Leyla-Claire Rabih Übersetzen und Inszenieren: eine gleiche Geste

Seit fast zwanzig Jahren arbeite ich in Frankreich und Deutschland, mache Theater und verbreite so zeitgenössische Texte in unterschiedliche Richtungen. Meine Arbeit ist also die einer Vermittlerin.

Nach meinem Studium in Frankreich habe ich bei Manfred Karge an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst-Busch in Berlin eine Ausbildung zur Schauspielregisseurin absolviert. Es war eine praktische Schule im Geiste von Bertolt Brecht. Im Mittelpunkt stand das Erlernen einer «Bühnengrammatik»:

Theater entsteht im Text

Theater entsteht nicht erst auf der Bühne, sondern im Text. Das Theater beginnt mit dem, was ich als Regisseurin sehe, was ich aus dem Text «herauslese», was ich aus dem Text herausnehme, und dann zusammenstelle oder ihm entgegensetze, mit dem was ich in den Text hineininterpretiere, also was ich dort sehe und in ihn projiziere.

So habe ich also «gelernt», Theater auf Deutsch zu denken. Damals waren meine Deutschkenntnisse noch begrenzt. Der Versuch, «Deutsch zu verstehen» vermischte sich mit dem Versuch, einem Bühnengeschehen zu folgen und einen szenischen Vorgang nachzuvollziehen.

Ende der 1990er-Jahre, als ich zum ersten Mal die Inszenierungen von Frank Castorf besuchte, hatte ich auf einmal drei oder vier Bedeutungsebenen vor mir, einige gespielt, andere nur gesprochen, wieder andere nur visuell. Meine damalige Sprachschwäche verschärfte meine Aufmerksamkeit und mein Zugang zur Bedeutung hing vom Spiel der Spielenden ab.  Die Klarheit der Sprache erreichte mich durch die Klarheit des Spiels.

Ich habe immer ausnahmslos an zeitgenössischen Texten gearbeitet, weil mich interessiert, wie Autor:innen, die im gleichen historischen Moment wie ich leben, die wie ich selbst von der Komplexität der Welt geprägt sind und deren Erschütterungen und Entwicklungen erleiden, über diese Welt schreiben.

Arbeit an der Schnittstelle

Wegen meiner deutsch-französischen Berufserfahrung wird mir fast immer eine Position an der Schnittstelle zugewiesen: Ich kenne das deutsche Theatersystem und die französische Theaterlandschaft, ich führe Regie auf beiden Seiten des Rheins und war dabei stets mit der unterschiedlichen Wahrnehmung des Theaters hier und dort konfrontiert.

Als sie meine erste Regiearbeit sahen, bedauerten die französischen «Fachbesucher:innen»: «Es gibt viele Ideen, das ist doch super, aber sag mal, deine Schauspieler spielen zu grob oder?», während die Deutschen fragten: «Okay, es gibt ein paar Ideen, aber warum spielen deine Schauspieler nicht?» Als ich ein Stück in Deutschland inszenierte, sagten die Deutschen: «Ah, das ist sehr französisch», als ich ein Stück in Frankreich inszenierte, sagten die Franzosen: «Na ja, das ist ziemlich deutsch».

«Handlung» vs «Text»

Nach und nach habe ich gelernt, diese unterschiedlichen Erwartungen zu verstehen. Wo das Theater in Deutschland vorwiegend «Handlung» war, war es in Frankreich vor allem «Text». Nach und nach habe ich gelernt, meinem Instinkt zu vertrauen, mich weniger auf den Rat von Experten zu verlassen, die etwas als richtig oder falsch deklarieren, als auf die Aufmerksamkeit des Publikums, das sein Interesse oder seine Langeweile in den meisten Fällen nicht verbirgt.

Inszenieren bedeutet also für mich immer auch Übersetzen. Ich muss den Schauspielenden mein Verständnis des Textes vermitteln, damit sie sich diesen aneignen und ihn auf der Bühne als Partitur wieder neu erfinden können. Inszenieren heißt für mich, einen Text weiterzugeben, ihm zu ermöglichen, «rüber» zu gehen, damit ein anderes Publikum seinen Inhalt erfassen kann und dabei Emotionen empfindet.

Es ist also selbstverständlich für mich geworden, Theatertexte zu übersetzen, ohne sie unbedingt selbst auf die Bühne zu bringen. Den Text als Übersetzerin von einem Kontext in einen anderen zu begleiten. Oftmals stellt sich als erstes die Frage nach dem Grad der Anpassung des Textes oder der Geschichte, danach, welche Zusammenhänge der Fabel für die Zuschauenden wichtig sind.

SCÈNE und gemeinsame Übersetzung

Dies ist eine der Richtlinien der Arbeit, die Frank Weigand und ich als Herausgeber:innen der Reihe «SCENE, Neue französische Theaterstücke» leisten. Diese Anthologie präsentiert seit 1999 alljährlich fünf bis acht Stücke zeitgenössischer französischsprachiger Autor:innen in deutscher Übersetzung. Bei der Auswahl der Manuskripte ergeben sich also oft vielfache Fragen: Kann ein Text trotz seines französischen Charakters vom deutschen Theatersystem übernommen werden? Oder muss er sogar übernommen werden, gerade wegen seines französischen Charakters? Welche:r Übersetzer:in schafft es, die Inhalte zeitgemäß zu übersetzen? Welches Vokabular wird gewählt?

Wir übersetzen außerdem regelmäßig gemeinsam und hier ergänzen sich unsere Unterschiede und Divergenzen am stärksten: ein Mann, eine Frau, ein Übersetzer, eine Regisseurin, ein Deutscher, eine Französin. Statt die Handlung umzusiedeln, oder die Namen der Figuren «zu verdeutschen», fokussieren wir uns auf eine Sinndeutung von Schlüsselelementen, damit sich Lesende und Zuschauende die Ursprungssituation vorstellen können. So entsteht gerade durch die Trennung eine interessante Verbindung.

Bei unserer Übersetzung von Fabrice Melquiots «Les Séparables» (Die Zertrennlichen) fragen uns Jugendliche zum Beispiel oft: «Das spielt nicht bei uns, oder?» und «Warum sprechen die denn so viel über Araber?», während sie die Probleme von Diskriminierung und Emanzipation, die im Text vorhanden sind, dennoch vollständig wahrnehmen.

Aus dem Arabischen übersetzen

Ganz anders war die Arbeit an der Übersetzung der Texte des syrischen Autors Mohammad Al Attar ins Französische zusammen mit Jumana Al-Yasiri. Die drei Texte, die wir übersetzt haben, wurden alle zu Beginn der syrischen Revolution, zwischen 2011 und 2014, in syrischem Arabisch verfasst. Sie präsentieren Figuren, die in den Ereignissen gefangen waren und ständig versuchten, mit ihnen zurecht zu kommen und über politische Fragen zu reflektieren. Die Situationen waren meist gewöhnlich und daher mit alltäglicher Sprache verbunden. Hier war die Herausforderung der Übersetzung eine ganz andere: Es war schwierig, die Selbstverständlichkeit, mit der die Figuren in ihrer Alltagssprache politische Reflexionen oder Fragen formulierten, in ein alltägliches französisches Sprachregister zu übersetzen. Teilweise war es notwendig, bestimmte Dinge im französischen Text noch einmal zu kontextualisieren, sich manchmal die Freiheit zu einer Umschreibung zu nehmen, um zu erklären, was im syrischen Kontext offensichtlich oder impliziert war: politische Zugehörigkeit, Repressionstechniken, gemeinsamer historischer Bezug, usw., ohne auf Fußnoten zurückzugreifen, die für die Bühne nicht von Nutzen sind. Diese Anpassungen wurden während der Probenarbeit zusammen mit den Schauspielenden weitergeführt, manche Sätze wurden mehrmals umformuliert, um den alltäglichen Ton der Konversation zu erhalten.

Missverständnisse und Reibungen

Übersetzen und vermitteln bedeutet zwangsläufig, sich Missverständnissen und Reibungen auszusetzen. Vor zehn Jahren habe ich Ödon von Horvaths «Kasimir und Karoline» in Frankreich adaptiert. Dieses Stück gilt dort immer noch als eine Erzählung über den Aufstieg des Nationalsozialismus, während meine Bearbeitung die Wirtschaftskrise thematisiert, die Suche nach individuellen Lösungen, kurz bevor die Not zu mächtig wird und die Betroffenen anfangen, an eine bestimmte politische Lösung zu glauben und zum Stimmzettel greifen.

Diese Deutung löste Kontroversen aus, die Bearbeitung und die Inszenierung wurden vom Fachpublikum der französischen Theaterlandschaft massiv kritisiert. Bühnenbild, Kostüme und Spielweise wurden als Karikatur betrachtet, die der persönlichen Betrachtung des Textes nicht entsprachen. Mein einziger Trost als Übersetzerin kam von den Kommentaren der deutschen Dramaturg:innen, die die Inszenierung zwar auch nicht sonderlich mochten (zu französisch!), aber den Text schätzten: Sie hörten in der französischen Bearbeitung das lakonische und lapidare Gespräch zwischen den Horvath-Figuren. Für mich war das ein echtes Kompliment und eine Bestätigung dafür, dass mein Versuch nicht vergeblich war.

Aufgrund meiner «brechtschen» Ausbildung gehören die Begriffe von Situation und Konflikt zu meiner individuellen Theaterauffassung. Besonders interessant ist für mich ein Text, wenn er zwischen dramatischer Situation und Erzähltext abwechselt. Ein heute gängiges Stilmittel in der zeitgenössischen Dramatik und Theaterarbeit, wenn zum Beispiel Figuren aus dem szenischen Dialog aussteigen und sich an das Publikum richten. Ein solches Heraustreten und Kommentieren nimmt Abstand von der Situation, bildet Momente der Selbstvergewisserung der Figuren und der Gestaltung der Welt. Es handelt sich vielleicht um den Versuch, die Welt neu zu erfinden.

In einer Zeit, in der Fiktion massiv in Bildform konsumiert wird, kann eine sprachliche Narration eine andere Wirkung erzielen. So dient das Theater nicht dem Eintauchen in die Fiktion, sondern stellt sich vielmehr dem Versuch, genau dies zu vermeiden. Der Theatertext und seine Erzählformen richten sich durch Mündlichkeit und direkte Ansprache und direkt an das Publikum und an den Körper der Spielenden. Der Theatertext lässt Sprache kollektiv hören und erleben, und seine Übersetzung ist eine Erweiterung dieses gemeinsamen Wirkens.

Unterschiede hörbar machen

Übersetzen bedeutet für mich nicht Anpassen, im Sinne von Harmonisieren, nicht das Liefern eines «ready to understand». Ich verstehe darunter ganz im Gegenteil den Versuch, Unterschiede hörbar zu machen, ohne Missverständnisse oder Grauzonen zu vermeiden. Es geht mir darum, Brücken zwischen unterschiedlichen Realitäten zu schlagen und nicht darum, auf beiden Seiten das Gleiche zu tun. Es geht mir darum, die Lücke zwischen unseren Wahrnehmungen zu messen, die sich je nach den örtlichen und zeitlichen Verfasstheiten des Körpers unterscheiden, angelehnt an Grundzüge der Feldenkrais-Methode, die eine einfachere Organisation der Bewegungen durch das Bewusstsein anstrebt. Das bedeutet, die Sprachen und die Gesellschaften, die diese trennen und verbinden, als lebendige Organismen zu betrachten.

 

Leyla-Claire Rabih studierte Theaterwissenschaft in Frankreich und Schauspielregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Seit 2002 arbeitet sie als freischaffende Regisseurin in Frankreich und Deutschland. Mit ihrer eigenen Compagnie »Grenier Neuf« in Dijon bringt sie vorwiegend zeitgenössische Dramatik auf die Bühne. Seit 2011 gibt sie zusammen mit Frank Weigand die Reihe «SCÈNE – neue französische Theaterstücke» heraus.

(Der Text erschien ursprünglich auf Französisch in: théâtre public, N°235, janvier-mars 2020)

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