen und zugleich so wirkungsmächtig.

Die simple Opposition von hier und dort, von vorher und nachher, verweist immer auf den Tod. Schon einen Raum zu verlassen, ist ein kleiner Tod. Die wirkungsmächtigste Wandlung ist die von etwas Lebendem in etwas Totes. Und die von etwas Totem in etwas Lebendiges. Jeder Text, der in einer Sprache verfasst ist, die ich nicht verstehe, ist tot für mich. Nun gut, seinen Klang kann ich erleben, aber die Gedanken bleiben unerreichbar für mich – am anderen Ufer, ein reißender Strom zwischen uns. Bis der Text übersetzt wird in meine Sprache, übergesetzt wird in mein Hier, Jetzt, So, und so erreichbar wird, lebendig wird für mich.

Übersetzende sind nicht nur Angestellte des Transportwesens, sie sind Kidnapper und Rettungsteam zugleich. Und entführt und geborgen wird nicht nur der von ihnen übersetzte Text, sondern auch ich.

Der Regisseur und Dramatiker Krsto Šagor (Foto: Ilja Mess)

Kristo Šagor wurde 1976 in Stadtoldendorf geboren. Er studierte Linguistik sowie Literatur- und Theaterwissenschaft in der Freien Universität Berlin. Er schreibt und inszeniert Theaterstücke und verfasst eigene Bühnenbearbeitungen zu vorliegenden Werken, u.a. von Goethes «Werther», von Horváths «Jugend ohne Gott», «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» nach Heinrich Böll oder zuletzt «1984» nach George Orwell. Für seine Theaterstücke erhielt er zahlreiche Preise, u.a. beim Heidelberger Stückemarkt 2001 den Publikumspreis und 2019 den Jugendstückepreis, 2003 und 2005 den Autorenpreis beim Niederländisch-Deutschen Kinder- und Jugendtheaterfestival «Kaas und Kappes», 2014 den Baden- Württembergischen Jugendtheaterpreis und den Mülheimer Kinderstückepreis 2019. Für seine Regiearbeit konnte er 2008 den Deutschen Theaterpreis DER FAUST für die beste Regie im Kinder-und Jugendtheater in Empfang nehmen. Kristo Šagor lebt in Berlin.

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